Viele aus einem großzügig erweiterten Gemeinschaftsgefühl entsprungene Überlegungen

„Im Wald der Metropolen“ – Unzeitgemäße Aufzeichnungen des europäischen Fährtenlesers Karl-Markus Gauß

Das Geschick, aus mehreren Richtungen her ohne viel Aufhebens weitreichenden kulturgeschichtlichen Zusammenhängen auf den Straßen von Bukarest, im Niemandsland an der slowenisch-kroatischen Grenze, in Burgund, in Siebenbürgen, auf einer griechischen Insel, in Istanbul oder sonstwo mit offenen Augen und gespitztem Bleistift sinnvoll wie genussreich beizukommen: Der eine hat’s, der andere hat’s nicht. Aus „Reisen durchs eigene Zimmer und durch halb Europa, durch Bücher und Landschaften“, aus der eigenen „Lebensreise“ des Autors ging ein voller Neugier und Reflexionsfreude geschriebenes Werk transkontinentaler Standortbestimmung hervor, das allgemeinen Beifall erntete, gerade weil es u. a. zeigt, wie unmittelbar die Erscheinungsform „Bildung“ erlebt werden kann.

Reisereportage à la Gauß? Ein gelehrter Fährtenleser aus Salzburg, eine ritterliche Figur der schreibenden Zunft Österreichs, liest erst einmal gründlich, was immer auch in einschlägigen Büchern geschrieben steht, und macht sich dann auf nach einem nahen, fernen Europa, um die Dinge wieder zurück in die Namen zu jagen. 

Karl-Markus Gauß bedient sich einer Metapher mit ungestümer Lebendigkeit. Im Wald der Metropolen erweist sich, wie sehr die verschiedenen europäischen Kulturkreise ineinander gewachsen sind, wie sehr sie ein einziges, dynamisches Ganzes ausmachen, das auch mal auf „Wegstücken“ erkundet werden kann.

Es fällt schwer, das in emsiger Kleinarbeit entwickelte Feingefühl adäquat zu umschreiben, mit dem sich ein Gauß an die wie nebenbei erlegte Beute, an die wandelnden Mentalitäten und Kulturgüter seiner Metropolen heranpirscht: an das Freiwild seiner kuturjournalistisch souverän abgetretenen Europa-Karte jenseits der europäischen Zentrifuge des Moments. Im Wald der Metropolen ist „eine große Reiseerzählung“, „eine weit gespannte Reportage“, „eine Kulturgeschichte Europas“, „ein Bildungsroman“, „eine große autobiographische Erzählung“ (Schutzumschlag), „ein Teil der Gauß‘schen Vermessung Europas“ („Wiener Zeitung“); ein begrifflich kaum einzureihendes Werk – oder doch: „eine Reisereportage voller Poesie und Wissen“ („STERN“).

Der auf dem Schutzumschlag abgebildete Fußabdruck, der übrigens sofort auch ironisch gefärbte Assoziationen mit dem Walk of Fame aufwirft, greift nicht nach unten, sondern ragt empor, d. h. der Leser, den Gauß somit schon vor der Lektüre zum stillen, erwartungsvollen Betrachter seiner metropolitanischen Gewachsenheit werden lässt, befindet sich unterhalb des kollektiven Getrampels, der Geschichte, der mit Gauß‘ unverkennbarem Witz, mit seiner Weltoffenheit, mit seiner Schlagfertigkeit geschilderten Zusammenhänge europäischer Fährten. Man blickt aus der Tiefe der Straße empor auf das Zeitgeschehen, auf die Fragezeichen, auf das Ringen um Identität. Das Gesicht in der Tiefe der Straße aus Wolfgang Hermanns gleichnamigem Buch, hier wird’s Ereignis, würde einer fast mit klassischer Inbrunst sagen, ginge es darum, jetzt ein Gleichnis aufzustellen.

