Über Journalismus, Hexerei und „Berichtstouristen“

Ein Interview mit Peter Miroschnikoff, langjähriger Korrespondent der ARD in Wien

Peter Miroschnikoff bei seinem Besuch bei der deutschen Minderheit in Hermannstadt im Mai 2022
Foto: Dragoș Dumitru

Peter Miroschnikoff hat in den 70er- und 80er-Jahren aus Rumänien berichtet und zahlreiche Hintergrundberichte und Dokumentationen über die deutsche Minderheit ins bundesdeutsche Fernsehen gebracht. Unsere ADZ-Redakteurin Aurelia Brecht hat mit ihm gesprochen.

Herr Miroschnikoff, Sie sind in Danzig geboren. Hat Ihre Herkunft Ihre Berufswahl beeinflusst?

Indirekt schon, da mein Vater im Krieg geblieben ist in den letzten Kriegswochen. Deswegen hat mich das Thema Krieg beschäftigt und interessiert. Vermutlich war das der Grund dafür, dass ich gleich nach dem Abitur nach Nordafrika gegangen bin, um den Rest des Algerienkrieges mitzubekommen. Das war der Anfang. Auch später haben mich immer Konflikte interessiert – aber nicht etwa, weil ich so „kriegerisch“ bin, sondern weil mich die Opfer interessiert haben, die meines Erachtens keine Stimme haben in solchen Konflikten.

Ist Ihr weiterer Berufsweg dadurch beeinflusst?

Natürlich. Als Nachkriegskinder, die wir aus dem Osten vertrieben worden waren, wurden wir gleich bei der Ankunft diskriminiert. Von den anderen Kindern als „Polacken“ beschimpft, spielte der Gedanke eine Rolle: Jetzt kommen die aus dem Osten daher und wollen zusätzlich von uns versorgt werden. Auch gab es das Problem, dass bei den Leuten, zu denen wir hofften, nach Berlin flüchten zu können, kein Platz mehr war. Das war, ohne dass ich es romantisiere, alles sehr abenteuerlich.

Ihre Mutter floh mit Ihnen und Ihren Brüdern aus Danzig. Fast wären Sie mit der Wilhelm Gustloff gefahren, bei deren Untergang Tausende Menschen umkamen – konnten dann aber noch mit einem Bus herauskommen. Wann wurde Ihnen klar, dass Sie großes Glück hatten, überlebt zu haben?

Ich würde sagen nach dem Abitur. Vorher hatte ich keine Ahnung, was das überhaupt bedeutete. Vom Lazarettschiff „Gustloff“ wurde mir erzählt, aber für mich hätte das jedes Schiff sein können. Erst später erfuhr ich, dass es ein Nazi war, nach dem das Schiff benannt worden war.

Dass wir das Glück hatten, mit dem Bus rauszukommen, war darauf zurückzuführen, dass mein Vater Leiter für den städtischen Transport innerhalb von Danzig war. Bevor er eingezogen wurde, hat er seine älteren Kollegen um Hilfe gebeten, mit dem Hinweis darauf, dass unsere Familie aufgrund des Namens „Miroschnikoff“ Probleme mit der Roten Armee haben würde.

Gibt das Wissen, so knapp überlebt zu haben, einen besonderen Antrieb?

Eher nein. Was vielleicht Antrieb war, waren Vorurteile, die mir später bewusst geworden sind: In der Schule saß ich neben einem Jungen, der vorher allein gesessen hatte, weil er jüdischer Abstammung war. In dem Alter wusste ich nicht was „jüdisch“ und was „Abstammung“ ist. Und ich bin gerne neben ihm gesessen, weil er ein guter Typ war, musste dann aber auf dem Schulhof hören: „Du sitzt neben dem Juden“. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich saß neben dem Wilhelm – das war die Hauptsache. Das spielte sich an einem Ort ab, in dem es einen jüdischen Friedhof gab und in dem es eine „Kristallnacht“ gegeben hatte. Wir Kinder wussten davon nichts; dieses Wissen kam erst viel später. Im Kartenzimmer meiner Schule fand ich mit zehn oder zwölf Jahren Hitlerbilder. Das war mein erster Berührungspunkt damit – ich hatte keine Ahnung, wer das war. Wir wurden nicht richtig darüber aufgeklärt. Das habe ich mir dann später natürlich zu eigen gemacht.

Als Berufsweg hätten Sie sich zunächst den des Bühnenbildners oder den des Journalisten vorstellen können…

Ich wollte schon mit 13 Jahren unbedingt Reporter werden. Aber in Hameln konnte man als Fünfzehnjähriger nicht so leicht zur Zeitung gehen. Im Theater durfte ich als Kulissenschieber mitarbeiten. Das hat mich interessiert, gezeichnet habe ich auch gerne. Aber dann ergab sich eine andere Chance: Wir hatten einen sehr progressiven Schuldirektor, der uns früh in Kontakt mit der Berufswelt bringen wollte. In Hameln gibt es die „Deister- und Weser-Zeitung“, eine Regionalzeitung: Der Kontakt wurde hergestellt und ich war schnell dabei.

