„Weil man über die frühe Geschichte der Rumänen allgemein wenig weiß“

Ein Gespräch mit Akademie-Mitglied Paul Niedermaier, Jahrgang 1937

Foto: George Dumitriu

Ob Qualität vor Quantität geht? „Ja, so sollte es sein!“, bestätigt Dr. Paul Niedermaier, studierter Architekt, wissenschaftlicher Forscher mit Leib und Seele, Träger bedeutender Preise und seit Herbst 2018 auch Vollmitglied der Rumänischen Akademie. Direktor an ihrem 1956 gegründeten Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften in Hermannstadt/Sibiu ist er zwar nicht mehr, jedoch zufrieden, das Amt 2019 Dr. Rudolf Gräf übergeben zu haben. Seit 1971 geht Dr. Niedermaier fast täglich im einzigen Hermannstädter Tochterinstitut der Rumänischen Akademie ein und aus. Rechnerisch also ist er zum 52. Jahr in Folge und beruflich schon mehr als zwei Drittel seines Lebens dort zuhause. „Etwa fünf Jahre Arbeit“ bedeutet jedes einzelne der Bücher, die er geschrieben hat. Zu noch einem Buch von ihm wird es „wahrscheinlich nicht mehr“ kommen, sagt Dr. Paul Niedermaier. Vom Forschen und Veröffentlichen dagegen lässt er sich weiter gerne gefangenhalten, und für wissenschaftliche Studien in Eigenregie über ein bestimmtes Thema reicht es allemal. Heute vor genau zwei Wochen hat Dr. Paul Niedermaier Fragen zu seinem Studienort Bukarest, seiner wissenschaftlichen Laufbahn und aktuellen Interessen beantwortet. Die Antworten aufgezeichnet hat Klaus Philippi.

Herr Niedermaier, in Ihrer Biografie fällt auf, dass Sie Bukarest statistisch 1955 als Student kennengelernt und 1975 mit Doktor-Diplom in der Tasche verlassen haben. Zwei Jahrzehnte in einer polarisierenden Stadt und Metropole – wie haben Sie damals als junger Erwachsener die zeitlich fortschreitenden Veränderungen im Hauptstadt-Bild registriert und ein Bukarest erleben gelernt, das einen waschechten Siebenbürger ernsthaft auf die Probe stellen konnte?


Student in Bukarest war ich bis 1961, und die Eingewöhnung fiel mir anfangs recht schwer. Ich war an eine bewegte Landschaft mit Gebirge gewöhnt. Die Stadt selbst fand ich nicht sehr angenehm, besonders die lauten Straßenbahnen und ihre Bremsgeräusche in den Stationen haben mich gestört. Das tatsächliche Zurechtfinden dafür war kein Problem; man hatte ja nur im Zentrum zu tun und gelangte kaum in Randbezirke. Mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Und als ich in Bukarest studierte, geschahen relativ wenige  Veränderungen – es entstanden nur etwa die „Piața Palatului“ und einige Einzelbauten. Einschneidendere Veränderungen setzten erst nach 1970 ein. Bukarest habe ich auch nach meinem Diplomprojekt 1961 einige Male erlebt, doch jeweils nur kurze Zeit, für Prüfungen, Vorträge und Ähnliches.

„Bleibe gleich dort und komme nicht mehr zurück, wenn du den Zugang schaffst“, hatte mir meine Mutter 1955 gesagt, weil wir in einer materiell schlechten Situation steckten. Trotzdem bin ich für die eine Woche zwischen Aufnahmeprüfung und Semesterbeginn nach Hause gekommen. Auch später zu allen Ferienzeiten und überhaupt bei jeder sich bietenden Gelegenheit bin ich immer weg aus Bukarest gefahren. Meist reiste ich zusammen mit Ex-Kommilitone Hermann Fabini. Das eigentlich Allerschönste an Bukarest war ein Spaziergang von Chitila nach Mogoșoaia durch viel Wald an einem Fluss mit ganz klarem Wasser. Im Oktober einmal sprangen wir hinein, und das kalte Wasser fühlte sich an wie tausend Nadelstiche. Mogoșoaia war ein Erlebnis, sozusagen die Essenz vom schönen und guten Bukarest. Während sechs Jahren Studium in Bukarest hatte ich mich weitgehend an die Stadt gewöhnt und empfand es nicht mehr als „Strafe“, dort zu sein. In der Provinz allerdings war und ist es viel angenehmer. Auch heute fahre ich nicht gerne nach Bukarest. Glückliherweise kann ich an Generalversammlungen der Rumänischen Akademie auch online teilnehmen.

In Keisd/Saschiz, wo Ihnen beim Siebenbürger Sachsen-Treffen Ende September die Honterus-Medaille verliehen wurde, haben Sie zum Dank referierend auch Ihre Entscheidung zum Eintritt in die Kommunistische Partei Mitte der 1960er-Jahre erwähnt. Ihre  Rede aus Keisd ist ungekürzt in der ADZ veröffentlicht worden. Was erzählt man Menschen, die den Kommunismus nicht erlebt haben oder sich nicht an ihn erinnern können, vom Leben unter kommunistischer Politik?

