Wenn das Zuhause kein sicherer Ort ist

Häusliche Gewalt ist ein gesellschaftliches, kein individuelles Problem

Eine Demonstration gegen Gewalt gegen Frauen 2020 in Bukarest Foto: privat

Am 14. Oktober 2020 wurde, drei Jahre nach dessen Einbringen ins Parlament, ein Gesetzentwurf angenommen, der mehr sozial als juristisch ein Zeichen setzt: Diese Änderung der Rechtsgrundlage ermöglicht es der Polizei seither, bei häuslicher Gewalt auch dann ein Ermittlungsverfahren zu eröffnen, wenn das Opfer seine Klage zurückzieht – aus welchen Gründen auch immer. Angesichts stetig steigender Fallzahlen häuslicher Gewalt in den letzten Jahren ist das zwar nicht die erste Verschärfung, aber in der Strafverfolgung für den Opferschutz von enormer Relevanz.

Anlaufstelle „Casa Ioana“

Kristina Kristoff weiß, wie toxisch Gewalt ausgerechnet an dem Ort ist, der ein sicherer Rückzugsraum sein sollte. Die Sozialarbeiterin und Doktorandin arbeitet bei „Casa Ioana“, einer Bukarester Einrichtung für obdachlose Familien sowie Frauen und Kinder, die häuslicher Gewalt ausgesetzt waren. Sie begleitet Frauen und Familien aus dem ganzen Land, die sich dazu entschieden haben, sich ein neues Leben aufzubauen, und war gern bereit, in einem Online-Gespräch von ihren Erfahrungen zu berichten.

Den Weg zu „Casa Ioana“ finden die Frauen laut ihr über Informationsstellen, Internetrecherche oder auch durch Vermittlung seitens anderer Organisationen oder der Polizei, die Zusammenarbeit spielt eine große Rolle. Außerdem ist eine Beratungs-Hotline Tag und Nacht besetzt. In der sicheren Bleibe, in der Betroffene bis zu einem Jahr bleiben können, stehen in dieser Zeit einige Dinge an: Hat der Täter die persönlichen Daten, müssen sich die Frauen unter Umständen eine neue Telefonnummer zulegen, eine Wohnung finden und teilweise auch die Arbeitsstelle wechseln oder einen Job finden, sich also eine neue Existenz aufbauen. „Viele denken, es sei die emotionale Abhängigkeit, die Menschen, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind, dazu bringt, wieder zurückzukehren“, sagt Kristina Kristoff. „Oft aber sind es schlichtweg finanzielle Gründe, weshalb die monetäre Unabhängigkeit der Frauen eine große Rolle spielt.“

Stigmatisierung trotz alarmierender Zahlen

Immer noch gibt es viel Unwissen darüber, was überhaupt unter häuslicher Gewalt verstanden wird. Sie umfasst nicht nur physische und sexualisierte, sondern auch psychische Gewalt, finanziellen und emotionalen Missbrauch sowie den Ausschluss von sozialer und kultureller Teilhabe.

Konkret können das beispielsweise Demütigungen, Vernachlässigung oder Bedrohung sein. Für Betroffene ist es oft schwer, das Thema offen anzugehen, sich Hilfe zu holen und Anzeige zu erstatten, weil immer noch viele Vorurteile die Täter statt die Opfer schützen. Beispielweise wird zum Teil den Opfern eine Mitschuld an der Gewalt unterstellt, Übergriffe unter Alkohol- oder Drogeneinfluss werden relativiert oder Missbrauch zu Hause oder in der Partnerschaft als Problem bestimmter Milieus dargestellt. Schamgefühle; der Gedanke, wegen der Kinder käme eine Trennung nicht infrage; Versöhnung mit dem Täter oder auch Druck und Unverständnis für die Situation aus der eigenen Familie sind mögliche Folgen für die Betroffenen.

Ein weiterer Grund, warum viele Opfer vor einer Trennung absehen, ist Selbstschutz: Schließlich ist diese Trennungsphase für Frauen in Gewaltbeziehungen die gefährlichste. 2008 urteilte jedoch der Bundesgerichtshof in Deutschland, dass es sich bei sogenannten „Trennungsmorden“ lediglich um Totschlag handle: Die „niedrigen Beweggründe“, die den Mord vom Totschlag unterscheiden, lägen nicht vor, wenn „die Trennung von dem Tatopfer ausgeht und der Angeklagte durch die Tat sich dessen beraubt, was er eigentlich nicht verlieren will“. Das Gericht legitimiert also den Besitzanspruch, auf dem häusliche Gewalt basiert. Und Statistiken zeigen, wie alarmierend verbreitet diese ist: Seit dem Jahr 2012 gibt es in Rumänien bei Gewalttaten die Möglichkeit der richterlichen Schutzanordnung („ordin de protec]ie“), bei deren Ausstellung sich der Täter dem Opfer nicht mehr nähern darf. Für fünf Tage kann eine solche Verfügung auch provisorisch von der Polizei ausgestellt werden.  Allein 2019 wurden fast 8000 solcher Schutzanordnungen erteilt. Mehr als zwei Drittel der Übergriffe passierten im häuslichen Umfeld.

