Luca, der Lebensretter

„Damit niemand sich je wieder fragen muss: Was wäre gewesen, hätte ich richtig eingreifen können?“

Vasile Vlașin mit seinem Repertoire zum aktiven Üben der Ersthilfe | Foto: die Verfasserin

„Ein Mensch, den Sie zum Weinen gebracht haben, ist ab heute glücklicher als davor“ – So endet eines der Dankschreiben, das Vasile Vlașin diese Tage  auf der Facebookseite der Stiftung „Părinți Salvatori“ veröffentlicht hat. Die Absenderin hatte an einem der Erste-Hilfe-Kurse teilgenommen, die der 46-Jährige in Galați abgehalten hat. Als er den Kurs „Wiederbelebung und Defibrillation bei Atem- und Herzstillstand und Rettung im Erstickungsfall“(resuscitare și defibrilare în caz de stop cardio-respirator și salvare în caz de înec) vor fast zwei Monaten in Temeswar/Timișoara gehalten hatte, war ich dabei. Und es war so aufwühlend, dass es Zeit gebraucht hat, diese Zeilen zu schreiben…

Damals saß Vasile Vlașin in dem kleinen, lilafarbenen Raum im ersten Stock des Jugendkulturhauses (Casa Tineretului) ernst und zusammengesunken auf einem Stuhl in der Ecke des fast leeren Raumes. Zwei bunt zusammengewürfelte Stuhlreihen flankierten die Wand. Davor auf dem Boden ausgebreitet: vier, fünf Puppen zum Üben der Herzmuskelmassage, darunter auch Babypuppen, ein Gummi-Torso mit offenem Mund und verzerrtem Gesicht, an der Wand die Projektion der Titelseite seiner Power-Point-Präsentation.

Eine Tragödie als Antriebskraft

Der Mann, gebeugt über sein Handy, wirkt müde und bedrückt, zumindest, bis sich der Saal zaghaft gefüllt hat und der Kurs beginnt. Seine Stimme lässt aufhorchen: Es wäre vielleicht nur ein gut vorbereiteter, rhetorisch einwandfreier Vortrag, der die Teilnehmer, Jung und Alt, vier bis fünf Stunden im Saal fesselt (sei es eine Bibliothek, das Amphitheater einer Universität, der Festsaal des dörflichen Kulturheimes, der Meeting-Raum einer Firma oder gar ein Supermarkt) und zum Lernen animiert, gäbe es da nicht eine tragische Vorgeschichte, die im Tonfall und dem versteinerten Gesichtsausdruck die ganze Zeit mitklingt. Der Grund für die mittlerweile über 1000 solcher Erste-Hilfe-Kurse ist ein Drama, das Eltern erbeben lässt: Der zweieinhalbjährige Sohn Vasile Vlașins, Luca, kam vor 6 Jahren ums Leben, nachdem er sich an einem Bissen Essen verschluckt hatte. Die mehr oder weniger gekonnten Erste-Hilfe-Manöver der Eltern bzw. der Notärzte, die ihn behandelt haben, aber nicht das nötige Gerät hatten, ein Video-Bronchoskop für Kinder, führten dazu, dass der kleine Junge, der noch 49 Tage nach dem Vorfall im Koma lag, sich dazu entschloss, noch vor seinen Eltern in den Himmel zu steigen.
 