Anfangs nach dem Zweiten Weltkrieg wartete man noch da-rauf, dass „die Amerikaner kommen“ und einen befreien. Für die USA wäre das ein Risiko gewesen, nachdem sie sich mit Stalin über die Machtverteilung in jedem Land Europas geeinigt hatten. Auf dem Papier mag alles in Prozenten festgelegt worden sein; die Vereinbarungen waren aber so allgemein, dass es für die russischen Machthaber einfach war, den Ostteil Mitteleuropas, den Ostblock, zu 100 Prozent unter ihren Einfluss zu bringen. Nachdem das geschehen war, trennte der „Eiserne Vorhang“ als feste Grenze bald den „kapitalistischen“ vom „sozialistischen“ Machtblock. Es kam zum „Kalten Krieg“, und der Versuch, die Grenze zu verschieben, hätte zu einem Dritten Weltkrieg führen können, was niemand riskieren wollte. Die Machtverhältnisse änderten sich erst mit dem wirtschaftlich progressiven Niedergang im Ostblock. Nur allmählich, wie sie bei der Entstehung des „Eisernen Vorhangs“ neu aufgekommen waren, verloren sie nach seiner Beseitigung eben auch wieder Schritt für Schritt ihre alte Geltung. Wo es im Westen jahrzehntelang demokratische Verhältnisse und eine freie Marktwirtschaft gab, hatte man es im Osten mit autoritär gelenkter und alles bestimmender Staatswirtschaft, Ideologie und Politik zu tun.

Zwischen der DDR und unserer Situation in Rumänien gab es jedoch wesentliche Unterschiede. Während innerhalb Deutschlands der ideologisch-politische Gegensatz und Machtkampf zwischen Ost und West das bestimmende Element war, trat dieser Gegensatz bei uns in Rumänien in den Hintergrund und das nationale Element bekam Bedeutung: Die Auswanderung führte allmählich zur Veränderung der Gemeinschaft, zu ihrer Auflösung in der althergebrachten Form.

Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder war man bereit, Heimat und Gemeinschaft mit allem Drum und Dran aufzugeben und zu versuchen, irgendwie in den Westen zu gelangen, oder man wollte auf die Heimat, Gemeinschaft und Kultur nicht verzichten und stellte sich mit dem Bemühen, möglichst geringe Kompromisse zu machen, den neuen Verhältnissen. Dabei musste man aber alle Unzulänglichkeiten eines gelenkten Lebens in Kauf nehmen. Auf eine solche Herausforderung bezog sich im Konzept meiner Dankrede in Keisd das Gedicht von Wolfgang Borchert.

Was ist für Sie, der ein Leben lang wissenschaftlich geforscht hat und es noch immer tut, das Wichtige an der Vollmitgliedschaft in der Rumänischen Akademie?

Sie ist nicht nur wegen ihres Statuts, sondern auch real das höchste kulturelle Forum des Landes, und eine Teilnahme daran ist wichtig, wenn wir zu diesem Land gehören wollen. Unsere siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft ist durch Ehrenmitglieder wie etwa den Historiker Friedrich Teutsch, den Kunstgeschichtler Viktor Roth oder den Sprachwissenschaftler Gustav Kisch in der Rumänischen Akademie vertreten gewesen, und post mortem hat auch Hermann Oberth ihre Ehrenmitgliedschaft erhalten. Es handelt sich stets um eine Wertschätzung persönlicher Leistung. Vollmitglieder gibt es nur wenige, etwa 70. Die Zahl der korrespondierenden Mitglieder beträgt etwa 150, zahlenmäßig nicht so streng gebunden ist die Vergabe von Ehrenmitgliedschaften. Wahlen finden immer intern und geheim ohne Einschaltung auswärtiger Institutionen statt und sind lebenslänglich gültig. Wird ein Platz in einer der 14 Sektionen durch den Tod eines Mitgliedes vakant, schlägt diese der Generalversammlung vor, wer als neues Mitglied gewählt werden könnte. Geht es um die Wahl korrespondierender und Ehrenmitglieder, sind alle in der Generalversammlung anwesenden Mitglieder zur Stimmabgabe berechtigt, während Vollmitglieder ausschließlich von Vollmitgliedern gewählt werden können. 

Nach welchen Kriterien bestimmen Sie das Thema einer neuen Forschung, wenn mehr als nur eine Möglichkeit zur Wahl steht, aber nicht alles wissenschaftlich untersucht werden kann?

