Temeswar, eine Erinnerung

Wie eine Stadt ihren Geist aufzugeben scheint

Eine Entwicklung, die Temeswar keine Ehre macht: Weil die Stadtverwaltung keine entsprechende Handelsordnung für den Innenstadtbereich durchsetzen kann, werden dort immer mehr Spielhallen, Second-Hand-Bekleidungsläden und andere zweifelhafte Geschäfte eröffnet. Foto: der Autor

Anfang der 1920er Jahre hat eine heute in vollständige Vergessenheit geratene, jung verstorbene Schriftstellerin, Cora Irineu, die Stadt Temeswar in einem schmalen Büchlein mit dem Titel „Scrisori bănățene“ (Banater Briefe) als eine Stadt beschrieben, die die aus dem Altreich Stammende durchaus beeindruckte. Nicht nur die Gebäude, allen voran das Piaristengymnasium, sondern auch die Sauberkeit und Ordnung, die Gesetztheit und Verlässlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft blieben ihr in Erinnerung. Einige Jahre später besucht die Stadt ein Geografie-Professor aus Jassy/Iași, Ion Th. Simionescu, der in den 1920er und 1930er Jahren durch seine populärwissenschaftlichen Bücher über Rumänien eine gewisse Bekanntheit erlangt hat. Entzückend findet Simionescu die Vorstadtgärten von Temeswar und die luxuriösen Paläste der Innenstadt, der Hof des Piaristengymnasiums erinnert ihn an britische Universitäten, den Garten des BNR-Palais empfindet er als eine wunderbare Oase. Auch er sieht die Ordnung und die Sauberkeit, auch er weiß, dass die Stadt Temeswar, genauso wie andere erst vor Kurzem rumänisch gewordene Städte, dieser Bezeichnung auch gerecht wird.

Es sind fast hundert Jahre seit den Besuchen von Cora Irineu und Ion Th. Simionescu vergangen und die Stadt ist, das wird niemanden wundern, eine andere geworden. Sicherlich, die Vergangenheit ist immer ein fremdes Land und man muss ihr nicht nachtrauern. Aber wenn eine Stadt, die für die jüngste Geschichte Rumäniens eine große Bedeutung hat, weil ihr Geist für den Sturz der kommunistischen Diktatur steht, eben diesen Geist verloren hat, dann muss man doch an die Vergangenheit denken, zumindest, um die Zukunft gestalten zu können. Und dafür wird der Autor den Vorwurf, nostalgisch, rückwärtsgewandt, ja sogar reaktionär zu sein, gerne hinnehmen. Die Stadt, die er als Kind kannte, die Stadt der 1990er Jahre, ja selbst des Anfangs der 2000er Jahre, die den Charme der vergangenen Epochen nicht gänzlich verloren hatte, in der es trotz des tristen Grau des Kommunismus und des wenig beglückenden Alltags der Transformationszeit noch ein bisschen Banater „Ștaif“ gab, diese Stadt ist, man muss es sagen, verloren. Temeswar, das einstige, ist zum Opfer des eigenen, vor allem wirtschaftlichen Erfolgs geworden und ist heute nur noch eine Erinnerung.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Temeswarer Bevölkerung sehr stark verändert, der massive Zuzug aus anderen Landesteilen hält ununterbrochen an und sorgt für das starke wirtschaftliche Wachstum. Zwar üben die Temeswarer Universitäten nicht die Anziehungskraft aus, die zum Beispiel von der Klausenburger Babeș-Bolyai-Universität ausgeht, doch Jahr für Jahr strömen auch nach Temeswar Lyzeumsabsolventen aus allen Nachbarkreisen sowie aus Oltenien, genauso wie Arbeitskräfte hergeholt werden, wenn es notwendig ist sogar aus Galatz/Galați. Wer es nicht glaubt, der frage mal bei den Personalabteilungen großer IT-Unternehmen, die im ganzen Land auf der Spur von Fachkräften sind, oder bei den zahlreichen Immobilienentwicklern nach, die in und um Temeswar Wohnhäuser für die (Neu-)Temeswarer hochziehen.
Dass das so geschieht, ist für die Stadt und ihr Umland sicherlich nicht schlecht. Die Temeswarer Wirtschaftskraft lässt sich im landesweiten Vergleich sehen und sie beeindruckt zumindest auch die serbischen Nachbarn, die mittler-weile nicht nur auf Einkaufstour in die Banater Metropole kommen, sondern auch, um hier zu studieren und zu arbeiten.

Wie das alles geschieht, ist aber in der Tat ein zu beachtendes Thema. Eine verhältnismäßig wohlhabende Stadt von überschaubarer Größe bekommt Probleme nicht mehr in den Griff, die andernorts, auch dort, wo viel weniger Geld vorhanden ist, ohne Wenn und Aber gelöst werden. Die Müllentsorgung, zum Beispiel. Die Sanierung der Innenstadt. Der Bau von mehrstöckigen Parkhäusern in derselben Innenstadt. Die Umgestaltung des Personennahverkehrs. Der Bau einer angemessenen Mehrzweckhalle. Der Bau eines neuen städtischen Krankenhauses. Der Ausbau und die Erweiterung der Grünanlagen. Die Entwicklung einer entsprechenden Tourismusmarke. Die Sauberkeit auf den Straßen. Die Bewahrung der Nachtruhe. Der Bau eines entsprechenden Museums für die 1989er Revolution. Was einem Temeswarer so alles binnen einer Minute einfallen kann, nicht mehr. Alles, was so zu Mitteleuropa gehört, zum funktionalen Mitteleu-ropa, das nicht mit der ungarischen Grenze aufhört, sondern in Großwardein oder Klausenburg wei-terhin zu Hause zu sein scheint.