Der Schicksalsschlag war für die Familie jedoch der Auslöser dafür, etwas tun zu wollen: Bereits für die Beisetzung ihres Sohnes bat man anstatt Blumen und Kränze, Geld zu spenden, um ein lebensrettendes Gerät, wie es Luca gebraucht hätte, zu kaufen. Keine vier Monate später spendete die Familie dem Krankenhaus in Baia Mare das Bronchoskop, das rund 50.000 Euro gekostet hatte. Aber schon davor erkannte der Vater, wie wichtig es ist, nicht nur die nötige Ausstattung in den Krankenhäusern zu haben, sondern auch, wie groß das Unwissen in Rumänien ist, wenn es dazu kommt, jemandem Erste Hilfe leisten zu müssen. Nachdem er sich selbst zum Ersthelfer ausbilden ließ, begann er, kreuz und quer durch Rumänien und die Welt zu reisen (wohin ihn rumänische Gemeinschaften einluden, seine Workshops zu abhalten) und Eltern, Erwachsenen und Kindern beizubringen, was im Ernstfall zu tun ist und das unter dem Motto „Damit niemand sich je wieder fragen muss: Was wäre gewesen, hätte ich richtig eingreifen können?“ Vlașin versucht durch sein Volontariat, etwas in dieser Welt zu ändern, indem er sein Wissen und Können weitergibt. Sein Ziel: das Wertvollste im Leben zu retten – das Leben selbst!

Der Kurs umfasst zunächst einen langen, aber alles anderen als langweiligen theoretischen Teil, in dem es bei Weitem nicht nur um die praktischen Schritte geht, sondern bei dem auch die Emotionen erklärt werden, die etwaigen Reaktionen aus dem Umfeld oder des Betroffenen selbst. Die Stimme des Vortragenden mutet oft militärisch an, vieles wird hinterfragt, Unwissenheit bloßgelegt, Szenen eindrücklich vorgespielt und alles mit einem Menschenverständnis, das seinesgleichen nicht leicht zu finden ist. Form und Inhalt sind im Einklang, hinter den persönlichen Beispielen werden an der Wand die aktuellen Richtlinien des Europäischen Rates für Wiederbelebung (ERC/European Resuscitation Counsil), bei dem Vasile Vla{in inzwischen Mitglied und zugelassener Trainer ist, in Bildern und Text verdeutlicht. Immer wieder werden die Teilnehmer gefragt: „Was macht ihr als Erstes? Was prüft man zuerst? Wie prüft man das? Warum passiert das?“ Aus dem Publikum kommen wenige, scheue Antworten, die wenigsten davon richtig.

Und immer wieder ist der kleine Luca dabei, der durch seine Geschichte und die Kurse seines Vaters Jahr für Jahr Leben rettet. Auf der Facebookseite des Vereins „Asociația pentru Educație și Caritate“, der auch unter dem Namen „Părinți Salvatori“ (Eltern, die retten) bekannt ist, und den Vasile Vlașin nach dem Tod Lucas ins Leben gerufen hat, wechseln sich die Bilder der verschiedenen in rumänischen und europäischen Städten abgehaltenen Kurse mit den eindrucksvollen Nachrichten ab, die beschreiben, wie das Gelernte in der Praxis mit Erfolg umgesetzt werden konnte – mehr als 20 sind es in diesem Jahr allein, aber mehr als 30.000 Teilnehmer haben bereits den einprägsamen Erste-Hilfe-Kurs des Programms „Părinți Salvatori“ besucht. Die Erfolgsgeschichten enden oft mit dem Hinweis #BravoLUCA. Und der Name des Kleinen steht seit diesem Schuljahr in Hermannstadt auch für ein Pilotprogramm, durch das Erste-Hilfe-Kurse an allen Schulen des Kreises veranstaltet werden (das Protokoll dazu wurde mit dem Kreisrat im Juni unterzeichnet).

