Ozeanischer Extremsport für Palliativbetreuung in Rumänien

Sportarzt und leidenschaftlicher Ruderer Dr. Vasile Oșean über die Ozeanüberquerung mit dem Team „Atlantic 4“

Oana Ciucă Lazăr (links) moderiert das öffentliche Fernsehgespräch mit Sportarzt und Expeditionsleiter Dr. Vasile Oșean. Foto: der Verfasser

Mit finanzieller Unterstützung der Kaufland-Warenkette ging das rumänische Ruderteam „Atlantic 4“ am Hafen der spanischen Insel La Gomera an den Start der Ozeandurchquerung. Foto: www.taliskerwhiskyatlanticchallenge.com

Ein Kamerateam des privatrechtlichen Fernsehkanals Enjoy TV Romania wartet am Samstagabend, dem 29. September, auf der Bühne im Erdgeschoss des Kinder- und Jugendtheaters „Gong“ in Hermannstadt/Sibiu darauf, um Punkt 19 Uhr mit der Aufzeichnung eines 90 Minuten dauernden Gesprächs beginnen zu dürfen, das die Chefredakteurin der lokalen rumänischsprachigen Kulturzeitschrift „Capital Cultural“ Oana Ciucă Lazăr mit dem aus Bukarest angereisten Interviewpartner Dr. Vasile Oșean führen wird.

Der Gast aus der Hauptstadt ist studierter Mediziner und Facharzt für Rehabilitation im orthopädischen und neurologischen Bereich, weiß bestens um Krankheitsbilder wie beispielsweise den Bandscheibenvorfall Bescheid und verbringt im täglichen Schnitt etwa zehn Stunden als Chefarzt in der Bukarester Privatklinik „Medy Sportline“. Man beneidet ihn nicht und mag sich ebenso wenig ausrechnen, was es für einen selber bedeutete, als praktizierender Arzt Visite an den Krankenbetten von täglich hundert oder noch mehr Patienten vorzunehmen.

Dr. Vasile Oșean aber scheint auch nicht mit vergleichsweise geruhsam lebenden Zeitgenossen tauschen zu wollen. Er ist um die 40 Jahre alt, Vater zweier Kinder im Alter von 5 und 7 Jahren und im richtigen Leben einer der bekanntesten Extremsportler Rumäniens.

Unbestritten ist seine fachliche Sportarzt-Kompetenz, doch sprengt sein neuester Coup in der Öffentlichkeit die Vorstellungskraft normalsterblicher Staatsbürger: Vergangenen Winter brachte Dr. Vasile Oșean es fertig, den Atlantischen Ozean in nur 38 Tagen, 14 Stunden und 32 Minuten zu überqueren. Im Ruderboot und ohne Windsegel. Von der zu Spanien gehörenden Hauptinsel La Gomera des Kanarischen Archipels bis in den Hafen der Hauptinsel Antigua der Kleinen Antillen des Staates Antigua und Barbuda in der östlichen Karibik. Dass er als Mitglied einer Vierermannschaft im Boot unterwegs war, schmälert seine persönliche Leistung rückblickend in keinster Weise.

Seit dem 22. Januar 2018 werden Dr. Vasile Oșean und seine Kumpanen Andrei Roșu, Marius Alexe und Ionuț Olteanu offiziell als Weltrekordhalter der Überquerung des Atlantik mit einem 4er-Ruderboot der Einfachen Kategorie geführt. Am 14. Dezember 2017 hatte sich das Team „Atlantic 4“ in La Gomera eingeschifft. Mitmachen und Ankommen war ihr einziges Ziel gewesen.

Humanitäre Motivation statt Rennleistung

Auch während des Gespräches im Hermannstädter Kinder- und Jugendtheater „Gong“ stellt Dr. Vasile Oșean klar, dass unter allen selbstauferlegten Vorgaben des Teams „Atlantic 4“ sich das unermüdliche Werben um die Sache des Bukarester Krankenhauses für palliative Betreuung „Hospice Casa Speranței“ (Hospiz Haus der Hoffnung, www.hospice.ro) als größte Antriebskraft angefühlt habe.

Oana Ciucă Lazăr moderiert die Aufzeichnung des Interviews vor zwei laufenden Fernsehkameras mit medialer Stilsicherheit, rennt mit detaillierten Fragen alle offenen Türen der Gedankenwelt ihres Gesprächspartners ein. Dr. Vasile Oșean hat sportlich, medizinisch und auch privat eine Menge zu berichten.

