Mit sozialem Engagement die Gesellschaft formen

Über die Arbeit der rumänischen Hilfsorganisation „Chance for Life”

Die deutschen Freiwilligen Rebecca Kelber und Severin Thoma

Vidra-Zentrum für HIV-positive Waisen

„Intelligente Leute investieren in Intelligenz!”; die Kinder des Projekts „BURSA“ mit ihren Auszeichnungen für gewonnene Wettbewerbe
Fotos: die Verfasserin und CfL

Es ist Montagmorgen um acht. Rebecca Kelber und Severin Thoma (beide 19) sitzen in der Küche einer Zweizimmerwohnung in einem Bukarester Plattenbau im sechsten Stadtbezirk und frühstücken. Sie sind mehr als 1600 Kilometer von ihrem Zuause in Deutschland entfernt. Gleich beginnt ihre tägliche Aufgabe: ihr Freiwilligendienst bei der rumänischen NGO „Chance for Life“ (CfL). Zu Fuß erreichen Rebecca und Severin das „Atelier der Zukunft“ (Atelierul viitorului) am Iuliu-Maniu-Boulevard. In einem der grauen Hochhäuser hat CfL eine Dreizimmerwohnung zu einer sozialen Werkstatt ausgebaut. Hier befindet sich der Sitz des Projekts „Hoffnung für heute“ (Speranţă pentru azi). Jeden Tag kommen junge Erwachsene mit einer besonderen Geschichte hierher.

Sie sind im Alter von 21 bis 24 Jahren und sie sind HIV-positiv. Sie wohnen in betreuten Einrichtungen oder bei Pflegefamilien, weil sie den Alltag nicht alleine meistern können. Die 16 HIV-positiven Teilnehmer des Projekts sind alle kurz vor oder kurz nach dem Sturz des Ceauşescu-Regimes, der rumänischen Revolution, geboren worden und Teil einer dramatischen medizinischen Fehlbehandlung großen Ausmaßes. Zwischen 1986 und 1991 waren in Rumänien laut Human Rights Watch mehr als 10.000 Kinder in Kranken- und Waisenhäusern einer Behandlung mit HIV-infizierten Spritzen und Mikrotransfusionen mit unkontrolliertem Blut ausgesetzt. Viele der infizierten Kinder waren schon Waisenkinder oder wurden nach der Infektion von ihren Eltern im Stich gelassen und sind bis heute in Waisenhäusern oder Pflegefamilien untergebracht. Auch die 16 Projektteilnehmer wurden innerhalb ihrer ersten drei Lebensjahre in Krankenhäusern mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) infiziert.

„Wir beschäftigen uns mit den ‘Kindern’ und basteln mit ihnen Schmuck, Dekorationen und Grußkarten, die wir dann später verkaufen und so das Projekt mitfinanzieren. Aber wir üben zum Beispiel auch Rechnen und Lesen mit ihnen. Einfache Aufgaben wie ‘4 plus 6’ oder ‘2 mal 5’ ist für einige schon eine große Herausforderung. Es ist auch einfach wichtig, ein soziales menschliches Miteinander zu erfahren“, erklärt Rebecca. Es gibt weitere Unterprojekte, zum Beispiel zur Förderung von alltäglichen Kompetenzen. Sie gehen gemeinsam einkaufen, kochen und fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Außerdem haben sie auch die Möglichkeit, gelegentlich einen Computer zu benutzen. Mittags bekommt jeder eine warme Mahlzeit. Eine große Abwechslung sind auch die Austauschprogramme und Jugendfreizeiten, die durch die Mitarbeiter von CfL organisiert werden. Neben ergotherapeutischen Aspekten bei der handwerklichen Betätigung, erfahren die Teilnehmer durch das „Hoffnung für heute”-Projekt auch soziale Integration und bekommen die Möglichkeit, ein normaleres und unabhängigeres Leben zu führen. Es stellt einen Weg aus der Isolation dar. Einer der größten Erfolge von CfL war die Eingliederung der Projektteilnehmer in öffentliche Schulen.

Die „Kinder” oder „Jugendlichen”, wie die eigentlich erwachsenen Projektteilnehmer bei CfL genannt werden, weisen meistenteils große Entwicklungsdefizite auf, wodurch sie viel jünger und teilweise auch physisch behindert wirken. „Das ist nicht auf das HIV zurückzuführen, sondern resultiert aus der seelischen und körperlichen Vernachlässigung insbesondere in der frühen Kindheit und der damit verbundenen fehlenden kognitiven Stimulation“, führt die hauptamtliche CfL-Mitarbeiterin und Koordinatorin des Projekts, Cristina Niculae, aus. Zehn Projektteilnehmer wohnen im Vidra-Zentrum (Centrul de Plasament Nr. 7 Vidra). Das Waisenhaus für HIV-infizierte Jugendliche und mittlerweile junge Erwachsene befindet sich 40 Autominuten südlich von Bukarest nahe der Gemeinde Berceni. Es wurde Ende der 70er-Jahre als Krankenhaus für Kinder mit chronischen Erkrankungen errichtet und entwickelte sich Ende der 80er, Anfang der 90er-Jahre zu einer der großen Sammelstellen im Land für HIV-infizierte und aidskranke Kinder. Gemäß Human Rights Watch waren in den Anfängen um die 100 Kinder unter schwierigsten Bedingungen dort untergebracht.