Praktische Übungen sind der Kern des Kurses

Luca wird erst am Ende des Kurses auch in Bildern den Teilnehmern gezeigt, aber er schwingt doch in allen Gesten seines Vaters mit. Vasile Vla{ins Anweisungen im praktischen Teil sind streng und scharf, sein Körper angespannt, sein Blick auf die zögernden Hände gerichtet. Jemanden wiederzubeleben ist anstrengend, es ist schwer, einen Menschen mit bloßen Händen den Krallen des Todes zu entreißen. Man bekommt Anweisungen für jeden Schritt, für die laut durchgezählten 30 Thoraxkompressionen (ein bitteres Lächeln zeichnet Vlașins Gesicht bei dem Wort „Herzmuskelmassage“),  für die Mund-zu-Mund-Beantmung, falls man sie sich zutraut und sie einen nicht selbst gefährdet. Dreimal 30, dann sollte der Zweithelfer übernehmen. Genau: Erste-Hilfe-Leisten ist bei einem Herzstillstand kein Ein-Mann-Job (Frauen können natürlich genau wie Kinder auch gut Erste Hilfe leisten, nur sind Männer meist besser gebaut, um die anstrengenden Kompressionen durchzuführen), denn jedem geht relativ schnell die Puste aus und die Wiederbelebungsmaßnahme wird ineffizient, das heißt, es wird nicht mehr genug Druck ausgeübt, damit sauerstoffbeladenes Blut ins Gehirn befördert wird. Der Zweithelfer muss fast immer angewiesen werden: Vlașin gibt den Tipp, eine bestimmte Person aus der Menge der Zuschauer direkt anzusprechen, um Hilfe zu bekommen: „der Herr mit der roten Mütze“ oder „die Dame mit der blauen Jeans“ werden eher etwas unternehmen, als wenn man allgemein nach Hilfe ruft. Die Thoraxkompressionen werden laut mitgezählt, so behält man die Übersicht über die Zeit zum Ablösen, aber auch die Zeit für die Beatmung, und man vermittelt dem Umfeld, dass man weiß, was man da tut. Denn vor dem rettenden Eingriff hat man ja die Person auch noch wahrscheinlich mitten auf der Straße oder sonst wo entblößt (selbst seiner Mutter würde er den BH herunterreißen, wenn es darum ginge, ihr das Leben damit zu retten, sagt der Lebensretter-Trainer). Inzwischen  wurde der Notdienst benachrichtigt: Vlașin gibt klare Anweisungen, wie man den Notfall melden muss, um schnellstens ernst genommen zu werden und ein bestmöglich ausgestattetes Team geschickt zu bekommen. Für den wenig wahrscheinlichen Fall, dass es in der Nähe einen automatisierten externen Defibrillator (AED) geben sollte, demonstriert Vlașin auch, wie diese Pads anzubringen sind und wie das Gerät zu benutzen ist, ohne dass die Thoraxkompressionen zu lange unterbrochen werden. 

Was man braucht – was man bekommt

Immer wieder werden die Teilnehmer während der fünf Stunden erfahren, wie schlecht der rumänische Notdienst ausgestattet ist, wie wenige Krankenwagen über die nötige Ausstattung verfügen, um bei einem Atem- und Herzstillstand einzugreifen, oder warum es so oft in Medienberichten heißt, dass die eintreffenden Einsatzkräfte nichts mehr tun konnten. Es fallen nicht wenige sarkastische Bemerkungen bezüglich der zuständigen Behörden und (un)verantwortlichen Entscheidungsträger, wenn es um Präventionsmaßnahmen im derzeitigen Kontext der Covid-19-Pandemie geht, die aber meinen, verpflichtende Erste-Hilfe-Kurse würden den rumänischen Bürger überfordern, oder dass die Pflicht, dass sämtliche staatlichen und öffentlichen Einrichtungen über einen AED verfügen, keine Priorität darstellt. Und so kommt es, dass man im Kurs nebenbei erfährt, wie es der Verein von Vasile Vlașin schafft, mithilfe von Spendengeldern Krankenhausausstattungen zu beschaffen oder dass durch seine Lobbyarbeit seine Heimatgemeinde Moisei (Kreis Maramureș) die erste im Land ist, die ein regelrechtes Defibrillatoren-Netz (7 Stück) aufgebaut hat und in der die Bürger darüber unterrichtet wurden, wie diese im Notfall einzusetzen sind. Er fügt hinzu, dass so ein Gerät in jedem Haushalt vorhanden sein müsste, in dem Risikopatienten mit Herzvorerkrankungen leben. Schließlich sei der Herzinfarkt/Herzstillstand nach wie vor die Nummer Eins unter den Todesursachen. 