Das Fernsehgespräch mit Anwesenheit des Publikums bei freiem Eintritt unter der Bezeichung „Round Table Sibiu“ (Hermannstädter Rundtischgespräch) ist das zweite von insgesamt vier Ereignissen, die im Herbst laufenden Jahres von dem Verband der Musikinterpreten Rumäniens (Uniunea de Creație Interpretativă a Muzicienilor din România, UCIMR) in Hermannstadt veranstaltet werden. Die nächsten beiden Rundtischgespräche sind für Ende Oktober und Ende November ebenfalls im Kinder- und Jugendtheater „Gong“ anberaumt.

Da die ersten Veranstaltungen dieser Struktur vor drei Jahren in Bukarest durchgeführt worden waren, trägt die Facebook-Seite des Projektes nach wie vor den Namen „Round Table București“, bietet aber jeweils neueste Informationen bezüglich aktueller Angebote, die mittelfristig aus der Hauptstadt nach Hermannstadt verlagert wurden. Wer die Live-Übertragung einer oder mehrerer Reihenveranstaltungen verpasst, kann in der Mediathek der Homepage www.enjoytv.ro, oder auch im Youtube-Kanal „enjoytv romania“ nach Fernsehaufzeichnungen stöbern.

Sichere Fahrt durch atlantische Gefahrenzonen

Über mehrere Ansätze muss Oana Ciucă Lazăr sich zu einem Verständnis der Meeresfahrt durchfragen. Sie versucht mit journalistischem Geschick, Dr. Vasile Oșean im Erläutern des Ruderbootalltags auf hoher See zu unterstützen. Obwohl sie ihren Auftrag recht gut meistert, kann Dr. Oșean persönlich nicht umhin zu erklären, dass das Leben in einer quasi-Nussschale auf dem Atlantik jeden Tag, jede Stunde und überhaupt jeden Augenblick gänzlich unerwartete Wege einschlagen und alle menschliche Gewohnheit im Handumdrehen auf den Kopf stellen kann.

Die Fähigkeit zur Übersicht und Planung schwieriger Unterfangen ist dem erfahrenen Sportmediziner vom ersten Wort an deutlich anzumerken. Ein Ammenmärchen zu glauben, sich im Ernstfall schwimmend in das Ruderboot zurückretten zu können. Dr. Oșean lässt kritische Schieflagen der Expedition seines Teams „Atlantic 4“ Revue passieren und ist selbst in der Nacherzählung der Geschehnisse nicht bereit, auch nur eines von zwei Beinen über den Bootsrand hinauszubewegen. Vierzehn Meter hohe Wellen und pfeifende Orkanböen sind auf dem Atlantik die Norm. Trotzdem ist der Atlantik auch in seinen Ruhephasen ein brandgefährliches Terrain.

Wie ein kalter Tropfen auf den heißen Stein nimmt sich das Ruderboot mit vierköpfiger Besatzung gegen den schier unendlichen Ozean aus. Der Bootsrand ist zugleich genau jene Sicherheitsgrenze, mit deren Einhaltung das Überleben auf hoher See steht und fällt. Was für eine kuriose Hemmschwelle sich hieraus ergibt, sobald man nach Beendigung einer Expedition wieder festen Boden unter die Füße bekommt, beschreibt Dr. Oșean verdutzt.

Letztere haben sich im Ruderboot längst daran gewöhnt, alle räumlichen Freiheitsgelüste des Extremsportlers schlichtweg zu überhören. Man möchte hinaus, doch wollen die Beine den Schritt nicht tun. Da draußen wartet schließlich der eiskalte Ozean auf einen Fischfutter-Bonus. Wie aber mit Kindern umgehen, die bei Ankunft im Hafen am Festland lachend auf die väterliche Umarmung warten?

Metabolismus und innere Organe fahren die Körper der Extremsportler auf Sparmodus herunter. Dr. Oșean spricht davon, dass er und seine Team-kameraden ab dem Tag des Wettkampfstarts auf sage und schreibe 182 abgepackte Portionen unterschiedlicher Trockenfertiggerichte zurückgreifen konnten. Nach wenigen Tagen auf dem Atlantik verweigerten jedoch die Geschmacksrezeptoren jeglichen differenzierten Genuss.

Vierzehn Meter hohe Wellen hatten für Ruderer und Teammitglied Marius Alexe einen Verlust von 14 Kilogramm Körpergewicht zur Folge. Dies bestimmt auch wegen der Tatsache, dass auf dem Ozean der Schlafbedarf Einzelner keine Rolle spielt. Allerhöchstens viereinhalb Stunden Schlaf pro Tag durfte man sich auf dem Ruderboot gönnen, wobei jedoch selbst diese knappe Ration Entspannung nicht durchgängig am Stück zu haben war.

