Licht aus Rothberg

Geheimdienst-Knast, leere Kirchen und viel Schriftstellerei neben der Theologie: Eginald Norbert Schlattner wird 90

Schlattner im Gespräch

Blick von der Terrasse des Pfarrhauses auf die 800 Jahre alte Kirche Fotos: Werner Kremm

Von einem Pfarrer ist gleich die Rede, der jahrelang in einer leeren Kirche vor leeren Kirchenbänken predigte. Der sein Theologiestudium ursprünglich mit der Absicht begann, die Theologie ad absurdum zu führen. Der genau zwei Jahre und zwei Tage lang in einer Gefängniszelle der berüchtigten rumänischen Geheimpolizei Securitate zubrachte. Und der Jahrzehnte später, diesmal als Gefängnispfarrer, rumänienweit Häftlinge betreute – und wie nebenher auch noch den einen oder anderen Roman schrieb, der es auf Anhieb auf die deutschen und internationalen Bestsellerlisten schaffte. 

Eginald Norbert Schlattner, Pfarrer der evangelischen Kirche in Rumänien und Schriftsteller, wird heute, am 13. September 2023, 90 Jahre alt. Das hält ihn nicht davon ab, immer noch Sonntag für Sonntag in seiner kleinen Dorfkirche aus dem 13. Jahrhundert im siebenbürgischen Rothberg/Ro{ia Gottesdienste zu zelebrieren - seit geraumer Zeit übrigens wieder mit Publikum. 

Es folgen Eindrücke und Notate bei einem Besuch des „Deutschlandfunks“ beim Vollblut-Pfarrer und Ausnahme-Schriftsteller Eginald Schlattner in Rothberg.

Ein Samstagmorgen im August. Das Tor der Umfriedung, die Kirche und Pfarrhof in Rothberg umgibt, ist am frühen Morgen, als wir unseren Besuch angekündigt haben, noch zugesperrt… Gute Luft, die Vögel zwitschern…
Der Weg zum Eingang des alten Pfarrhauses führt durch viel Grün und ein wenig Gestrüpp: Hunde, ein Esel, etwas Federvieh begrüßen uns. Wir sind in Ro{ia oder, wie die Rumäniendeutschen bzw. Siebenbürger Sachsen es nennen, Rothberg im zentralrumänischen Siebenbürgen, unweit Hermannstadt/Sibiu, im Harbachtal, Valea Hârtibaciului. Hier lebt einer, der in dem einstigen rumäniendeutschen Siedlungsgebiet evangelische Kirchengeschichte – und etliche literarische Geschichten – geschrieben hat: Eginald Norbert Schlattner – Theologe, Pfarrer, Bestseller-Autor - und ehemaliger Häftling der kommunistischen rumänischen Geheimpolizei Securitate.

„Mich terrorisiert nur die Zahl 90.  Ich bin halbblind. Das Gehör ist so…, dass ich im Grunde genommen dabeisitze und nicht die ganze Zeit über jammere: Bitte redet lauter!  Ich werd‘ 90. Ich sitz dann dort, mach so, als ob ich die Ohren spitzen würde und erzähl‘ mir selbst Geschichten. Ich brauche nicht die Geschichten der anderen.“

90 Jahre – und kein bisschen auf den Mund gefallen, bis heute: Dunkles Hemd, schlohweißes Haar, am Hals das kaum erkennbare Zeichen des Pfarrers: Der Mann, der da bequem auf einem Stuhl, mit allerlei Kissen drauf, Platz genommen hat, mit Sinn für Ironie über sein Leben plaudert, ist immer noch als Gemeindepfarrer in Rothberg tätig. Und dass er sich gerne selbst Geschichten erzählt, hat nicht nur mit seinem Gehör, sondern viel eher mit der bewegten Geschichte seines Lebens zu tun.  

Rückblende: Mitte der 50er Jahre: Schlattner landet bei einem rumäniendeutschen Nachwuchs-Autorenwettbewerb auf einem respektablen vierten Platz. Doch das, was er schreibt, mag den kommunistischen Machthabern nicht so recht gefallen: Es geht um das Verhältnis der Rumäniendeutschen, speziell der Siebenbürger Sachsen, zur Demokratie. Schlattner wird verhaftet, kommt ins Gefängnis der berüchtigten rumänischen Geheimpolizei Securitate – dies im Dezember 1957.

