Stephan Ludwig Roth (1796-1849) – Die Relevanz eines Mythos

Vortrag zum Sachsentreffen am 17. September in Meschen

Büste und Bildnis von Stephan Ludwig Roth, ausgestellt in der Kirche von Meschen, in der er ab 1847 als Pfarrer wirkte.
Fotos: George Dumitriu

Das Pfarrhaus mit Roth-Büste und Gedenktafel

Der Vortragende beim 32. Sachsentreffen in Meschen

Die Kirchenburg von Meschen im Ensemble

Stephan Ludwig Roth ist uns allen ein Begriff. Wir kennen ihn als Opfer der Revolution von 1848/1849, als Märtyrer des sächsischen Volkes und Freund der Rumänen. Auf einer Tafel an der Aussenwand des Mediascher Pfarrhofs steht geschrieben, er wäre ein Freund des arbeitenden Volkes und ein Versöhner der Ethnien in Siebenbürgen gewesen. Wie das im Falle der meisten Persönlichkeiten aus der Vergangenheit ist, könnte dies über ihn nur unter der Berücksichtigung bestimmter Umstände behauptet werden. Unter anderen Umständen könnte man sogar das Gegenteil beweisen. Stephan Ludwig Roth ist ein Romantiker gewesen, der jung starb. Seine Persönlichkeit ist eine komplexe gewesen, eine echte Herausforderung für die Geschichtsschreibung.

Er erblickte das Licht der Welt am 24. November 1796 in Mediasch zu einer Zeit, als in Siebenbürgen die sogenannten „stillen Jahre“ begannen. Es herrschte damals im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation Franz II. (1792-1835), als der „Blumenkaiser” bekannt. Wie jedes Mitglied des herrschenden Hauses musste auch er einen Beruf erlernen, er wählte Gartenbau. Zusätzlich liebte er Porträts und Bücher. Von den letzteren konnte er nie genug haben. Anfangs bestand er darauf, selbst seine Bücher zu ordnen, so wirkte er zeitweise als Hilfsbibliothekar. Den Dilettantismus scheint er niemals überwunden zu haben,  die Regierungsgeschäfte überließ er seinen Ministern, während er Blumen pflückte oder den Staub von seinen 40.000 Bänden wedelte.  Er war der Kaiser eines reaktionären Staates, in dem polizeiliche Maßnahmen gegen Oppositionelle auf der Tagesordnung standen.

Die stillen Jahre bedeuten für Siebenbürgen nicht nur Stagnation, sondern vor allem die Aussichtslosigkeit der Lösung der wichtigsten Probleme des Landes. Schon seit dem Tod Josephs II. wünschte man sich, neben der Restauration der alten Ordnung, die 1805 erfolgte, eine Umstellung der siebenbürgischen Politik. Die ersten Schritte taten Ungarn und Rumänen. Die beiden Stände des Adels und der Szekler haben im Sinne der ungarischen Nation zusammengespielt, die Rumänen brachten ihre Stimme in ihrem „Supplex libellus Valachorum Transsilvaniae“ der kaiserlichen Macht 1792 zu Gehör. Da sie nicht viel erreichen konnten, sind sie zum politischen Passivismus übergegangen. Die Sachsen bestanden mehr als je zuvor auf ihren mittelalterlichen Rechten und Privilegien, ihre Umstellung auf den nationalen Gedanken erfolgte später.

Die Verehrung der Nation

Das Erwachen aus dem Dornröschenschlaf des verlängerten Mittelalters fällt mit dem Beginn des Heranreifens Stephan Ludwig Roths zum Manne zusammen. 1820 aus dem Ausland, wo er studierte, zurückgekehrt, diente er 14 Jahre der Kirche als Schulmann. 1834 wurde er Stadtprediger in Mediasch, 1837 Pfarrer von Nimesch/Nimșa und 1847 von Meschen/Moșna, wo er bis zu seiner Hinrichtung am 11. Mai 1848 blieb.

