„Man kann Hilfe nur umsetzen mit Menschen vor Ort“

Marianne Dithmar setzt sich seit über 20 Jahren in Rumänien ein

Marianne Dithmar bei einem ihrer zahlreichen Besuche in der Kindertagesstätte Arche Noah. Foto: Eveline Cioflec

Marianne Dithmar hat seit mehr als zwei Jahrzehnten in Rumänien viel Hilfe und Projektarbeit im sozialen Bereich geleistet, wie etwa die Gründung der Kindertagesstätte in Heltau/Cisnădie. Sie ist 1938 in Frankfurt an der Oder geboren und lebt heute in Kassel. Neben ihrer beruflichen Tätigkeit hat sie sich schon sehr früh ehrenamtlich sehr stark eingesetzt. Zunächst wirkte sie bei den „Grünen Damen“ mit, einer Organisation, bei der Frauen Besuche im Krankenhaus machen und sowohl die Patienten als auch die betreuenden Schwestern unterstützen. Später war sie über dreißig Jahre im Kirchenvorstand der Christuskirche in Kassel tätig, zuletzt auch als Vorsitzende. Am teuersten ist Marianne Dithmar allerdings die Diakoniearbeit, wie sie selbst sagt: „Da schlägt mein Herz.“ Eben über diese Tätigkeiten hat sie sich mit der ADZ-Redakteurin Eveline Cioflec unterhalten.

Frau Dithmar, sie haben in Rumänien bereits seit Anfang der neunziger Jahre mehrere Hilfsaktionen und später auch viele Projekte im sozialen Bereich durchgeführt. Was hat Sie nach Rumänien gebracht?

Nach Rumänien haben mich die schauerlichen Bilder gebracht, die wir um die Weihnachtszeit im Dezember 1989 im Fernsehen gesehen haben. Es waren Bilder davon, wie man hierzulande mit Waisen und behinderten Kindern umgegangen ist. Da ich damals schon die leitende Funktion im Kirchenvorstand hatte und somit die Kompetenz, habe ich beschlossen die Silvesterkollekte für Kinder in Rumänien zu erbitten – ohne zu wissen, wie das dann weitergeht; ich wollte einfach mal anfangen. Die Kollekte war so groß wie nie: fast 1000 DM. Dem Kirchenvorstand eröffnete ich schlichtweg: „Ich sehe das als Auftrag. Hier müssen wir handeln“. Alle Gruppen der Gemeinde haben darauf 3 Monate lang etwas für Rumänien gehandarbeitet, Flohmärkte organisiert und vieles mehr. Am Ende hatten wir 25.000 DM. Ich habe derweil die Zeit genutzt, um eine Adresse zu finden, wo wir Kindern in Rumänien helfen könnten. Das erwies sich als gar nicht einfach, es war ja alles im Umbruch, und niemand konnte mir sagen, wo Hilfe gut angebracht ist. Schlussendlich legte mir jemand ein Waisenhaus in Kronstadt nahe.
 

Wie setzt man da an? Wie konnten Sie wissen, was am dringendsten gebraucht wird?

Ich kannte ein Ehepaar in unserer Gemeinde, das häufig nach Siebenbürgen fuhr. Sie brachten Bilder aus dem Waisenhaus mit: Da tropfte die Wäsche auf die Kinderbetten und es war alles ganz schauerlich. So haben wir angefangen und das erste Geld umgesetzt in Kleidung für die Kinder und auch in eine Waschmaschine und einen Trockner. Das war die erste Aktion. Die Kinder haben sich herzlich bedankt, da gibt es ganz viele schöne Geschichten – das traurige Ende war aber, dass in relativ kurzer Zeit vieles wieder verschwand. Maschinen und Sachen waren in kürzester Zeit wieder abhanden gekommen – wie gut wenn man kontrolliert. Da mussten wir uns umorientieren und das besagte Ehepaar hat mir Heltau nahegelegt. Das war eine glückliche Fügung. Ich wollte einem Kinderheim und einem Krankenhaus helfen – das war etwa 1992/93. Wir luden den dortigen Chirurgen nach Kassel ein, um zu erfahren, was genau gebraucht wurde. Dann haben wir sehr gezielt die Chirurgische Abteilung des Krankenhauses unterstützt mit Betten, medizinischen Geräten, Nachttischen und allem, was nötig war.
 

Haben Sie dann, wie vorgehabt, doch auch noch einem Kinderheim geholfen?

Wir haben ein Kinderheim und ein Waisenhaus unterstützt und dabei hatte ich das große Glück, eine Heltauer Kinderärztin kennenzulernen, Dr. Ursula Cioflec. Aus dieser Begegnung entstanden viele weitere Projekte. Zwischen uns ist schnell ein Funken übergesprungen. Eines meiner Projekte war es ja auch, Brücken zu bauen von der evangelisch-sächsischen Gemeinschaft zu der orthodoxen und das ist gelungen mit „Essen auf Rädern“. Das zu planen, ging nur mit Frau Dr. Cioflec – man kann Hilfe nur umsetzen mit Menschen vor Ort – denn sie wusste durch ihre Tätigkeit im Ambulatorium, wo die Not am größten war und sie kannte die Stadt. Die Siebenbürger Sachsen hatten zum größten Teil das Land fluchtartig verlassen und die älteren blieben zurück. Das „Essen auf Rädern“ war sowohl für diese Alleingebliebenen eine Hilfe als auch für manche benachteiligte Orthodoxe.
 