Alles Vergängliche wird in Gauß‘ Radiografie dieses konotationsreichen, europaweiten Fußabdrucks sozusagen mindestens bis auf Widerruf haltbar gemacht. In gewissem Sinne ist sein Bericht einer europäischen Kulturreise, den man an mancher Stelle ruhig als Berichtigung des gängigen Europa-Bilds lesen darf, aus Gauß‘ auch in Rumänien erschienenem Buch „Die sterbenden Europäer“ (Europeni care se sting, Humanitas, 2006, Übers. Larisa Cercel) hervorgegangen. „Im Wald der Geschichte“ lautet der Titel des zweiten Kapitels jenes im deutschen Sprachraum stark beachteten Werkes, das mit der im Kontext sonderlich produktiv anmutenden Sequenz „Und plötzlich“ beginnt: „Und plötzlich, im tiefen Wald, begriff ich, dass ich mitten im Dorf stand.(...) Der Dorfplatz ist durch zwei große Steine markiert, die noch zehn Zentimeter aus der Erde ragen und unter dem Flechtwerk zu erkennen sind.“ („Die sterbenden Europäer“: „Im Wald der Geschichte – In der Gottschee“)
„Im Wald der Metropolen“ versinnbildlicht das Prinzip der Aneignung von Geschichte, von Identität, von Zukunft, und zeigt den öffentlichen Werdegang, den privaten Weg eines Autors, der aus der Tiefe städtischer Konstrukte und Lebensweisen selbst angesichts der Unwirtlichkeit im Dickicht mancher Metropole noch Mehrwert im weitesten Sinne schafft und immer wieder auch ein Spracherlebnis zeitigt. 

Karl-Markus Gauß kommt wo her. Aus Salzburg natürlich, wo es ihn – am Fuße des Mönchsbergs – treibt, den Nerv der Zeit zu treffen. Aber er kommt auch von den Donauschwaben, aus dem Ineinandergreifen der Sprachen, der kulturgeschichtlichen Auffassungen; und aus dichtem Gewächs zahlloser Überlieferungen und Biografien. Seine Geschichte beginnt früher, als man auf Anhieb meinen würde. Er weist den Weg, er legt ihn frei. Sein Wegweisen ist ein Buchstabieren, sein Reisen ein Erfragen, sein Schreiben ein Aufbrechen nach Europa, nachdem einen Europa, seinem imaginären Europa, dem er dank seiner hinreißenden Dichtkunst und der peinlichst betriebenen Recherchen mehr Wirklichkeit einhaucht – und ein Ausweg aus der dumpfen Befangenheit reflektionsfauler Gemeinplätze. Was aus dem Gaußschen Wald der Metropolen herausragt, sind dreizehn Kapitel, die überall hinführen, wo die europäische Vergangenheit in die Zukunft will.

„Lost in Bucuresti“. So beginnt das siebte Kapitel, in dem es vom Boulevard Mihail Kogãlniceanu (und der Ehrung des Staatsmannes und dessen humanistischen Einstellung) über Tudor Arghezi, Rosetti, Rosenthal und Margul-Sperber zum Humanitas Verlag geht, der sich herzlich wenig um seinen Autor kümmert, weswegen Gauß nun in seiner monumentalen Reportage satirisch mit ihm, dem Humanitas Verlag, abrechnet.

Gauß besucht im Rahmen seines auf eigene Faust interkulturell betriebenen Fährtenlesens das Arghezi-Museum, Casa Mãrtisor, wo er die Bekanntschaft von Mi]ura Arghezi macht, die im Gespräch mit dem Österreicher ihre politische Zugehörigkeit wohl kaum erwähnt. Wenige Seiten später lässt sich Gauß freilich über die rechtsradikale Partei Großrumänien aus, für die sich die Tochter des Mãrtisor-Dichters bekanntlich „engagiert“ hat und die sie acht Jahre lang als Abgeordnete im Rumänischen Parlament vertrat. Auch hier greift des Fährtenlesers scharfer Blick durch die Oberfläche der Dinge. 

Unermüdet misst Gauß den Puls früherer Zeiten, den Puls der Gegenwart, wo immer die Herzen seines Kontinents schlagen – stets in der Mitte Europas, stets am Rande des Bildes, das man sich so vom Zeitgeschehen macht, soweit das Einfühlungsvermögen des heutigen Bürgers reicht, der ja kein Bildungsbürger mehr ist. „Viele imaginäre und wirkliche Reisen“ stecken hinter diesem Buch. Viele aus einem großzügig erweiterten Gemeinschaftsgefühl entsprungene Überlegungen, Erkundungen, Bekenntnisse. Solche Überschriften wie „Soliman, der ausgestopfte Aufklärer“, „Eine Fährte, die falsch, aber schön ist“, „Die Erfindung Jugoslawiens in Wien/Landstraße“ oder „Der Coiffeur Brahym und die Erfindung des Belgischen“ dienen der Orientierung des kulturlüsternen Lesers im organisch definierten Konglomerat der Städte, und das heißt bei Karl-Markus Gauß mitunter: der Verwirrung. Was jedenfalls immer auch dazu gehört, Fußstapfen, Straßennamen, verschollene Autoren und den Widerhall ihrer Worte in bedeutungsvollem Kontext zu erörtern.
 

Karl-Markus Gauß: „Im Wald der Metropolen“. Zsolnay, Wien 2010, 304 Seiten