Für ganz Europa bedeutete die französische Revolution des Jahres 1830 eine Zäsur. Der aus Gottes Gnaden herrschende König wurde vertrieben, an seine Stelle trat eine konstitutionelle Monarchie. Es wehte der neue Wind des Liberalismus: statt Untertanen, hatte der Staat freie Bürger, die zusammen eine souveräne Nation bildeten. George Bari]iu schrieb 1844 in Foaie pentru minte … „Allein die Nationalität (im Sinne des Nationalgefühls) könnte ein Band sein, das länger hält als jedes politische Bündnis.“ Unter Nation verstand er: „den Fürsten, den Aristokraten, den Geistlichen, den Soldaten, den Bauer, den Handwerker, den Mann, die Frau, den Greis, den Jüngling, den Säugling, alle national, alle Geschwister, gleicher Mutterzunge, die von den Vorfahren gehüteten Sprache …”

Ich habe bewusst Bari]iu zitiert, denn obwohl er aus rumänischer Perspektive schrieb, waren alle Nationen in Siebenbürgen seiner Meinung: alle sahen sich als alt und ehrwürdig an, Wahrer einer einzigartigen Kultur und alle fühlten sich gleichsam unterdrückt: die Ungarn von der Wiener Regierung, die Sachsen von den Ungarn, die Rumänen mal von den Ungarn, mal von den Sachsen. Die Verehrung der Nation bekommt zu dieser Zeit beinahe religiöse Züge. Indem die Sprecher der Mutterzunge zusammenhalten und einen gemeinsamen Weg gehen, verwirklichen sie sogar die vom Evangelium geforderte Nächstenliebe, so Barițiu.

Sollte anstelle der Stände die bürgerliche Nation treten, so müssen Institutionen geschaffen werden, die den Bürger inmitten seiner monolingualen Nation stärken und fördern. Die ungarischen Liberalen forderten z. B. die Möglichkeit, dass die Leibeigenen sich freikaufen und zu Landbesitz gelangen. Das ist eine wichtige Voraussetzung um einigermaßen „gleiche“ Bürger zu haben.

Magyarisierung und Sprachkampf

Man hat viel über die Union Siebenbürgens mit Ungarn und die „Magyarisierung“ des einheimischen Liberalismus gelästert. Mit Recht sogar, denn die anderen Ethnien wurden dabei nicht berücksichtigt. Es ist aber für die Liberalen Siebenbürgens einfacher gewesen, die Union mit dem größeren Nachbarland anzustreben, als die mit Sonderrechten ausgestattete und von Partikularismen gekennzeichnete einheimische Verfassung zu ändern. Sie haben den kürzeren und einfacheren Weg eingeschlagen, auch weil in einem mit Ungarn vereinten Staat der Prozentsatz der Minderheiten niedriger gewesen wäre..

Die liberale Opposition war naiv genug zu glauben, dass die anderen Ethnien in Siebenbürgen von der neuen „natio hungarica“ nach französischem Vorbild begeistert sein werden und fröhlich ungarisch lernen würden. Es gab genügend Beispiele von Juden, Schwaben und Slowaken aus Ungarn, die ihnen diesbezüglich Mut machten. Der romantische Schriftsteller Jókai Mór hat diese „Begeisterung“ karikiert, als er in einem seiner Romane einen „slowakischen“ Konvertiten zum Magyarentum beschrieb. Ungarisch reden und ein magyarisierter Name waren damals die Merkmale des ungarischen Bürgers.

Eine Vorstufe zur neuen ungarischen Nation war im Vormärz die Einführung des Ungarischen als Landessprache. Dabei wurde natürlich mit der Abschaffung des Lateinischen argumentiert. Stephan Ludwig Roth geht in seiner 1842 erschienenen Schrift „Der Sprachkampf in Siebenbürgen“ auf dieses Argument nicht ein. Vielmehr wettert er gegen die heute als Romantismus betrachteten und überholten Vorstellungen vom Ursprung des ungarischen Volkes und betont den Beitrag der ausländischen Gäste, hauptsächlich der Deutschen, zum Wohlstand des Landes. Die Schrift ist in einem furchtbar leidenschaftlichen Ton geschrieben und enthält romantische Beschreibungen der Völker. Die Ungarn sind aus einer „reitenden Horde” zu Europäern geworden, die Rumänen sind die slawisierten Nachkommen von römischen Untertanen.

