Wenn Untätigkeit zum Himmel stinkt

Umwelt-NGOs reden Klartext über die Luftverschmutzung in Bukarest

Vier Jahre könnten die Einwohner Bukarests im Schnitt länger leben, wenn die für 2010 festgelegten Luftwerte nicht überschritten würden, so eine Studie der Nationalen Instituts für Öffentliche Gesundheit (INSP), durchgeführt zwischen 2010 und 2017. Ein Bericht des Rumänischen Rechnungshofs von 2018 stellt fest: Die Bürger der Hauptstadt könnten fast zwei Lebensjahre gewinnen, wenn allein die Grenzwerte für PM2,5-Feinstaubpartikel eingehalten würden. Rumänien liegt auf Platz 8 in der EU, was Tote pro Einwohner wegen Umweltverschmutzung betrifft. Über 20.000 Menschen sterben deswegen jährlich. Die Schäden durch Luftverschmutzung belaufen sich auf nationalem Niveau auf 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Dies sind nur einige der Zahlen, mit denen Umwelt-NGOs aufzurütteln versuchen.

Auf der Online-Diskussion zum Thema „Krise der Luftverschmutzung in Bukarest: Ursachen, Akteure, Lösungen“, zu der die NGOs „Ține de Noi“, die Hanns Seidel Stiftung und „Terra Millennium III“ am 23. Juni einluden, wurden schallende Ohrfeigen verteilt: für Mängel in der Messung von Luftwerten, für wachsende Müllberge und unzureichendes Recycling, schlechte Umweltkonzepte, inkohärente Politik, nicht abgerufene EU-Gelder und 33 Vertragsverletzungsverfahren seitens der EU zum Thema Luftverschmutzung und Müllbeseitigung.

Über dringend anstehende Probleme wie die Auflösung des Verkehrsstaus, die Ökologisierung des öffentlichen Transports, Messung und Überwachung von Industrieemissionen, die Modernisierung der Wärmeversorgung und des Müllmanagements einschließlich Recycling will „Ține de Noi“ mithilfe von Experten bis Ende September ein öffentliches Dokument mit Empfehlungen erstellen. Auf der Konferenz ging es um die Fragen: Wie lässt sich das Ausmaß der Luftverschmutzung beziffern? Was sind ihre Folgen? Wo liegen die Ursachen? Und: Wer muss für die festgestellten Mängel die Backe hinhalten?

Zu viele Zuständige

Ganze zehn Ministerien teilen sich die Zuständigkeit für Luftqualität mit den Kreisräten, Rathäusern und Lokalräten. Hauptverantwortliche in Bukarest sind das Umweltministerium (Koordination, Gesetzgebung) mit der Umweltgarde (Inspektion, Kontrolle) und der Nationalen Agentur für Umweltschutz (Reglementierung, Überwachung), sowie das Bukarester Rathaus (Erarbeitung von Strategien). Das Problem: Wo sich zu viele Zuständige tummeln, kann sich der einzelne leicht wegducken.

Das Ausmaß des Problems wurde erst kürzlich vom Gerichtshof der Europäischen Union bestätigt: Im Mai dieses Jahres stellte dieser fest, Rumänien habe seit 2007 systematisch die Grenzwerte verletzt. Weitere Vertragsverletzungen betreffen das Fehlen eines nationalen Programms zur Kontrolle von Luftverschmutzung sowie zur Müllbeseitigung. Dabei verpflichtet das rumänische Gesetz eine ganze Reihe von lokalen und zentralen Behörden seit 2011 zur Überwachung der Luftwerte. Diese schieben sich die Schuld der Unterlassung gegenseitig zu. Ein jüngeres Gesetz von 2018, das den Rahmen für ein nationales Kontrollprogramm böte, wurde bislang nicht umgesetzt.

Inzwischen hat die Stadt Bukarest 2018 einen integrierten Plan zur Verbesserung der Luftqualität (PICA) lanciert, der jedoch von den NGOs als lückenhaft, unklar und schwer quantifizierbar kritisiert wird. Zudem baue er auf einer veralteten Studie von 2013 auf. Ohnehin hapert es mit der Umsetzung. Von den 20 Maßnahmen wurden sechs noch nicht einmal begonnen: die Modernisierung der Heizzentralen, die Einführung eines Radweg-Netzes und öffentlicher Verkehrsmittel mit Fahrrad-Transport, die Ausdehnung der Grünflächen, die Verflüssigung des Verkehrs und der vermehrte Einsatz von Elektrofahrzeugen im öffentlichen Transport.

