Wenn Schrift in Bildern spricht

Erste internationale Kalligrafie-Ausstellung im Kulturinstitut

„Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit“ – ein Fragment aus Adolf Meschendörfers Gedicht „Siebenbürgische Elegie“, interpretiert von den Schülern der Brukenthalschule

Buchstaben lösen sich wie Herbstblätter aus dem Baum auf dem Hügel, dessen schwungvolle Silhouette aus einem Bogen Papier gerissen wurde. „Zarte Worte gleiten durch eine Welt, wie Blätter, von einer Brise verweht“, lautet die Botschaft darunter auf Polnisch. Dann ein Krokus mit Knolle, dessen längliche Blätter sich mit altgriechischen Lettern zur Schrift verschlingen… Von derselben Künstlerin ein buntes Insekt, gerahmt mit einem Gedicht von Anakreon, der Zikaden-Mythologie, in drei Schriftreihen… Dass man schreibend visuelle Eindrücke kreiert, ist nichts wirklich Neues. Doch wenn Buchstaben und Worte dabei selbst in Bildern sprechen, ist das hohe Kunst: Kalligrafie.
Im Gebäude des Rumänischen Kulturinstituts (ICR) in Bukarest prangten vom 24. bis 30. Oktober die schönsten Werke renommierter Kalligrafen aus 23 Ländern und fünf Kontinenten an den Wänden im großen Saal. Es wurde dort die erste Ausgabe der „ExpoCaligrafia International 2019“ eröffnet. Das Thema: Biodiversität und die Verbindung zwischen Mensch und Natur in der digitalen Ära – in einer Zeit, in der das mechanische Tippen die Schönheit der Handschrift abgelöst hat. Ihre Interpretationen hierzu gaben über 35 Künstler und Liebhaber der Kalligrafie in ihrer jeweiligen Muttersprache wieder. Herzstück der Ausstellung: ein weltweit einzigartiges Werk von Königin Elisabeth I. von Rumänien (1886-1892) alias Carmen Sylva – die Kopie eines Ausschnitts des 44-seitigen Evangeliums zur Auferstehung Christi, mit silbernen und goldenen Lettern kunstvoll auf Pergament platziert, umgeben von hauchzarten Blüten. Das Original befindet sich im Klostermuseum von Curtea de Argeș. Zu Herzen gehend: Ein Fragment aus der „Siebenbürgischen Elegie“ von Adolf Meschendörfer, „Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit“. Kalligrafisch interpretiert wurde das Gedicht von den Schülern des Nationalkollegs „Samuel von Brukenthal“ in Hermannstadt/Sibiu mit stilisierten Blumen, Zeitpfeilen und Wasserstrudeln in den Farben der Siebenbürger Sachsen, rot und blau.

Neben den Werken internationaler Künstler wurden auch die Gewinner des dritten nationalen Kalligrafiewettbewerbs 2019 gezeigt, veranstaltet vom Verein Liber la Educație, Cultură și Sport in Zusammenarbeit mit dem rumänischen Kulturministerium, dem Nationalen Naturkundemuseum „Grigore Antipa“, dem ICR und der Nationalen Kunstuniversität Bukarest vom 1. September bis zum 20. Oktober. Die Teilnehmer aus Rumänien wurden in den Alterskategorien Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren von internationalen Kalligrafen und Kunstkritikern bewertet.

Die Kunst der Schönschrift spielte in der Vergangenheit vor allem in Kulturen eine Rolle, in denen das Abschreiben heiliger Texte selbst als sakraler Vorgang galt. Im Christentum traditionell beim Kopieren von Bibeltexten verwendet, kommt ihr im Islam wegen des Bilderverbots noch heute eine besondere Bedeutung als dekoratives Element zu. Für die chinesische und japanische Schriftkultur ist Kalligrafie ebenfalls bis heute wichtig. Kalligrafen berufen sich zudem auf den meditativen Charakter des Schönschreibens. Als Kriterien bei der künstlerischen Bewertung gelten ästhetische Ausgewogenheit und eine emotionelle Botschaft. 
„Zarte Worte gleiten durch eine Welt, wie Blätter, von einer Brise verweht“ – was wollte die polnische Künstlerin damit sagen? In der Bildunterschrift verrät sie es: Wir sollen nur gute Worte in die Welt hi-nausschicken – so wie schöne Blätter, die Herbstbäume verlieren.