„Mein Vater ist ein Held und ich bin stolz auf ihn“

Dokumentarfilm über Schizophrenie bringt Tabu-Thema in den Vordergrund

Die ausgebildete Kamerafrau Andra Tarara bei einem Dreh | Foto: privat

„Wir gegen uns“, eine Produktion von „Tangaj Production“, wird im Sommer Premiere feiern.

Die rumänische Regisseurin und Kamerafrau Andra Tarara ist in den 1990er Jahren aufgewachsen. Ihr Vater, Ion Tarara, hat sie in der Kindheit mit einer Videokamera begleitet, mehrere VHS-Kassetten erinnern an eine „leuchtende Zeit“, so Andra. Als sie in die Grundschule ging, erkrankte der Vater an Schizophrenie. Alles sollte sich ändern. Die Eltern ließen sich scheiden, der Vater zog weg. Die Leidenschaft für das Filmen musste er aufgeben. Nach fast zwei Jahrzehnten lädt Andra ihn ein, gemeinsamen einen Film zu drehen: „Wir gegen uns“/„Noi împotriva noastră“ (2020) ist eine Dokumentation über ihre Tochter-Vater-Beziehung, über ihre gemeinsame Leidenschaft für das Filmen und über ein Thema, das in Rumänien tabu ist, jedoch viele Leben prägt: Schizophrenie. Über den Film, der 2020 seine Weltpremiere beim Internationalen Dokumentarfilmfestival Ji.hlava (Tschechien) feierte, sprach die Filmemacherin Andra Tarara mit ADZ-Redakteurin Laura Căpățână Juller.

Dein Film ist rührend, weil er so persönlich ist. Gleichzeitig ist er wichtig, da er einen Einblick in das Leben von Schizophreniekranken und deren Angehörigen bietet. Es ist ein Thema, über das man in Rumänien wenig spricht. Wie kam es zu dieser Dokumentation, deinem ersten langen Film?
Alles hat 2016 mit meiner Abschlussarbeit bei der Filmhochschule (Abteilung Bildgestaltung/Kamera) begonnen. Ich arbeitete an meinem Kurzfilm, „Ein Tod in meiner Familie“/„O moarte în familia mea“, für den ich das Familienarchiv digitalisierte. Zwar habe ich damals nicht viel vom Archiv benutzt, doch die Erinnerungen, die es weckten, gingen mir nicht aus dem Kopf: Eine leuchtende Kindheit, an die ich mich nicht besonders gut erinnere; mein Vater, der mich entspannt und spontan filmte und mit mir redete; ich bat ihn, durch den Sucher der Kamera schauen zu dürfen. In diesen Kassetten war meine Verbindung zu Vater sehr präsent, aber auch zur Kamera. Und genau diese Verbindung hat mich interessiert, denn ich habe mich gefragt, inwieweit sie mich geprägt hat, ob sie zu meiner Leidenschaft für Film geführt hat. Das war der Ausgangspunkt. 

Filmen war die Leidenschaft deines Vaters, die er nach der Erkrankung nicht mehr ausgeübt hat. Wie hat er deine Initiative, einen Film über ihn/mit ihm zu machen, aufgenommen?
Er war sehr begeistert. Ich hatte das erwartet. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war, dass er sich eher für die Hauptrolle statt für die Rolle eines Co-Regisseurs begeisterte. Ich hatte geglaubt, Filmen werde ihn auch nach den Dreharbeiten anziehen, doch interessierte ihn das weniger. Er war ungeduldig seine Geschichte zu erzählen, um mir und der ganzen Welt zu beweisen, wie sehr er sich geändert hat, wie gut es ihm geht. Er stellte sich vor, dass der Film auch von Personen gesehen wird, die an Schizophrenie leiden. Und er überlegte, welche Botschaft er ihnen mitteilen kann, um ihnen zu helfen. Er wollte eine Botschaft von Kraft und Optimismus verbreiten. 

