Mit Russland im Nacken und eigener Kraft

Lettland weiß, was es gestern hatte und morgen haben kann

Links die Botschaft Dänemarks in Vecriga | Fotos: Klaus Philippi

Ein Bad in der Geschichte gefällig? Die Ruinen der Nord-Festung von Karosta und Liepaja wird sie so bald nicht restlos wegspülen.

Bäckermeisterin Gunita Pricina im kurländischen Rucava nahe der Grenze Lettlands zu Litauen. Weil es um die Ecke liegt, bestellt sie ihre Mehlsäcke gerne auch von dort.

Wer am Strand in Liepaja nach Bernstein fischt, muss keine Angst davor haben, als Freibeuter zur Kasse gebeten werden zu können. Ihn zu finden, kostet allein Zeit und Muße.

Moderate zwölf Euro kostete Ende Mai 2022 eine Schifffahrt auf der Daugava mit Umrundung der Insel Zakusala, dem Standort des Fernsehturms von Riga.

Wegen des um etwa ein Grad Celsius kälteren Meerwassers ist die Badesaison an der baltischen Ostseeküste einige Wochen kürzer als in der Lübecker oder der Pommerschen Bucht. Dass in Litauen, Estland und Lettland aus dem gleichen Grund schließlich auch der Winter eine deutliche Spur knackiger als etwa in Mecklenburg oder Schleswig-Holstein ausfällt, braucht nicht zusätzlich erklärt zu werden. Nur während ganz besonders harten Eiswintern wie zum Beispiel in den sperrigen Monaten vor und nach der denkwürdigen Jahreswende 1928/1929, als zwischen Deutschland und Schweden keine Schifffahrt möglich war, bringt die Ostsee Unterschiede zum Erliegen. Aber auch ohne Zufrieren behalten die baltischen Länder etwas Eigenes für sich. Klar, ihr Klima ist rauer als das der Staaten Zentral- und Südosteuropas. Sind sie jedoch darum weniger zu beachten? Mitnichten.

Der Absturz eines Privatjets in die neutralen Gewässer der Ostsee heute vor knapp einem Monat und 35 Kilometer vor der lettischen Hafenstadt Ventspils, deutsch Windau, hat den mittleren der drei baltischen Staaten unfreiwillig wieder einmal verstärkt in das Bild der Öffentlichkeit gerückt. Auch wenn die Nachricht des Flugzeug-Unglücks noch nicht Schnee von gestern ist – die Zeit, wo Lettland schlicht und einfach von einem Wrack mehr im Wasser der Ostsee erzählen wird, liegt sicher nicht in weiter Ferne. Schon lange her ist es, dass Lettland sich eine Woche nach Ende des Ersten Weltkriegs zum allerersten Mal überhaupt von Russland lossagte. Mehr als ein Relikt ist sie denn auch nicht, die kilometerlange Nord-Festung von Karosta, dem ab 1890 auf Befehl vom Zaren der Hafenstadt Liepaja angebauten und heute zivil gähnenden Wohnblockviertel, das die Grenzen der größten historischen Militärzone im Baltikum genau nachzeichnet.

Karosta kontrastiert das architektonisch unverkennbar hanseatisch geprägte und deutsch Libau heißende Liepaja. Mit dem städtischen Linienbus durch das Kriegshafen-Gelände großer wie tyrannischer Vergangenheit zu fahren, ist eine unschlagbare Zeitreise. Russland hat hier zwar nichts mehr zu melden, spricht aber aus dem wie neu glänzenden Kuppel-Gold der orthodoxen Marinekathedrale von St. Nikolaus. Die Klimax seines eindrücklich Absurden jedoch erreicht das Zaren-Kapitel der Geschichte Lettlands in den Ruinen der 1908 zur Verteidigung vor unerwünschten See-Angriffen des Deutschen Reiches auf Karosta erbauten Nord-Festung. Zu Schluss des Ersten Weltkriegs zeigte sich, dass die Gefahr zu keinem Zeitpunkt in der Tat gegeben war.

Versuche von Russland, die Festung auf Nimmerwiedersehen vom Ufer der Ostsee wegzusprengen, als ob sie niemals stellvertretend für seinen Machtanspruch und Stolz gestanden hätte, schlugen fehl. Und Lettland selbst setzt erst recht gar nichts daran, Ebbe und Flut im Aushöhlen dieses ausdauernden Mahnmals bis auf sein letztes Stück Mörtel und das letzte Steinchen zuvorzukommen. Soll doch die Welt hier noch möglichst lange daran erinnert werden können, was übrigbleibt, wenn man Geschichte arg monopolisieren möchte und sich hinter seinen hartnäckigen Phantastereien verschanzen zu müssen meint!