Gibt es einen Höhepunkt in Ihrer journalistischen Karriere für Sie?

Nicht, dass es heißt, ich hätte vor allen Dingen Krisen und Kriege gemacht. Die habe ich gemacht, weil ich für das jeweilige Berichtsgebiet zuständig war. Lustig war etwas, das mit mir nicht in Verbindung gebracht wird: In London kam ich andauernd an Esoterikläden vorbei. Ich fand eine Times-Annonce, „Ausbildung zum Hexer“! Diese mittelalterlichen Gerichte und Zaubertränke waren langweilig, aber bei meiner Sitznachbarin lag ein Buch, „Maxine Sanders: Queen of Witches“. Und wo es eine Hexenkönigin gibt, muss es auch einen Hexenkönig geben. So traf ich die Sanders. Wir haben dann den ersten Exorzismus ins deutsche Fernsehen gebracht, bevor Hollywood es gemacht hat. Ein Reverend der anglikanischen Kirche, der jährlich über dreihundert Exorzismen in seiner Kirche in London praktiziert hat – das wollten wir uns nicht entgehen lassen!

Wir haben gezeigt, wie er eine Hausfrau von einem Dämon befreit und uns gefragt: Meint der das Ernst? Wir mussten feststellen: Er meinte es sehr ernst und hat keinen Widerspruch geduldet. Das war für ihn Berufung! Für mein Team habe ich zum Schluss als Geschenk eine Übernachtung in einem Londoner Hotel, „Bed, Breakfast and Ghost included“, gebucht. Mein Toningenieur lehnte ab, er hat geglaubt, da käme wirklich etwas auf ihn zu… aber ich höre auf, das  ist mein Lieblingsthema: mehr unterhaltende Information im Fernsehen.

Sie sind jetzt seit acht Jahren wieder in Hermannstadt. Wie wirkt die Stadt auf Sie?

Ohne Übertreibung: Ziemlich großstädtisch – ich fühle mich hier halb wie in Italien. Die vielen Plätze, die Terrassen. Die Atmosphäre hat sich sehr gewandelt. Wenn ich rausschaue, ist viel restauriert worden. Es ist urbaner geworden. Mein heißes Flehen wäre, dass die meisten deutschen Touristen erkennen, dass sie nicht unbedingt nach Triest oder nach Venedig fahren müssen.

Warum war Ihnen die differenzierte Berichterstattung über die deutsche Minderheit in Rumänien so wichtig?

Ich hatte Wirtschaft, Gesellschaft, Ost- und Südosteuropa als Poststudienfach und musste feststellen, dass die meisten bei uns keine Ahnung von diesen Themen hatten. Schlimmer noch: Sie haben sich nicht dafür interessiert. Dass es hier eine jahrhundertelange Siedlungsgeschichte gibt, die historisch eine wichtige Rolle spielt. Allein die wichtige Handelskette, die über die siebenbürgischen Städte gelaufen ist. Und die Unterscheidungen: Es gibt Siebenbürger Sachsen, Landler, usw. Hier gab es viele interessante Geschichten. Aber es war nicht einfach, diese Themen ins Abendprogramm der ARD zu bringen. Gelungen ist es uns dann, wenigstens in den dritten Programmen magazinartig Geschichten zu senden, die illustrierten, was sich abspielte.

Mit welchen Widerständen hatten Sie in Bezug auf Berichterstattung und journalistische Recherche in der kommunistischen Zeit in Rumänien zu kämpfen?

Der Widerstand war ehrlich gesagt weniger der Kommunismus, sondern das geringe Interesse in den Heimatredaktionen. Dabei hatten wir hier vor Ort ein sehr couragiertes Team. Die lokalen Mitarbeiter haben ständig Informationen gesammelt, mir jede Woche acht bis neun neue geliefert und Themen vorgeschlagen, anliegende Termine mitgeteilt und interessante Personen vorgestellt. Dass die Korrespondenten alles wissen, ist ein Fehlurteil. Wir Korrespondenten sind immer „Berichtstouristen“ gewesen, sind vorbeigekommen, haben eingesammelt, unsere Visage in den Bildschirm gehängt. Aber die eigentlichen Macher sind die örtlichen Mitarbeiter. Hauptaufgabe war immer, ihre umsetzbaren Vorschläge den Redaktionen schmackhaft zu machen.
Für die ARD-Programme „Weltspiegel“ und vor allem das „Europamagazin“, das an unseren Themen öfter mal Interesse hatte. Längere Hintergrundberichte aus Südosteuropa, von mir so geliebte Reportagen, waren höchstens in Krisen- und Kriegszeiten platzierbar. In Nachrichtensendungen nur, wenn Ceau{escu nach Bonn reiste oder Geld verlangte, wenn Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben auswandern wollten.