Die Dokumentation wurde ausschließlich von euch beiden gedreht, jeder filmt aus seiner eigenen Perspektive. Aus welchem Grund wurde diese Entscheidung getroffen?
Das war eine der ersten Entscheidungen. Anfangs wollte nur ich filmen, als eine Art Gegenleistung: Er hatte mich als Kind aufgenommen, jetzt filme ich ihn. Doch dann habe ich überlegt, dass es ihm Spaß bereiten würde, wieder zu filmen. Zudem würden seine Aufnahmen eine neue Perspektive liefern, wir würden die Realität durch seine Augen sehen. Das hat mich sehr interessiert. 
Mein Vater gibt seiner Erfahrung mit der Krankheit, mit der Gesellschaft, mit dem Gesundheitssystem eine Stimme, spricht über seine Gedanken und Zustände. Das ist bedeutend, weil man solche Geschichten nicht oft zu hören oder sehen bekommt, vor allem nicht von Betroffenen Es ist ein Film über die Krankheit, aber auch über Beziehungen, Vertrauen, Empathie, Erziehung, Trauma, Kommunikation und hat das Potential, in unserer Gesellschaft wichtige Diskussionen anzuregen.

Hattest du von Anfang an eine klare Vorstellung darüber, wie der Film aussehen soll?
Ich hatte einige Anfangsideen. Ich wusste, dass wir über Film reden werden, suchte auch Antworten auf die Frage „Wie kam es dazu, dass ich Filme mache und was hat er damit zu tun?“ Unsere Gespräche führten vom Film zur Schizophrenie, sodass ich man-chmal nicht sicher war, wovon der Film eigentlich handelt. Dennoch hatte ich einige Richtlinien: Wenn ich mir vorgenommen hatte, einen Film gemeinsam mit meinem Vater zu machen, dann musste ich akzeptieren, dass es auch sein Film ist. Außerdem ging es um geistige Gesundheit, ein sehr wichtiges und oft ignoriertes Thema. Wie hätte ich es weglassen können? Es war auch immer der Gedanke: Wenn kein Film draus entsteht, der gut beim Publikum ankommt, soll alles wenigstens ein therapeutischer Prozess sein, in dem wir einige Sachen über uns erforschen.

Vor den Dreharbeiten standet ihr euch nicht sehr nahe. Wie hat der Film eure Beziehung beeinflusst?
Beim Dreh haben wir viel mehr besprochen als erwartet, manches habe ich damals zum ersten Mal gehört, wie beispielsweise, dass er an Schizophrenie litt. In unserer Familie redete man nicht darüber, genauso wie in der Gesellschaft, ich wusste nur, dass er krank ist. Gleich nach den Dreharbeiten war es ziemlich schwierig, es gab starke Auseinandersetzungen. Ich hatte den Eindruck, die Büchse der Pandora geöffnet zu haben. Jeder von uns hat sich zurückgezogen, um das Geschehene in Ruhe zu verarbeiten. Dennoch war das Endergebnis ein befreiendes Gefühl, wir hatten uns endlich ausgesprochen und wir sind uns dabei sehr nahe gekommen. Leider konnten wir uns nicht mehr darüber freuen, (Anm. d. Red. ihr Vater verstarb 2020 an Krebs), aber es war eine außerordentliche Chance, die mich mehrfach verändert hat.

Wie haben Psychologen und Psychiater den Film aufgenommen?
Die ersten Reaktionen waren sehr gut. Sie fanden die Perspektive der persönlichen Erfahrung mit bzw. über die Krankheit wertvoll, zumal am Bildschirm die Diagnose sichtbarer wird. Es geht nicht mehr um eine abstrakte Darstellung, sondern um das vom Patienten und dessen Angehörigen so gelebte Leben. Dass Vater im Film selbst seine Geschichte erzählt ist eine besonders wichtige Geste der Kraft gegenüber dem Stigma psychischer Erkrankungen.