Rumänien ist dabei kein Einzelfall: Umfragen der EU zufolge erlebt jede fünfte Frau in der EU im Laufe ihres Lebens Gewalt innerhalb der Partnerschaft. In Deutschland versucht jeden Tag ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten, und an jedem dritten Tag gelingt dies. Die Dunkelziffer ist schwer zu schätzen, dürfte aber hier und generell bei häuslicher Gewalt wegen deren Tabuisierung und Stigmatisierung deutlich höher liegen – auch bei Männern und Kindern.

Ein gesamt-gesellschaftliches Problem

Das Wichtige ist, zu erkennen, dass es sich bei Gewalt im häuslichen Umfeld keineswegs um ein privates, sondern um ein gesellschaftliches Problem handelt. Die EU schrieb 2019 zu dem Thema: „Gewalt gegen Frauen geht auf die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern innerhalb der Gesellschaft zurück. (…) Bestimmte Faktoren erhöhen die Verletzlichkeit von Frauen, etwa ihre wirtschaftliche Abhängigkeit.“ Weitere Vulnerabilitätsfaktoren, wie etwa Migration, Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder eine Behinderung, erhöhen das Risiko von Gewalterfahrungen zusätzlich. Das zeigt eine klare Korrelation zwischen sozialen Machtverhältnissen, Rollenverteilung und Missbrauch.
Gerade ein Paradigmenwechsel auf diesem Gebiet stellt einen wesentlichen Punkt dar im Kampf gegen häusliche Gewalt. In Rumänien sei dieser Schritt aber aus historischen Gründen besonders schwer, meint auch Kristina Kristoff.

„Während des Ceaușescu-Regimes war das Zuhause ein privater Ort, nichts sollte nach außen dringen, und es wurde auch nicht nachgefragt. Das sorgt bis heute dafür, dass Betroffene denken, häusliche Gewalt sei etwas, das familienintern zu regeln sei, und das Schweigen zu brechen sei illoyal.“ Dabei ist der familiäre Rückhalt der Betroffenen ungemein wichtig, wenn es darum geht, der Gewaltspirale zu entkommen. Die Unterstützung erhöht die Chancen, einen Neustart zu wagen und auch zu schaffen. Umgekehrt zeigt sich auch: Kinder, die physischen oder psychischen Missbrauch in der Familie erleben, haben ein höheres Risiko, später selbst Täter oder Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Umso wichtiger ist es, frühzeitig zu reagieren und den Teufelskreis zu durchbrechen.

Dass das Thema häusliche Gewalt während des Kommunismus überhaupt nicht thematisiert wurde, lässt erahnen, wie schwer es bis heute ist, dagegen anzugehen. Erst in den Neunzigern wurde häusliche Gewalt überhaupt als Problem anerkannt und Gewalt gegen Familienangehörige in den Straftatbestand aufgenommen. Gewalt gegen Familienangehörige war bis dahin legal, Vergewaltigung in der Ehe wurde erst im Jahr 2000 als solche anerkannt und ein Straftatbestand. Gerade im ländlichen Raum zeigt sich die jahrzehntelange Vernachlässigung sozialer Belange: Es fehlt neben Finanzmitteln auch an funktionierenden sozialen Institutionen. Damit ist Betroffenen außerhalb der Stadt Hilfe nicht unbedingt niedrigschwellig zugänglich, was momentan auch in anderen Bereichen wie dem Zugang zu Bildung sichtbar wird.

Mehr Fälle während des Lockdowns

Gerade während der Pandemie war und ist es gravierend, wenn in einer ohnehin schwierigen Lage auch noch die Hürden höher sind, Unterstützung zu bekommen.

Bereits in den Statistiken der Bukarester Polizei bis September des vergangenen Jahres lässt sich ablesen, dass die Fälle häuslicher Gewalt stark gestiegen sind: In den ersten sieben Monaten wurden in Rumänien 4856 vorläufige Schutzanordnungen ausgestellt – das sind 694 Fälle pro Monat, in denen die Polizei eingeschaltet wurde. Eine Tendenz, die in Corona-Zeiten überall auf der Welt zu beobachten ist. Auch in Deutschland beispielweise kamen mehr Betroffene in Frauenhäuser. Allerdings berichten dort Hilfseinrichtungen, telefonische Beratungsangebote seien deutlich weniger in Anspruch genommen worden, was auf die besorgniserregende Tendenz hinweisen könnte, dass nur noch in unerträglichen Situationen Hilfe aufgesucht wird.