Was braucht jemand heute in Deutschland, um Länder in Ostmittel- und Südosteuropa besser wahrzunehmen?

Erstens ein Interesse über den Tellerrand hinaus. Und die Erkenntnis, dass es hier genauso zugeht wie bei uns. Diese Region war lange mit einem nachhaltigen Negativ-Vorurteil belegt: der kommunistische Osten, der chaotische Balkan. Der ferne, „exotische Osten“ war da leichter ins Programm zu hieven. Wenn’s malerisch-orientalisch war, ging das auch noch. Zudem wurde ja bei uns zwischen den Ostvölkern kaum unterschieden. Nur eine Minderheit kannte sich aus: Ein Schlesier? Was ist das? Jetzt ein Pole, ein Deutscher – oder beides?    Auch innerdeutsch gibt es die Problematik: Ich war oft in der DDR, nicht nur, weil ich dort Verwandte hatte, sondern weil das für mich immer selbstverständlich auch Deutschland war. Die Vorstellung, dass man freiwillig in den Osten gereist ist, statt nach Italien oder sonst wo hinzufahren, hat irritiert. Böse gesagt, die Wiedervereinigung hätte ohne die DDR nicht stattgefunden – die Bundesdeutschen hatten das eigentlich schon abgeschrieben. Wen hätten Sie früher, außer irgendwelchen Enthusiasten, freiwillig dazu gebracht nach Moskau zu reisen? Oder ins Baltikum? Diese Problematik haben wir bis heute. Es wäre gelogen, wenn man sagen würde, dass das alles längst Vergangenheit ist. Hätte ich mir auch gewünscht. Ist aber nicht so.

Wie sehen Sie die Berichterstattung über Rumänien heute?

Ich suche sie immer noch. In den letzten Jahren gab es einige Beispiele mit aktuellem Aufhänger, Klaus Johannis zum Beispiel, da musste berichtet werden. Leider gibt es keine neuen Studien. Ich habe vor Kurzem nachgesehen; selbst die Studie der Deutschen Welle zum Thema ist betagt. Es gibt genügend Leute, die sich auskennen, aber Interesse für mehr Hintergrundberichterstattung aus Ost- und Südosteuropa bei diesen Kollegen zu wecken, wäre wünschenswert.

Was sagen Sie Menschen, die von Ihnen prophetische Prognosen über die Entwicklungen in der Ukraine hören wollen?

Dass die sich im Adressaten geirrt haben, Propheten sind wir nicht. Was wir machen können und sollen, wenn wir Entwicklungen erkennen, ist, andeuten, was sich nach jetzigem Stand aus dem bisher Geschehenen ergeben könnte. Für mich war erkennbar, dass es auf einen gewalttätigen Konflikt hi-nausläuft. Wenn nicht nur Probeschussmunition, sondern Lastzüge heißer Munition und Versorgungseinheiten losgeschickt werden, hat das mit einem Manöver nichts mehr zu tun. Dann plant man einen ernsthaften Konflikt. Es ist zu teuer und zu umfangreich, was sich dort abgespielt hat. Mit der Aussage bin ich nicht der Einzige – die Geheimdienste in England und Amerika haben das sehr präzise vorausgesagt. Ich hätte mir gewünscht, etwas anderes zu erzählen, aber das war erkennbar.

In einem Zitat über Sie heißt es, Sie hätten bestimmte Situationen Ihres Berufslebens mit „Courage, Humor und Frechheit“ bestritten. Sind das auch Zutaten für guten Journalismus?
Courage ist nicht das richtige Wort. Treffender wäre: Wissensdurst. Wenn man sich fragt, wa-rum sich etwas entwickelt, was dahintersteckt. Aber Courage trifft es nicht. Jemand, der in bestimmten Zonen Angst hat, ist nicht gut platziert. Aber jemand, der übermütig ist, auch nicht. Humor, vor allen Dingen schwarzen Humor, habe ich tatsächlich.

Und die Frechheit?

Vor Ort haben sicher manche gedacht, dass wir frech sind. Die Grenze auszuloten, wie weit man gehen kann, ist schon amüsant. Die kann man nutzen. Dem Gegen-über den Eindruck zu vermitteln, dass man unbedingt auf seine Unterstützung oder ein Interview – so wie Sie jetzt – angewiesen ist, das gehört zur Branche dazu. Diesen Eindruck zu vermitteln, ist eine starke psychologische Hilfe.

Danke für das Gespräch!