„Sie dürfen nicht vergessen, dass ich zwei Jahre in Zellenhaft war, wo ich mich 17 Stunden mit mir selbst beschäftigen musste. Wenn du dich da nur eine Minute aus der Hand gibst, bist du geliefert. Untersuchungshaft bei der Securitate, zwei Jahre und zwei Tage. In einer Mini-Zelle.“ 

In dieser Situation, vor etwa sechseinhalb Jahrzehnten, sei die Fähigkeit, sich selbst Geschichten zu erzählen, überlebenswichtig gewesen, findet Schlattner heute. Schließlich: Die Entlassung aus der Haft der Geheimpolizei. „Dann habe ich gesagt: Nie mehr schreibst du!“

Ohnehin gilt und galt seine Leidenschaft eigentlich etwas ganz anderem: „Ich habe zwei Mal Theologie studiert, einmal 1952 nach dem Abitur.“ Gleich nach dem Gymnasium schreibt sich Schlattner im Klausenburg/Cluj-Napoca im Fach „evangelische Theologie“ ein – allerdings „…mit schlimmen Absichten. Ich wollte beweisen, dass das alles Lügengeschichten sind, Opium fürs Volk, wie Marx gesagt hat, dass die ganze Theologie und die ganze Pfarrerschaft da ist, um die Leute zu verdummen.“

Doch während des Theologiestudiums mit „schlimmen Absichten“ gerät Schlattners Weltbild gehörig durcheinander: Bibeltexte, bis zu 5000 Jahre alt, erscheinen ihm plötzlich authentischer als die damals gerade mal 100 Jahre alten Texte aus der Feder von Karl Marx: „Bei dieser Karambolage kam ich zu schaden, landete für zweieinhalb Monate in der Psychiatrie. Tag und Nacht verfolgte mich dieser Gedanke, der mich nicht mehr loslassen wollte: Gibt es Gott, gibt es ihn nicht? Das hat mich kaputtgemacht. Und dann hab‘ ich mir überlegt: Ab nun nur noch konkrete Sachen.“

Schlattner studiert daraufhin Hydrologie, wird Wasserbauingenieur. Aber: „Nach ein paar Monaten dort in der Zelle, zwei Jahre kein Sonnenstrahl mit vergittertem Oberlicht, ist mir eingefallen, dass ich ein Jahr Theologie studiert habe. Und dann war meine Überlegung die Folgende. Ich hab’ mir gesagt: Wenn Du, Gott, mich noch einmal rufen solltest, dann würde ich dieses Mal Dir folgen.“

Allerdings wird es 15 weitere Jahre dauern, Jahre, während derer er Wasserbauingenieur, auch im Banat, war, bis Schlattner tatsächlich zum zweiten Mal ein Theo-logiestudium beginnt und evangelischer Pfarrer wird – Gemeindepfarrer jahrzehntelang im siebenbürgischen Rothberg. 

Dann das rumänische Schicksalsjahr 1989: Die rumänische Revolution fegt die kommunistische Ceau{escu-Diktatur weg – und die meisten Rumäniendeutschen verlassen das Land, Richtung Deutschland, fluchtartig. „Der eiserne Vorhang war geschmolzen. Und im Jahr darauf war ich alleine hier. Zu Ostern waren sie noch alle da, mit Tanzen, Singen und Springen. Und zu Weihnachten, Heiligabend – die Kirche war zu Dreiviertel leer.“

Für den Gemeindepfarrer Schlattner ist das Wegziehen fast der gesamten Gemeinde ein Schock. Und den will er sich von der Seele schreiben. „Ich habe geschrieben, aus Verzweiflung. Den ersten Roman‚ 1998, der entstand, als ich, der Pfarrer, feststellen musste, dass ich keine Gemeinde mehr hatte.“ Schlattners erste drei Romane – „Der geköpfte Hahn“, „Rote Handschuhe“ und „Das Klavier im Nebel“ - schaffen es auf Anhieb auf die Bestsellerlisten. Mit einem Mal wird der Gemeindepfarrer von Rothberg berühmt – und nicht nur er, sondern ein Stück weit auch die evangelische Kirche in Rumänien, ja ganz Siebenbürgen erscheint in Pfarrer Schlattners literarischem Licht.

„Das ist tatsächlich geschehen, dass durch seine Bücher, die ein Welterfolg waren, die Perspektive auf unsere Kirche und das Augenlicht der Welt auf unsere Kirche gefallen ist.“ Erinnert sich Reinhart Guib, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Rumänien, zu jener Zeit noch evangelischer Stadtpfarrer in Mediasch.