Aus der geleisteten Nothilfe sind auch viele Projekte entstanden. Wie kam es dazu?

Es war klar, dass man Nothilfe nur bis zu einem gewissen Grad leisten kann. Dann musste sie umgewandelt werden in Projektarbeit, sonst hat das keinen Sinn. Die Projektarbeit entstand in Zusammenarbeit mit Frau Dr. Cioflec. Sie war zu der Zeit bereits in der Evangelischen Kirche, in der Diakonie sehr engagiert. Ich habe sie zu den im Land Zurückgelassenen begleitet und gesehen, wie zugewandt sie den Menschen ist. Ich lud sie nach Kassel ein und sie ist gekommen. Partnerschaften kann man immer nur aufbauen, wenn man Menschen kennenlernt und wenn Vertrauen da ist. So wächst etwas. Etwa zur gleichen Zeit als Dr. Cioflec pensioniert wurde, beschlossen wir, dass sie in Heltau einen diakonischen Besuchsdienst aufbaut, der später „Sozialstation“ genannt wurde – das ist unglaublich schnell gelungen: zwölf tatkräftige Frauen kamen zusammen: einige evangelisch, die Mehrheit aber orthodoxe Frauen. Wir suchten die Menschen auf, die wirklich der Hilfe bedurften. Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele gibt. Für uns, die wir aus einem Paradies – ich kann es gar nicht anders sagen – kamen, war es ein Abenteuer zu sehen, wie hier die Menschen zum Teil gelebt haben, wie geduldig sie ihr Leid ertragen und dabei aber ihre Würde nicht verloren haben. Wir hatten die unterschiedlichsten Fälle: Kranke, Kinder ohne Eltern, alles. Ich habe die Arbeit, die diese Frauen geleistet haben, sehr bewundert, denn sie hatten keine Scheu, überall dort zu sein, wo Flöhe, Mäuse, Wanzen, alles durch das Zimmer lief, einzugreifen – unglaubliche Kochtöpfe, bei denen man nur noch ans Entsorgen dachte, haben sie sauber gemacht. Unterstützt haben wir auch mit Sachspenden und in dringenden Fällen mit Geld aus einer eigens hierfür eingerichteten Notkasse. Diesbezüglich haben wir immer Wert auf saubere Abrechnung gelegt, was beide Seiten sehr entspannt hat.
 

Haben Sie sich weiterhin gezielt für Kinder eingesetzt?

Angeregt in unserer Gemeinde, in der auch eine Grundschule helfen wollte, kam ich in Kontakt zur Schule Nr. 3. Wir unterstützten mit Informationsmaterial für die Lehrer, Landkarten, bebilderten Arbeitsbücher für Schüler, Bleistiften, Heften, bis hin zur Ausstattung kleiner Chemie-Räume mit einem Mikroskop, Chemikalien und vielem mehr, aber in bewusst überschaubaren Mengen. Die Transporter – ab 1994 fuhr ich diese selbst – haben wir bei verschiedenen Firmen erbeten, um Kosten zu sparen.
Die Mitarbeiterinnen der Sozialstation haben vor Ort bedürftige Kinder täglich mit einem Pausenbrot versorgt, bis der Staat diese Aufgabe übernommen hat und außerdem eine Wochenendbrotaktion für kinderreiche Familien ins Leben gerufen, die über viele Jahre lief.
 

Die Sozialstation hatte auch einen eigenen Sitz in der Marktgasse. Gab es diesen von Anfang an?

Nein, vieles spielte sich in der Privatwohnung von Frau Dr. Cioflec ab, von den Treffen der Mitarbeiter bis hin zum Zwischenlagern einiger Hilfsgüter. Das war schlussendlich unhaltbar. Deshalb haben wir beschlossen, uns um einen eigenen Sitz zu bemühen, am liebsten im Zentrum der Stadt, um immer erreichbar zu sein. Die Verhandlungen mit der Stadt liefen sehr zäh, aber irgendwann haben wir dann doch einen Raum in der Hauptstraße erhalten.
 

Ihr jüngstes Projekt ist die Kindertagesstätte Arche Noah. Wie ist diese entstanden?

Bei den Besuchen in der Stadt fielen uns die unmöglichen Verhältnisse, in denen Kinder ihre Hausarbeiten machen sollten, auf. Viele hatten nicht einmal ein eigenes Bett, geschweige denn einen Tisch, an dem sie hätten lernen können. Irgendwann habe ich den Frauen gesagt, wir bräuchten ein Haus für Kinder und stellte ihnen ein Projekt zum Thema Schülertagesstätte vor. Zunächst fühlten sich die meisten überfordert, später aber halfen sie mit. Auch die Kasseler Kirchengemeinde hat da das Stolpern bekommen. Sie meinten, sie könnten die Verantwortung und die Finanzierung für 25 Kinder nicht übernehmen.