Beim Nachlesen in Reiseführern oder Hinhorchen bei waschechten Letten hingegen kommt Russland gleich viel besser weg, sobald es um den 1986 fertiggestellten und 368,5 Meter großen Fernsehturm von Riga geht. Nicht gut, nicht schlecht, nicht Ruine, sondern eine unpolitische Wirklichkeit: Wo die Europäische Union ihr höchstes Gebäude Moskau verdankt, haben sogar Paris und der Eiffelturm das Nachsehen.

Elf Jahre und drei Monate seit Anerkennung der Unabhängigkeit Lettlands durch Russland waren im November 1931 am Tag der Grundsteinlegung für das Freiheitsdenkmal von Riga vergangen, und vier Jahre später wurde es feierlich eröffnet. Der Aufschwung der lettischen Hauptstadt zur Zwischenkriegszeit hatte seinen Zenit bereits erreicht.

Drunter und drüber gehen sollte es im Zweiten Weltkrieg – binnen fünf Jahren ist Lettland dreimal „befreit“ worden, hat dreimal aufs Neue zur extrem linken oder extrem rechten Überzeugung seiner Okkupanten Ja und Amen sagen müssen. Unabhängig und frei? 1940 und 1944 beim Wieder-Besetzt-Werden von der Sowjetunion sowie ab 1941 unter Deutschlands Nazi-Kommando realitätsferne Zukunftsmusik.

Ein hier wie dort ernster Vergleich ist leicht angestellt: 63.000 Deutsche aus Rumänien, das 1941 etwas mehr als 13 Millionen Einwohner zählte, gehörten der Waffen-SS an. Lettland – 1935 Wohnraum für etwa zwei Millionen Menschen, was auch heute nicht anders ist – half Hitlers Elitetruppen mit 80.000 Mann aus. Dafür scheint Lettland heute endlich nicht mehr nur unabhängig und frei zu sein, sondern auch seine Lektionen gelernt zu haben. Einen Steinwurf von den Ruinen der Nord-Festung bei Liepaja entfernt wurde 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg direkt am Ostseestrand eine Gedenkstätte für Holocaustopfer eingeweiht. Aussagekräftiger als der zu Sowjetzeiten ebenfalls dort stehende Obelisk. Den es tatsächlich gegeben haben muss, wenn Wikipedia nicht lügt.

Ansonsten spült die Ostsee Lettland und dem Baltikum dieselben vom Wasser formschön geschliffenen Steine wie auch dem Norden Deutschlands an. Mittelmeer und Schwarzes Meer brauchen einen Vergleich nicht zu fürchten. Es sei denn, man führt den Bernstein ins Feld, dessen Funkeln den baltischen Staaten, Sankt Petersburg und der russischen Ostseeküste gemein ist. Weder Rumänien noch Deutschland können da mithalten. Natürlich edler Reichtum fragt nicht nach Politik.

Viel eher lohnt sich das unausgesprochene Fragen nach Leben und Biografie der hoch betagten und etwas gebückten Lettinnen, die in den Hallen des Rigaer Zentralmarkts einkaufen. Vieles, vielleicht gar alles haben sie erlebt: den Druck sowjetischer Vormundschaft zweifelsohne zur Genüge, und einige von ihnen anno dazumal als ganz kleine Kinder bestimmt auch die NS-Okkupationszeit. Ob sie in grauer Epoche als Erwachsene im besten Alter vom Beitritt ihres Landes zu EU und NATO geträumt haben? 2004 endlich das späte Aufschließen in beide Elitebündnisse. Entbehrung allerdings muss es gekostet haben, 2014 den autochthonen Lats mit dem eitlen Euro zu tauschen.

Eine kleine Dose Sprotten, die in der Fischhalle des Zentralmarkts eineinhalb Euro kostet, ist am Flughafen unter drei Euro nicht zu haben. Sollte sie es früher einmal gewesen sein, ist die Elite heute  nirgendwo mehr für jedermann einfach so zugänglich. Europa ist teuer wie nie zuvor und Riga wohl die längste Zeit erschwinglich gewesen. Noch leuchtet in Peppo´s echt italienisch backender und auftischender „Neapoles Picerija“ im Viertel Vecriga ein Trick von der Wand: „Spritz now, worry later.“ Alle Wege führen nach Rom. Nur im Baltikum, da führen sie unbedingt nach Riga. Seit über 800 Jahren schon.