Weil Temeswar 2021 Europäische Kulturhauptstadt werden soll, schaue man sich die Kulturszene an, der inzwischen berühmt-berüchtigte Kulturhauptstadt-Verein bleibe vorerst außen vor. Das Deutsche Staatstheater liegt dieser Zeitung wohl am nächsten, beginnen wir also damit. Eine funktionierende, angesehene Institution hat der Bürgermeister einfach kaputt gemacht, nur weil ihm eine öffentlich geäußerte Kritik des hochkompetenten Ex-Intendanten wohl nicht gefallen hat. Und obwohl die Gerichte für Recht gesorgt haben, biegen die Untergeordneten des Bürgermeisters mit seiner Kenntnis weiterhin das Recht, während das DSTT vor sich hin dämmert. Das rumänische Nationaltheater? Ein drittklassiger Schauspieler, der dort angeblich das Sagen hat, sorgt für Darbietungen auf Kulturheim-Niveau. Die Nationaloper? Ein bisschen Verdi, ein bisschen Puccini, viel Operette. Der „Zigeunerbaron“ und „Die lustige Witwe“, Kulturheim-Niveau 2.0. Die Philharmonie? Ein ewiger Streit zwischen dem Ensemble und einem Intendanten, der in einer geordneten Gesellschaft im besten Falle das Bokschaner Kulturheim hätte leiten dürfen, mit seinen anstößigen Witzeleien und seinem rabiaten Auftreten. Es gibt natürlich auch eine alternative Kulturszene, die sich teilweise sehen lässt, doch die etablierte ist auf ein Tief gefallen, das man sich nur schwer vorstellen kann.

Seit 2012 hat Temeswar einen Bürgermeister, der sich selbst zum größten Feind geworden ist und sich inzwischen aufführt, als würde die Geschichte der Stadt mit ihm beginnen und selbstverständlich mit ihm zu Ende gehen. Ein kleiner Despot, der sich im Internet eine Scheinwelt gebastelt hat, in der er unangefochten herrscht und unliebsame Kritiker per Mouseclick schnell und leicht entfernt. Und trotzdem: Wenn man sich allein die Worte und die Taten des Nicolae Robu anschaut, kann man ihm den guten Willen nur schwer absprechen. Der Mann hat die Stadt aus der Lethargie der Spätjahre Gheorghe Ciuhandus geweckt und so manches bewegt. Aber er scheitert an sich selbst. Und an seinen Untergeordneten. Sieht man sich diese Gestalten an, die Bösewichte und die Möchtegerns, die unbedarften jungen Damen in den Vorzimmern, die Geschäftsleute, die in der hinteren Reihe des PNL-Kreisverbands nach lukrativen Verträgen mit der öffentlichen Hand Ausschau halten, beleuchtet man deren Verbindungen zur Unterwelt, so wird einem schnell klar, warum gegenwärtig nur so wenig geschieht in dieser Stadt, warum der Robu-Verwaltung der große Wurf nicht gelingt und warum Temeswar dem siebenbürgischen Klausenburg immer mehr hinterherhinkt.

Bösewichte und Möchtegerns, Parvenüs und Schmeichler dürfte es auch dort geben, es gibt sie überall. Auch ist Temeswar bestimmt nicht zur Hauptstadt von Korruption und Verbrechen geworden, obwohl zum Beispiel noch immer nicht geklärt wurde, warum jene treuen deutschen Staatsbürger mit ihren teuren deutschen Karossen, die von Sozialhilfe und Hartz-IV gekauft wurden, vor 10-20 Jahren hier die vornehmsten Villen der Innenstadt erwerben konnten und inzwischen fast ganze Straßenzüge besitzen. Wer auch das nicht glaubt, der sei auf einen Spaziergang eingeladen, mitten im August. Auf dem Programm stehen die Mihai-Eminescu-, die C. D. Loga- und die Rozelor-Straße. Das geht nur im August, denn die Herren und die Damen halten sich gewöhnlicherweise in Frankfurt, München oder Hamburg auf und auf der eleganten Rozelor-Straße kehrt wieder die Ruhe ein.

Es ist nicht gut bestellt um die Europäische Kulturhauptstadt, 2021 droht in der Tat zum Fiasko zu werden. Es wird zu viel gestritten, es wird zu wenig gedacht und noch weniger gehandelt. Zu groß sind die Ambitionen, zu schwach der Gemeinschaftsgeist. Es ist wohl diese Banater Art, dieser pragmatische Egoismus, der zwar für Wohlstand des Einzelnen sorgt, aber der Gemeinschaft nur wenig bringt. 
Manchmal scheint es, dass sich der Temeswarer Gemeinschaftsgeist, insofern es ihn überhaupt gegeben hat, zum letzten Mal im Dezember 1989 aufgebäumt hat und mit den Enttäuschungen der Nachwende-Jahre untergegangen ist. Deshalb wohl ist Temeswar nur noch eine Erinnerung. Weil man aber den Temeswarer, den echten, mit ein wenig Glück noch finden und sich mit ihm sogar auf Städtlerisch unterhalten kann, heißt dieser Text eben nur „Temeswar, eine Erinnerung“. Ein Nachruf sollte er nicht sein.