Aus dem Film geht der große Wunsch deines Vaters auf Genesung hervor. Er las sehr viel zum Thema Schizophrenie und persönliche Motivation und hoffte die Krankheit ohne oder nur mit wenigen Medikamenten zu besiegen. Wie hast du das alles empfunden?
Eine Zeitlang hat er mich davon überzeugt, dass er richtig handelt. Der Gedanke, dass er die Krankheit unter Kontrolle hat, dass er kräftig, informiert, bewusst ist gefiel mir. Ich war stolz  auf ihn und empfand sein Handeln als Widerstand gegen die Krankheit. 
Er richtete sich nach Motivations- und Selbsthilfe-Handbüchern, was allerdings sehr problematisch wird, wenn sie sich mit systemischen Problemen, geschweige denn mit medizinischen Problemen, überlappen. Für eine Person mit solch schwerer Diagnose sind die Sachen viel komplizierter. Unterstützung, Ressourcen sind nötig. Ein Diskurs für die Selbstbehandlung wirft die Verantwortung vom System auf den Einzelnen. Statt Druck auf die Strukturen zu üben und leistungsfähige, zugängliche soziale und medizinische Dienste zu beanspruchen, meinen wir, alleine zurechtkommen zu können. So scheint die psychische Gesundheit ein persönliches Problem, was sie aber nicht ist. Für mich steht fest, dass Selbstdiagnose und -behandlung keine langfristige Lösungen darstellen. Vater glaubte, er sei der atypische Patient, der es schafft. Diese Reaktion ist allerdings sehr typisch – du merkst, dass es dir gut geht und verzichtest auf die Medikamente. Eine Weile geht es dir tatsäclich gut. Aber eigentlich ist alles sehr veränderlich. 
Die Situation hat sich schnell gegen uns gewendet, er hatte wieder psychotische Schübe und es wurde sehr schlimm nach den Dreharbeiten. Ich finde hier geht es um die Grenzen des aktuellen Systems. Darüber, wie schlimm es eigentlich ist: Die Pillen sind schlimm, ohne sie ist es ebenfalls schlimm und du weißt nicht, was du tun sollst, es gibt nichts, das dir hilft. Die Sachen entgleiten dir und du hast keine Kontrolle, nichts funktioniert gänzlich. Also geht es hier nicht um das Versagen eines Menschen, sondern eines Systems. Ich glaube, Vater ist ein Held und ich bin stolz auf ihn.

Was braucht es, damit Geisteskrankheiten hierzulande nicht mehr so stigmatisiert werden?
Heute ein Film, morgen ein Buch. Es gibt punktuelle Änderungen, doch würden Änderungen im System etwas Umfassendes bewirken. Vor allem ist es wichtig locker darüber zu sprechen, und der erste Ort, wo wir lernen müssten auf unseren Verstand ebenso wie auf den Körper aufzupassen, ist die Schule. Dann würde der Besuch beim Psychologen oder Psychiater nicht mehr als beschämend, sondern als normal gelten, wie ein Besuch beim Zahnarzt.
Die Verbesserung der öffentlichen Dienste wäre eine Lösung, und ein Sozialsystem mit kostenlosen Diensten. In manchen Ländern wird kombinierte Therapie, die Psychiatrie und Psychologie vorsieht, angeboten. Wenn dort Patienten die Medikamente aufgeben, wird ihre Gesundheit, in einem sicheren Umfeld, weiterhin überwacht. In diesen Prozess muss auch die Familie mit einbezogen werden. Meist wissen die Angehörigen nicht wie sie in solchen Situationen handeln sollen, sie brauchen Rat.

Wo kann dein Film gesehen werden?
Die Premiere ist für Sommer geplant. Danach wollen wir, mit einem Team junger Psychologen und Psychiater, ausgehend vom Dokumentarfilm die Diskussion über Geisteskrankheiten in Schulen, Universitäten, Krankenhäusern und alternativen Räumen einem breiten Publikum nahebringen.

Herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg mit dem Film!