Die vielzitierte Stelle mit Rumänisch als Landessprache Siebenbürgens ist nicht so sehr zugunsten der Rumänen, als vielmehr gegen die liberale Opposition gerichtet. Der damals Nimescher Pfarrer wird schon den Unterschied zwischen der lingua franca einer Region und der offiziellen Landessprache eines mit Siebenbürgen unierten Ungarn verstanden haben. Was mich an dieser Schrift am meisten irritiert, sind nicht die zeitgebundenen Ansichten von Volk und Sprache, sondern vielmehr die Tatsache, dass er keine Perspektive für die Zukunft bietet, Roth prophezeit für die unmittelbare Gegenwart: Es solle beim status quo bleiben, damit Ruhe herrsche im Lande. Seine Zitate aus den Privilegien der Sachsen machen es deutlich, dass er die Nation und den Nationalstaat, den die Deutschen und andere europäische Völker 1848 genauso stark herbeiführen wollten, wie z. B. der schon zitierte George Bari]iu, nicht rezipiert hatte.

Nach der Hinrichtung begann  der Mythos

Stephan Ludwig Roth war ein temperamentvoller Mann, der sein sächsisches Volk leidenschaftlich liebte. Gepaart mit dem Drang, es besser zu machen, hat ihm sein Auftreten sowohl im Lehramt als auch im Pfarramt und schließlich in der Politik Schwierigkeiten bereitet. Sein Ende vor dem Standgericht der Revolutionäre erklärt sich durch sein voriges Engagement für die Kaiserlichen: seine Beteiligung an sogenannten Pazifikationskommissionen, wo es um die Beruhigung der Bevölkerung ging, wie auch der Anschluss sächsischer Leibeigenendörfer an den Schäßburger Stuhl. Dieses Engagement hat ihn stark exponiert. Sobald die Front wechselte, wurde er zum Ziel der Repressalien.

Mit dem Tod Stephan Ludwig Roths begann der Mythos Stephan Ludwig Roth, als des Sachsen, der für sein Volk in den Tod gehen musste. Schon 1852 erschien Andreas Graesers Biographie, in dem er ein „erhebendes und aneiferndes Vorbild“ der nationalen Nachwelt genannt wird. Stephan Ludwig Roth wurde von seiner sächsischen Nachwelt zum Opfer des extremen Nationalismus stilisiert, dass er z. T. einen repressiven und reaktionären Polizeistaat vertrat, rückte in den Hintergrund, denn er wurde von den nationalen Sachsen der nächsten Generation für sich beansprucht. In seinen Gedanken haben letztere Ansatzpunkte gefunden.

Volksfreund und Volkserzieher

Wir brauchen Mythen. Es geht darum, dass wir uns über sie austauschen, nachdenken darüber,  wer und was wir eigentlich sind und dabei erleben wir Gemeinschaft. Es geht nicht darum, dass wir den Mythos Stephan Ludwig Roth abschaffen, sondern, dass wir ihn durch das ergänzen, was Stephan Ludwig Roth glänzend erreicht hat: selbstlos seinem Volk zu dienen, als Lehrer, als Pfarrer, als Politiker. Seine wichtigste Leistung diesbezüglich bleibt die Forderung der Gründung des Landwirtschaftlichen Vereins 1845. Er hat es sehr gut verstanden, dass die Hilfe und der Dienst für und an das sächsische Volk nicht primär aus vaterländischen Reden, sondern in der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und des Bildungswesens bestehen. Seine fortschrittlichen pädagogischen Entwürfe wurden nach seinem Tod nach und nach rezipiert.