Bei der kostenlosen Hotline von „Casa Ioana“ in Bukarest dagegen hätte das Telefon fast ununterbrochen geklingelt, erzählt Kristina Kristoff. Wohl auch, weil die Behörden überfordert waren, was ein strukturelles Problem zu sein scheint: Einmal, so Kristoff, hätte ein Polizist beispielsweise gar nicht gewusst, dass die Polizei auch ohne richterlichen Beschluss eine vorläufige Schutzanordnung ausstellen darf. Ein Beispiel, das zeigt, wie häusliche Gewalt auch von Behörden ins Private gedrängt wird.

In der Unterkunft von „Casa Ioana“ müssen während der Pandemie zum Teil alternative und kreative Lösungen gefunden werden, um das Risiko einer Quarantäne, die Angestellten unter Umständen den Job kosten könnte, zu verhindern. Zudem sieht sich die ausschließlich durch Spenden finanzierte Einrichtung – wie so viele soziale Projekte – enormen finanziellen Schwierigkeiten gegenübergestellt

„Wir helfen den Frauen, auf eigenen Beinen zu stehen“

Schon ohne zusätzlich erschwerende Umstände ist der Kampf gegen Übergriffe im häuslichen Rahmen eine Herausforderung. Um die Gewaltspirale zu durchbrechen, damit sie sich eben nicht reproduziert, gibt es für die Bewohnerinnen in „Casa Ioana“ zahlreiche Workshops, wie „parenting“ sowie „soft skill workshops“ oder Angebote zu „financial“. „Wir durchbrechen den Teufelskreis der Gewalt, der sich sonst über Generationen fortsetzt. Unser Ziel ist es, den Frauen zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen.“ Gleichzeitig muss sich aber auch etwas in der Gesellschaft ändern. Doch Vorurteile, Rollenklischees und Machtstrukturen abzubauen ist ein langwieriger Prozess, der in Rumänien noch gar nicht so lange im Gange ist.

Ob die Gesetzesänderung tatsächlich zu einer höheren Rate an Verurteilungen führt, die Polizei mehr Ermittlungsverfahren eröffnet oder gar die Fälle häuslicher Gewalt zurückgehen, ist fraglich – vor allem, weil die betroffenen Personen trotz eventuell zurückgezogener Klage als Zeuginnen oder Zeugen im Prozess aussagen müssen. Aber die Gesetzesänderung schützt Opfer insofern, als die Beilegung des Konflikts der Beteiligten oder das Drängen, das Opfer solle die Klage zurückziehen, nicht mehr vor einem Strafverfahren schützt. Der Staat hat nun die Möglichkeit, das Problem anzugehen und sollte dies auch nutzen. Gleichzeitig bedeutet die neue Rechtsgrundlage die Sichtbarmachung der Opfer und der Gewalt, ganz gleich, welche juristischen Folgen dies für die Täter hat.

Auch Kristina Kristoff sieht trotz der enormen Herausforderungen positive Entwicklungen in den letzten Jahren. Durch die sozialen Netzwerke sei die Vernetzung und Kontaktaufnahme zu anderen Betroffenen sowie professioneller Hilfe leichter zugänglich. Vor allem aber lasse sich eine Enttabuisierung innerhalb der Familie bemerken – und das sei entscheidend. Aber: „Wenn die Opfer das Schweigen brechen, dann tun sie das oft nicht laut, sondern leise“ – und es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dann zuzuhören und Betroffene in ihrem Handeln zu unterstützen.


Mehr als jede fünfte Frau in der EU erlebt Umfragen zufolge Gewalt in der Partnerschaft. Das Risiko steigt, wenn weitere Vulnerabilitätsfaktoren hinzukommen.
In Rumänien wurden im Jahr 2019 7986 Schutzanordnungen ausgestellt – mehr als 16 pro Tag.
76 Prozent der Übergriffe passierten im häuslichen Umfeld und in 96 Prozent der Fälle war der Täter männlich.
Während des Lockdowns im März 2020 hat sich die Zahl der Anrufe bei der Beratungs-Hotline verdoppelt.
Allein in Bukarest wurden in den ersten sieben Monaten 2020 über 8000 vorläufige Schutzanordnungen erteilt.