Nach etwa zwei Jahren haben wir eine Wohnung in einem Haus gefunden, wo es bereits einen Kindergarten gab, zu dem aber keine Kinder mehr kamen. Diese haben wir dem Bürgermeisteramt mit Nachdruck vorgeschlagen und letztlich Erfolg gehabt. Für eine Tagesstätte mussten wir allerdings nach nicht ganz durchsichtigen Vorschriften umbauen. Das war recht unübersichtlich, aber der Leiter des Heltauer S.O.S.- Kinderdorfes, der sich damit auskannte, wusste Rat. Was mir dann besondere Freude bereitet hat, war, dass das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien die Trägerschaft für die Tagesstätte übernommen hat. Wir brauchten eine Außenvertretung, die für alle Behördengänge zuständig ist, wie etwa die Arbeitsverträge und Akkreditierung. Zur gleichen Zeit haben wir die Einrichtung eingebunden in die Orthodoxe Kirchengemeinde, da die Kinder meist orthodox sind, so dass die Feste im Haus ökumenisch gefeiert werden. Inzwischen begleitet ein Beirat die Arbeit der Arche Noah. Die Christuskirchengemeinde in Kassel unterhält die Kindertagesstätte finanziell und verantwortet die inhaltliche Arbeit.
 

Wann wurde die Kindertagesstätte eröffnet?

2002 war die Einweihung, da hatten wir keinerlei finanzielle Unterstützung aus dem Inland, alles ging über die Gemeinde aus Kassel. Wir hatten bis heute vier festangestellte Personen: die Leiterin, die Köchin, den Verwalter und die Buchhalterin. Zusätzlich gibt es ein Mitarbeiterteam für die Betreuung der Schüler, ebenso eine Psychologin. Schülertagesstätten waren in Rumänien nicht bekannt, also kam viel Aufklärungsarbeit auf uns zu. Es war so gedacht, und ist bis heute so, dass wir die Schüler jeweils vor oder nach der Schule mit einer warmen Mahlzeit versorgen und sie, was besonders wichtig ist, bei den Schulaufgaben unterstützen. Nicht weniger wichtig sind uns die Anleitung zu Kreativität, Freizeitgestaltung und das gemeinsame Feiern von Festen. Hygiene ist ein wichtiges Thema; außerdem versorgen wir die Kinder mit Kleidung und was sie sonst benötigen.
 

Wie wählen Sie die Kinder aus?

Die Kinder wählen wir gemeinsam mit der Leiterin der Sozialstation, der Sozialreferentin im Bürgermeisteramt, und der Leiterin der Einrichtung aus.
 

Gibt es mittlerweile neben der Finanzierung durch die Christuskirchengemeinde auch anderweitige finanzielle Unterstützung?

Als wir 4 Jahre gearbeitet hatten, bekamen wir auch Unterstützung vom Staat. Diese deckte etwa die Hälfte der Kosten. Diese beliefen sich anfangs auf etwa 20.000 Euro pro Jahr. Mit der letzten Regierung fiel von heute auf morgen die Subvention weg. Da lagen wir bereits bei knapp 30.000 Euro im Jahr, wir hatten unter anderem die Zahl der aufgenommenen Kinder auf 35 erhöht. Nun hatten wir keine Subvention mehr und das war hart. Irgendwie haben wir es dann doch geschafft. Mittler-weile übernimmt die Stadt Heltau, wo ich inzwi-schen Ehrenbürgerin bin, einen großen Teil der Lebensmittelkosten. Außerdem engagieren sich auch einige Spender vor Ort. In Kassel hat meine Familie die „Stiftung Arche Noah“ gegründet.
 

Wie kann die Arche auf lange Sicht erhalten bleiben?

Meine Intention ist, dass wir die Kindertagesstätte Arche Noah langfristig in rumänische Hände übergeben. Ich kann mir aber durchaus eine weitere Begleitung aus Kassel vorstellen.
 

Mittlerweile gibt es bereits mehrere Jahrgänge an Absolventen. Haben Sie zu diesen noch Kontakt?

Wir behalten die Absolventen in der Betreuung, ich bin mit vielen in Kontakt. Wir verlieren auch manche wieder an das Milieu, aber in der Hauptsache kann ich sagen, sie gehen ihren Weg, arbeiten. Wir haben auch Abiturienten, nicht wenige. Das Ziel ist, dass wir sie in das normale Leben einführen, dass sie ein Selbstwertgefühl bekommen, um sich auch durchzusetzen – was sie von zu Hause nicht mitnehmen können. Wir wünschen uns, dass sie eine richtige Ausbildung bekommen und nicht nur jobben. Die jungen Menschen, die von Hause aus benachteiligt sind, sollen in der Gesellschaft ihren Platz finden und sich akzeptiert fühlen. Rumänien braucht diese Menschen.
 

Frau Dithmar, wir danken Ihnen für das Gespräch.