Die Tätigkeit des Vereins hat aber noch einen anderen Schwerpunkt, den Vasile Vlașin nur nebenbei bemerkt: Jährlich unterstützt er Kinder und Erwachsene, die sich ihre Therapie- oder Operationskosten nicht leisten können. Auf der Webseite parintisalvatori.ro werden diese Fälle angeführt, wobei die Spendenaufrufe und die dramatischen Geschichten dahinter auch regelmäßig auf der gleichnamigen Facebookseite (FundatiaParintiSalvatori) zu finden sind. Ebenda stehen auch die nächsten Termine und die Links zum kostenlosen Einschreiben: An diesem Wochenende geht der Workshopmarathon mit Kursen in Bukarest weiter, dann geht es im November nach Șoimești, Ploiești, Râmnicu-Vâlcea, Hermannstadt/Sibiu, Karlsburg/Alba-Iulia, Klausenburg/Cluj-Napoca, Jassy/Iași, Chișinău und Suceava. Für Dezember sind Workshops in seiner Heimatregion in der Maramureș in Borșa, Sighetu-Marmației, Baia Mare und Seini geplant und dann noch bis Weihnachten ein Abstecher nach Westrumänien, wo Kurse in Temeswar, Arad und Großwardein/Oradea veranstaltet werden. Um Spenden für das Fortführen des Programms wird gebeten.

Jemand erstickt! Was tun?

Inzwischen haben die meisten Kursteilnehmer sowohl an den Erwachsenen- als auch an den Kinderpuppen die Thoraxkompressionen und Beatmungen geübt und es geht zum zweiten Teil über, den besonders werdende und  aktive Eltern gespannt erwarten: Was tun, wenn sich jemand verschluckt? Sowohl an Freiwilligen wird das demonstriert, wie auch an den Babypuppen, die sich Vlașin kniend schräg über die Oberschenkel legt, um so effektvoll wie möglich auf den Rücken zwischen die Schulterblätter stoßen zu können, während die andere Hand den Mund offen und die Atemwege so gerade wie möglich hält. Bei der Demonstration an dem Gummi-Torso, einem Thorax-Modell mit Kopf, gibt es noch den witzigen Rat, genug Wut aufzubringen, um den nötigen Kraftakt zu schaffen, durch den das Verschluckte in hohem Bogen ausgeworfen wird. Geschmunzelt wird auch, weil der Lebensretter die Situation so komisch darstellt, als eine zierliche Dame übers Knie gelegt wird, um zu demonstrieren, was man macht, wenn jemand ertrunken ist. Es braucht diese kleinen Witze, die kleinen Atempausen in der Anspannung des gesamten Kurses, der einen fesselt, aufwühlt und nicht loslässt, in der Hoffnung, das praktische Erlernte nie anwenden zu müssen. Erste Hilfe sei nur so zu erlernen, dass man dabei aus der Puste kommt, einem eventuell schon die Arme und Beine schmerzen, man aber genau abschätzen kann, wie tief man sich beugen muss, um jemanden zu beatmen oder um zu sehen, ob sich dessen Brust hebt, nicht nur, indem man sich die Manöver in Filmen oder kurzen Video-Anleitungen abguckt, so der Vater von Luca, der täglich dazu beiträgt, dass Menschen zu Rettern, manche zu Helden werden und sich keiner von ihnen abends aufs Kissen legt und im Kopf der Gedanke kreist, „was wäre gewesen, wenn…?“ Denn „Părinți Salvatori“ ist laut Feedback eines weiteren Teilnehmers „nicht nur ein Kurs, sondern der Ort, wo man lernt, was das Leben ist und es zu schätzen“. Getragen von seinem tiefen Glauben ist der einzige Gedanke, der Lucas Vater einen Hoffnungsstrahl in die Augen schießen lässt, irgendwann seinen geliebten Sohn wieder in die Arme schließen zu können, wenn auch nicht in diesem Leben...