Seit 2001 wurde von offizieller Seite die Deinstitutionalisierung der HIV-positiven Kinder und Jugendlichen vorangetrieben und es wurde versucht, sie in ihren Familien, Pflegefamilien oder in kleineren Einrichtungen unterzubringen. Heute wohnen im Vidra-Zentrum noch 21 junge Erwachsene. „Die Situation dort hat sich verbessert. Trotzdem fehlt ausgebildetes, pädagogisches Personal speziell für den Umgang mit Behinderten und Menschen mit einer Vergangenheit, wie unsere Projektteilnehmer sie haben. Die Arbeit ist nicht einfach. Die Jugendlichen sind teilweise gewalttätig. Man kann sie nicht vergleichen mit einem normal sozialisierten Menschen. CfL hat auch für das Vidra-Personal schon Seminare zu diesem Thema abgehalten“, sagt Cristina Niculae. In dem ehemaligen Krankenhaus wohnen die „Kinder” in Einzel- und Mehrbettzimmern, diese mit bis zu drei Betten. „Einige versuchen, ihre Zimmer ein bisschen wohnlicher zu machen, aber grundsätzlich erinnert das alte Gebäude immer noch an ein Krankenhaus“, erzählt eine ehemalige Freiwillige von CfL. „In der Anfangszeit des Projekts 2002 hatten wir noch keine Räumlichkeiten und sind jeden Tag nach Vidra gefahren, um uns dort mit den Kindern zu beschäftigen“, sagt Cristina Niculae.

Neben „Hoffnung für heute“ ist das „CfL-Stipendium“ (Bursa) eines der Hauptprojekte der NGO „Chance for Live”. 17 sehr motivierte Kinder mit hohem intellektuellem Potenzial kommen täglich nach der Schule in die Projekträume und bekommen zusätzlichen Unterricht in Rumänisch, Mathematik, Französisch und Englisch. Sie stammen aus armen Bukarester Familien. Durch CfL haben sie Zugang zu Schulbüchern und weiterem notwendigen Lernmaterial. Auch ein Freizeitprogramm wird organisiert: Jugendfreizeiten, Feste, Musizieren, Sport und kreative Aktivitäten. Aufgrund der durchweg sehr guten Resultate in der Schule und bei Wettbewerben wurde ein entsprechendes Projekt in der Stadt Sulina bei Tulcea gestartet. „Intelligente Leute investieren in Intelligenz. Das ist unser Slogan, der ausdrücken soll, dass CfL ausdrücklich nicht nur diese Kinder unterstützt, weil sie arm sind, sondern weil sie etwas können und weil wir sie brauchen! Dieses Engagement hat nichts mit Mitleid zu tun. Wir sind von ihnen überzeugt!“ erklärt Cristina Niculae.

Weiter sagt sie: „Obwohl Rumänien über Jahre mit einer Serie von Herausforderungen konfrontiert war, glauben wir, dass dies ein wunderbares Land mit wunderbaren Menschen ist. Über Generationen wurde den Rumänen beigebracht, nicht an ihre Fähigkeit, Dinge verändern zu können, zu glauben. Wo immer sie auch sind in der Welt, neigen viele Rumänen dazu, nicht viel von sich als Nation zu halten. Es gibt eine große Anzahl von isolierten Gemeinschaften, sogar in großen Städten, wo sich die Menschen allein und hoffnungslos fühlen. In vielen Situationen warten sie auf andere, die ihnen Hoffnung und eine Chance zum Leben geben. Viele verstehen den Sinn der freiwilligen Arbeit nicht, denn sie assoziieren sie mit der ‘patriotischen Arbeit’, welche ihnen über 50 Jahre lang durch die Kommunisten aufgezwungen wurde. Wir glauben, dass der Schlüssel zur Weiterentwicklung in jeder einzelnen Gemeinschaft und in jedem Einzelnen in dieser Gemeinschaft liegt.