Zuvor hatte die evangelische Kirche in Rumänien durch den Massenexodus der Siebenbürger Sachsen enorm an Bedeutung verloren. Und dann kommt, wie aus „heiterem Himmel“, Eginald Norbert Schlattner, der Gemeindepfarrer, der in seinem Rothberg fast alleine zurückgeblieben war – und trotzdem und bis heute an seiner Gemeinde festhält, „dass er predigt in einer Kirche, wo keine Leute sind, nur für unseren Herrgott. Ja, es ist schräg. Er ist in der Trans-zendenz und in der Immanenz zuhause. Und er macht das gut. Beispielhaft.“

„Ich war das gewöhnt, ich bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen, habe Gottesdienst gehalten, mit allem, was dazu gehört: Mit Singen, mit Segen, dann habe ich eine fulminante Predigt gehalten vor den leeren Bänken. Die leeren Bänke waren sehr zufrieden.“ …nur Pfarrer Schlattner nicht ganz so: Er wollte mehr tun, bewarb sich als erster evangelischer Geistlicher Rumäniens um das Amt eines Gefängnispfarrers: „Das Gefängnis als sozialer Bereich in Rumänien….schlimm, sehr schlimm. In einem Zwei-Bett-Zimmer sitzen acht Leute ein. Man kann drei Schritte hin und her, zum Beispiel. Wenn man in einen solchen `Saal` hineinkommt, dann verschlägt es Dir schon den Atem. Wegen dem, was du siehst, wegen der Luft.“

Schlattner betreut fortan verurteilte Betrügerinnen und Betrüger, Diebe, sogar Mörderinnen und Mörder – und ist damit, findet Bischof Reinhart Guib, wiederum Pionier für die evangelische Diasporakirche in Rumänien: „Das Besondere bei ihm ist auch, dass er den Horizont unserer Kirche erweitert hat, in dem er sich dieser Gefängnisse und ihrer Insassen angenommen hat – ein Bereich, den unsere Kirche bis dahin nicht beackert hat. Daraufhin haben sich auch andere Pfarrer vorgewagt, diakonisch auch in andere Bereiche sich einzubringen in der rumänischen Gesellschaft.“

Und noch in einem weiteren Punkt leistet Schlattner Pionierarbeit für die evangelische Kirche in Rumänien: Die Zeit der leeren Kirchenbänke, vor denen er Sonntag für Sonntag Gottesdienst hielt, ist seit ein paar Jahren in Rothberg vorbei. Immer mehr Plätze in der kleinen, uralten Rothberger Kirche sind wieder besetzt: von Touristen, die Schlattner einmal sehen wollen, aber auch von Rumäninnen und Rumänen aus der Gegend, die mit der evangelischen Kirche bislang nichts zu tun hatten. Und „von denen von unten, vom Bach“, den bitterarmen Roma, die zu Schlattners besonderen Schützlingen gehören.

„Die Liturgie ist immer Deutsch. Das ist der liebe Gott seit 800 Jahren in dieser Kirche so gewohnt. Aber es kommen zwei Predigten: Eine auf Rumänisch und eine auf Deutsch. Und zwei verschiedene Predigten. Ich muss mir also jedes Wochenende zwei Predigten ausdenken. Erarbeiten.“ Dies auch der Grund, weswegen uns Pfarrer Schlattner für Samstagmorgen auf seinen Tagesplan genommen hatte, denn „am Nachmittag muss ich an den Sonntagspredigten arbeiten“.

Und auch das ist ein wichtiger Impuls für die evangelische Kirche in Rumänien, meint Landesbischof Reinhart Guib: „Das ist einfach exemplarisch. Das hat vieles bewegt in unserer Kirche. Wir haben gerade heute ein Gespräch gehabt im Bischofsamt, eine Arbeitsgruppe, wo wir strategisch denken: Wir müssen nicht nur mit Deutsch, sondern auch in der rumänischen Sprache in die Gesellschaft hineingehen. Und er, Eginald Schlattner, ist damit wieder vorgeprescht.“
Aber Schlattner schriftstellert weiter. „Also, wenn das so weiter geht, muss ich 120 Jahre alt werden, weil bei jeder Geschichte, an der ich arbeite, besteht die Gefahr, dass ein Roman draus wird…“ Täglich sitzt Eginald Schlattner seine sieben bis acht Stunden in seinem antiquierten Büro im altehrwürdigen Rothberger Pfarrhaus, schreibt Texte, beantwortet E-Mails, denkt über die nächste Predigt nach. Ruhestand? „Den Ruhestand gibt es für einen Pfarrer sowieso nicht. Emeritierter Pfarrer – das ist unser Titel. Das klingt anders als `Pfarrer im Ruhestand‘. Ein Pfarrer im Ruhestand, sowas gibt es nicht.“

…auch nicht mit 90 Jahren. 

Zumindest dann nicht, wenn der Pfarrer Eginald Norbert Schlattner heißt und in Rothberg unermüdlich unerschrocken dient.