Durch bessere Bildung und Anwendung von modernen landwirtschaftlichen Methoden kann man den Wohlstand anheben. So fordert er den Fruchtwechsel anstelle der Dreifelderwirtschaft und die Flurbereinigung anstelle der Zerstückelung des Grundbesitzes, so etwa  in  seiner Schrift „Wünsche und Ratschläge, eine Bittschrift fürs Landvolk” (1843), in der er den Bauernstand als einen Ehrenstand würdigt. Die Leibeigenschaft hält er für ungeeignet, denn freie Menschen werden besser leisten können als Leibeigene, bevorzugt allerdings eine friedliche Lösung dieser Frage statt der allgemeinen Befreiung : Wir haben daraus kein Hehl zu machen - schreibt er - „daß wir einer gewaltsamen Fesselsprengung der Unterthanen ebenso feind, als einer friedlichen Ausgleichung und Beglückung der armen Unterthanen die wärmsten Freunde sind.”

In seiner Schrift „Der Geldmangel und Verarmung” (1843) untersucht er die Auswirkungen des österreichischen Staatsbankrotts 1811 auf die Wirtschaft Siebenbürgens und ermahnt seine Volksgenossen zu Mäßigkeit und Vermeidung des Luxus, bevor es zu spät wird. „Einzelne Verarmte – sind nur Tropfen; wird die Verarmung und Genußsucht allgemein, sind sie ein Meer, das … ein Loch für sich im Deiche bohren will … Daher muss der Verarmung und der Genußsucht der Talar und die Tiare, Groß und Klein, Herr und Knecht, Mann und Weib, wie einer Wassernoth zulaufen, ehe mit stürzendem Damm die losbrechende Flut, Mann und Maus ersäuft.”

Anhand solcher Zitate erkennen wir in ihm den Volksfreund und Volkserzieher.  Diese Dimension könnten wir zum Verteidiger der Muttersprache und zum Opfer eines erbitterten und blutigen Bürgerkrieges hinzutun, um den Mythos zu ergänzen und ihn für die Gegenwart zu aktualisieren.

Aber wie wäre heute  der Begriff  „Volk” zu verstehen? Die Nation, das Volk, wurde schon so oft im Laufe der Geschichte instrumentalisiert. Noch wird in unserem Nachbarland, der Ukraine, wo Russland im Namen der eigenen Sicherheit und zum Schutze seiner nationalen Diaspora den Angriff startete, dieser Begriff missbraucht. Der Krieg fügt dem ukrainischen Volk ein Trauma hinzu, welches den Grundstein für eine neue nationale Identität liefert.

Angesichts dieses Krieges, aber auch der Tatsache, dass „Volk” und „Nation” in Osteuropa zumindest noch eine Rolle spielen, bin ich der Meinung, Nationales und Völkisches müsse heute friedlich ausgelebt werden: über Fußball, Tourismus, Gastronomie und Kultur. So könnten wir Stephan Ludwig Roth am besten würdigen: nationale Dissonanzen müssten nicht auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden, sondern im Rahmen eines demokratischen Staates. Nationale Gefühle wollen wir auf Treffen, Festivals und Podiumsgesprächen und gemeinschaftlich in der Hoffnung einer dauerhaften und nachhaltenden Verständigung und Versöhnung ausleben.


Biographisches
Geboren 24. Nov. 1796 in Mediasch als Sohn des Lehrers und evangelischen Pfarrers Stephan Gottlieb Roth  - hingerichtet 11. Mai 1849 in Klausenburg, studierte er 1817 Theologie an der Universität Tübingen und zog 1818 nach Yverdon zu Pestalozzi, wo er nach dessen Methode Latein unterrichtete. 1820 kehrte er nach Siebenbürgen zurück und schrieb „ Das Wesen des Staates als eine Erziehungsanstalt für die Bestimmung des Menschen“ als Doktorarbeit.
(Quelle: Wikipedia)