Kompromisslose Überlebensstrategien

Oana Ciucă Lazăr schneidet das Thema Zeit und Erinnerung an. Die Frage, ob das Team „Atlantic 4“ auch Ruhe atmen durfte, kann Dr. Oșean nur bejahen. Die Gesprächsleiterin will es wissen: Habt ihr denn Rückschau auf lebensgefährliche Situationen, die sich im Rennverlauf bereits ereignet hatten, geübt? Der Interviewgast verneint dezidiert. Sämtlich schwere Stunden der rudernden Wasserfahrt über die Wellengänge des Atlantischen Ozeans wären so heftig gewesen, dass es als tunlichst zu vermeiden galt, in gelöster Diskussionsrunde brenzlige Gefahrenmomente wieder aufzufrischen.

Wer auf dem Atlantik im einfachen Ruderboot überleben möchte, darf sich stets nur im Hier und Jetzt aufhalten. Obendrein war es zwecks Rennvorbereitung unerlässlich, dem Trainieren der Entscheidungsfähigkeit satte Zeit zu widmen. Es geht rund um die Uhr darum, sich bei Bedarf im allerkleinsten Sekundenbruchteil für das beste aller Rettungsmanöver zu entscheiden.

Aus psychologischer Sicht war die „Talisker Whisky Atlantic Challenge“ für alle vier Teammitglieder eine titanische Herausforderung. Dr. Oșean erzählt davon, dass sich nach bereits wenigen Wettkampftagen herausstellte, welche Kollegen das geistige Aufbautraining ausreichend ernst genommen hatten. Der Schwächste bestimmt das Niveau der gesamten Mannschaft. Drohte ein Mitglied der vierköpfigen Bootsbesatzung mitten im Seegang oder Sturmorkan seinen Kopf zu verlieren, wurde es flugs in die Schutzkabine gesteckt. Für Dr. Oșean stand es auf dem Atlantik nicht zur Debatte, in kritischen Momenten über wackelige Aufgabenverteilung zu verhandeln. Im Notfall mussten drei Mann genügend fit sein können, um die Arbeit von vier Extremsportlern abzusichern.

Buntes Kaleidoskop und kritischer Fernrohrblick

Ob in dem Proviant, mit dem sie sich auf den heftig tosenden und dann doch wieder kahlen Ozean gewagt hatten, auch Musik gesteckt habe, wollte Oana Ciucă Lazăr von Dr. Vasile Oșean erfahren. Der Gast aus Bukarest musste kurz nachdenken, ehe ihm folgende Antwort aus der Bredouille half: Auf dem Ozean gibt es keine schönere Musik als den Ozean selbst! Schließlich lerne man auf dem Atlantik, die Ruhe sowie den Aufgang und Untergang von Sonne und Mond zu lieben.

Und wo im Hermannstädter Kinder- und Jugendtheater „Gong“ von stürmisch tönenden Gezeiten und ozeanischen Donnerschlägen des Atlantiks die Rede war, durfte auch ein Stück Musik aus der mediterranen Lagunenstadt Venedig nicht fehlen. Iuliana Cotîrlea (Violine), Vasile Șulț (Violine) und Jürg Leutert (Cembalo) gaben Auszüge aus der Trionsonate „La Follia“ in d-Moll RV 63 von Antonio Vivaldi (1678-1741) wieder. Ihre souveräne Darbietung haarigster Passagen des barocken Opus ergänzte den meisterhaften Gefühls- und Erlebnisbericht von Dr. Vasile Oșean aufs Beste.

Auf die Spitze seiner kunstvoll zelebrierten Gedankentorte setzt der Sportarzt und Extremsportler schlussendlich eine krönende Sauerkirsche: Anlässlich der Einweihungsfeier des Zentralgebäudes „Hospice Casa Speranței“ Bukarest im Herbst 2014 hätten die rumänischen Staatsbürger aus den Reihen der Ehrengäste in höchsten Tönen von humanitärer Bestimmung der neuen medizinischen Einrichtung gesprochen, gleichzeitig aber habe das für die Errichtung des Hospizes nötige Kleingeld aus den Brieftaschen ausländischer Gönner gestammt.

In Rumänien will man nicht selten davon ausgehen, durch bloßes Erwähnen misslicher Umstände und Ehrerbietung gegenüber ausländischen Mäzenen bereits genügend Hilfe geleistet zu haben. Am Samstag, dem 29. September, gab Dr. Vasile Oșean in Hermannstadt einen Schritt vor, den Rumänien in naher Zukunft zwingend wird gehen müssen: Ja zur kritischen Selbsthinterfragung und Nein zur schonenden Selbstbeweihräucherung.