Darum wollen wir die Leute bestärken und eines der effektivsten Mittel hierzu ist, es ihnen beizubringen, sich für ihre Gemeinschaft zu engagieren. Wir wollen den Zivilgeist formen und zur nachhaltigen Entwicklung rumänischer Gemeinschaften beitragen.“ Das ist der Grundtenor der Organisation, der Motor, der ihr Engagement antreibt.
CfL finanziert sich allein durch Sponsoren, Spenden und den Verkauf von selbstgebastelten Produkten. Die Hauptsponsoren sind United Way Romania und Vodafone. Außerdem werden bestimmte Projekte durch EU-Gelder und EU-finanzierte Freiwillige unterstützt. CfL ist ebenfalls eine akkreditierte Organisation für den Europäischen Freiwilligendienst (EFD, besser bekannt als EVS – European Voluntary Service), das heißt, dass CfL als Trägerorganisation rumänische Freiwillige ins Ausland schicken kann.

Neben 16 angestellten Mitarbeitern engagieren sich circa 50 Freiwillige für die Aufgaben von CfL. Der zwölfmonatige Rumänienaufenthalt von Rebecca und Severin findet im Rahmen des durch Deutschlands Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Internationalen Jugendfreiwilligendienstes (IJFD) statt. Deutsche Trägerorganisation ist EIRENE (Internationaler christlicher Friedensdienst). Die Zusammenarbeit zwischen EIRENE und CfL besteht seit 2005. Seitdem entsendet EIRENE jedes Jahr Freiwillige, die die Arbeit von CfL ein Jahr lang unterstützen. „Beeindruckend ist“, so die Freiwilligenreferentin Elisabeth Freise, „das hohe Engagement der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von CfL, das aus der kleinen Initiative von Studenten, die sich um aidskranke Kinder kümmerten, eine professionell und menschlich arbeitende Organisation gemacht hat. CFL arbeitet mit seinen vielfältigen Aktivitäten tatkräftig daran mit, dass die Würde von Menschen mit Behinderungen in der rumänischen Gesellschaft anerkannt wird und dass ihre Entwicklungsmöglichkeiten gesehen und gefördert werden.“ Zu der Finanzierung des Freiwilligendienstes erklärt Severin: „Die Förderung des Bundes deckt nur einen Teil der Kosten für unseren Auslandseinsatz. Wir haben vor Beginn bei Verwandten, Freunden und Bekannten Werbung für unseren Freiwilligendienst gemacht und haben dadurch einen Förderkreis gewonnen, der die restlichen Kosten für den Einsatz deckt.“

Gerade weil ein Großteil der Einnahmen von CfL aus Spenden und Sponsoring besteht, ist der Fortbestand stets ungewiss. „Wir übernehmen einen Teil der Arbeit, für die eigentlich der Staat zuständig ist, und nehmen sehr verantwortungsvolle Aufgaben wahr. Obwohl unser Team schon aus ausgebildeten Psychologen, Soziologen, Pädagogen und Sozialarbeitern besteht, bräuchten wir eigentlich mehr gut ausgebildetes Personal. Vom rumänischen Staat bekommen wir keine finanzielle Unterstützung. Im Gegenteil, wir müssen eine Menge Steuern für unsere Gehälter zahlen. Wir sind auch weiterhin angewiesen auf Unterstützung jeglicher Art, damit die Projekte fortbestehen können. Für Förderung in Form von Spenden, Sponsoring, freiwilliger Tätigkeit, Bereitstellung von Räumlichkeiten, Material und Lebensmitteln, Werbung und Verkaufsmöglichkeiten für die Produkte des Ateliers der Zukunft sind wir sehr, sehr dankbar! Uns ist eine ausgeglichene Partnerschaft, bei der jeder etwas gibt und jeder etwas bekommt, wichtig. Wir versuchen jedem, der uns unterstützt, etwas zurückzugeben. Wir besitzen ein großes Know-how im Bereich ‘Kinder und Jugendliche’ und organisieren auch für Erwachsene und Firmen Seminare und Workshops. Das geben wir gerne zurück! Es ist auch jeder herzlich eingeladen, uns zu besuchen und sich ein eigenes Bild von CfL zu machen“, erklärt Cristina Niculae.

Ausstellungen der handgefertigten Produkte in Bukarest:

7.12.: Weihnachtsmarkt an der Deutschen Botschaft Bukarest

8. und 9.12.: Weihnachtsmarkt der Behindertenwerkstatt „Ateliere protejate“ (Str. Secerişului 15)

18.12.: Firmensitz Unilever (Şos. Bucureşti-Ploieşti 42-44, Gebäude B, Etage 4) bis Weihnachten: Geschäft für biologische Kosmetikartikel „MIO BIO” (Str. Jules Michelet 9, gegenüber der Britischen Botschaft) bis Weihnachten: Teehaus „Tea House“ (Str. George Coşbuc 13)