Als ich 1967 mein Promotionsstudium aufnahm, wollte ich fürs Erste mehr über das Spezifische der siebenbürgisch-sächsischen Stadtbilder herausfinden, merkte jedoch, dass das nur auf einer historischen Grundlage geht. Diese Grundlage fehlte bei uns in Rumänien genauso wie auch international. So wurde ich auf den historischen Faktor aufmerksam, der mit allgemeiner Siedlungs-Geschichte zu tun hat. Wie ist es zum Beispiel dazu gekommen, dass der Große Ring/Piața Mare Hermannstadts nicht viereckig ist, sondern Ausbuchtungen zur Reispergasse/Avram Iancu und dem Alten Rathaus hat?

Mein Doktorvater wollte mich zur Beschäftigung mit dem Barock überreden, doch das Thema lag mir nicht. Ich sagte ihm, über die mittelalterlichen Marktplätze Siebenbürgens schreiben zu wollen. Er war damit einverstanden und überhaupt ein sehr umgänglicher Mann, der mit sich reden ließ. Ich kam letztlich zur Einsicht, dass ich die Entwicklung von Plätzen wie dem Großen Ring nur dann fundiert erklären kann, wenn ich die Städte im Allgemeinen untersuche.

In meiner Dissertation hatte ich drei Städte detailliert beschrieben: Mediasch, Broos/Orăștie und Mühlbach/Sebeș. Beim Dacia-Verlag in Klausenburg/Cluj-Napoca, wo ich die Herausgabe der Dissertation auf Rumänisch auszuhandeln versuchte, wurde mir abgewunken und geraten, mich mit mehr Städten zu beschäftigen. Das ging natürlich nicht sofort. Aber ich habe meine Dissertation zunächst auf Deutsch übersetzt und im Kriterion Verlag Bukarest sowie im Kölner/Wiener Böhlau Verlag veröffentlicht.

War für das Herausgeben im Böhlau Verlag die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei eher ein Hindernis oder von Vorteil?

Die hat gar keine Rolle gespielt. Zumal ich die Veröffentlichung im Böhlau Verlag nicht selber betrieben habe. Hedwig „Hedi“ Hauser, Redakteurin des Kriterion Verlags für Bücher in deutscher Sprache, verhandelte mit dem Heidelberger Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde, der den Band auch gerne druckte. Nachher habe ich mich tatsächlich mit einer größeren Anzahl von Städten beschäftigt, was mir vom Dacia-Verlag empfohlen worden war und ich vorerst noch gar nicht einsehen wollte. Es verschaffte mir jedoch einen viel breiteren Überblick.

Woran arbeiten Sie aktuell wissenschaftlich?

An einer Studie über rumänische Siedlungskammern im Gebirge. Weil man über die frühe Geschichte der Rumänen allgemein sehr wenig weiß, habe ich stets versucht, Doktoranden zum Forschen über Rumänen zu motivieren, aber sie sind immer ausgewichen, weil es viel bequemer ist, sich mit den Sachsen zu befassen, im Falle derer es viel mehr Anhaltspunkte gibt.

Ein Beispiel für eine solche Siedlungskammer ist ganz in der Nähe von Hermannstadt die Mărginimea Sibiului oder in der Region Kronstadt die Törzburger Hochfläche bei Bran und Fundata. Die Törzburg ist erst 1370 gebaut worden, doch 1211 beim Abtreten der Verwaltungsrechte über das Burzenland/}ara Bârsei an den Deutschen Ritterorden wurde ihm die Gegend um Törzburg nicht übergeben. Gerade weil dort bereits Rumänen waren und die Grenze gegen die „Kumanen“ auf der anderen Seite der Karpaten verteidigten. Die lebten als asiatisches Reitervolk in der Walachei, die heute „}ara Românească“ genannt wird und damals „Kumanien“ hieß. Sie waren sehr kriegerisch, man musste zusehen, wie man sich vor ihnen schützt. Im Osten des Burzenlandes lebten und leben noch heute die Tschangos, dann kam westwärts die vom Deutschen Ritterorden verteidigte Region, dann das Törzburger Gebiet, und dann der östliche Teil des Fogarascher Gebirges, der nicht eigens verteidigt werden musste, weil südlich davon tief eingeschnitten das Dâmbovița-Tal eine natürliche Festung bildete. Später kam das südlich vom Alt liegende Fogarascher Land hinzu, das unter Oberhoheit der Petschenegen gestanden hatte, bevor sie von den sich dort einschaltenden Kumanen abgelöst wurden, die es ihrerseits an die Bulgaren verloren. Im Fogarascher Land selbst lebten Rumänen. Und so geht es westwärts immer weiter.

Leider ist historiografisch bisher kaum berücksichtigt worden, dass die Bevölkerungen erst im Laufe der Zeit enorm angewachsen sind. Auch die sächsischen Dörfer bestanden ursprünglich aus nur etwa zwölf Höfen. Bei den Rumänen genauso. Die Besiedlung in früher Zeit war sehr schütter. Stattdessen haben die Geschichtsschreibungen etabliert, dass alles von Anfang an stark besiedelt gewesen wäre, was nicht stimmt und einem Dogma gleichkommt. Meine Forschung, die es auf ihre eigene Art entkräftet, ist vor zwei Monaten veröffentlicht worden.