Zwar haben auf Druck der Zivilgesellschaft, alarmiert von den Messwerten der NGOs, Behörden gegen Umweltsünder zu ermitteln begonnen. Doch wird die Schuld meist einzelnen Verursachern oder einmaligen Unfällen zugeschrieben. Ein überzeugender Ansatz zur Lösung sei nicht in Sicht, klagen die NGOs.

Dicke Luft in Bukarest

Bukarest gehört zu den Städten mit den höchsten Schadstoffwerten in der EU. Offiziellen Angaben zufolge hat sich die Luftverschmutzung zwar gebessert: Die PM2.5-Werte liegen seit 2017 im Jahresmittel unter dem EU-Limit, erklärt Matei Alexianu, Wirtschaftsanalyst von „Ține de Noi“. Doch die Tageswerte schwanken sehr stark und überschreiten dann oft die Grenzwerte. Ein Viertel aller Tage sind die Feinstaubwerte erhöht, oft um 25 Prozent.

Was die Belastung mit Stickoxiden betrifft, liegt Bukarest allerdings 50 Prozent über dem Grenzwert der EU und belegt nach London den zweiten Platz in der EU-Städteliste. Stickoxide werden zu 78 Prozent vom Verkehr freigesetzt. Dieser produziert auch 90 Prozent der CO-Emissionen, 48 Prozent der Feinstaub-Partikel vom Typ PM10 und 46 Prozent vom Typ PM2,5. Für die Belastung mit Schwefeldioxid ist hauptsächlich die Industrie verantwortlich (67 Prozent), während Heizen und Kochen die Bukarester Luft mit 45 Prozent PM2,5-Feinstaub, 39 Prozent PM10-Feinstaub und 20 Prozent Schwefeldioxid belastet. Toxine, CO2 und Feinstoffe setzt auch die legale und illegale Müllverbrennung frei. Zum Ausmaß liegen keine Zahlen vor.

Die Folgen der Umweltgifte: Feinstaub aus dem Gummiabrieb von Reifen, dem Metallabrieb von Motor und Bremsen, aus Abgasen und Straßenstaub dringt, wenn die Partikel kleiner als 10 Mikrometer sind, direkt bis in die Alveolen der Lunge vor. Er führt dort zu Entzündungen und Vergiftungen bis hin zum Krebs, informiert Lavinia Andrei (Terra Mileniul III). Geruchlose Stickoxide (NO, NO2) bilden Smog und sauren Regen, verursachen den Glashauseffekt und belasten das Wasser. Im Körper greifen sie das Lungengewebe an, besonders anfällig sind Kinder. Benzen (C6H6) stammt ebenfalls hauptsächlich aus dem Straßenverkehr, als Klasse-A1-Gift ist es krebserregend und greift das Zentralnervensystem an. Weitere Toxine sind Kohlenmonoxid (CO), Ozon (O3), Schwefeldioxid (SO2), Kohlenwasserstoffe und Blei.

Umweltgifte verursachen nicht nur Atemwegserkrankungen (Ozon, Feinstaub, NO2, SO2), Lungenkrankheiten und -krebs (Feinstaub), sondern auch Herz-Kreislauf-Krankheiten (O3, Feinstaub, SO2) und Gehirnschlag (PM2,5). Alexianu zitiert eine Studie von Ecopolis aus dem Jahr 2011: Rund 800 Erwachsene und 230 Neugeborene in Bukarest könnten noch leben, wenn zwischen 2004 und 2009 die PM10-Werte eingehalten worden wären. Einer Studie des INSP zufolge könnte die Einhaltung der für 2010 festgelegten Luftwerte das Leben der Einwohner Bukarests um vier Jahre verlängern. Der Rumänische Rechnungshof kommt auf 22 lebensverlängernde Monate, wenn allein die PM2.5 Werte eingehalten würden.

Lavinia Andrei zitiert Forscher des University London College, die Daten aus 16 Ländern analysierten und einen Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Depressionen entdeckten. Hauptverursacher: Feinstaub-Partikel vom Typ PM2,5. Die Studie, veröffentlicht in „Health Perspectives“, zeigt eine Korrelation zwischen der Konzentration der Partikel und der Anzahl der Selbstmorde. Am höchsten war das Selbstmordrisiko, wenn an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Werte erhöht waren.

Wer nicht misst, hat auch kein Problem...

Die Gefahr erkennt freilich nur, wer auch misst. 16 Millionen Euro hätte das Umweltministerium für Aufbau und Modernisierung von Messstationen von der EU abrufen können. Doch seit 2016 ist nichts geschehen, beklagt Oana Neneciu von Ecopolis. Seit zehn Jahren führt diese im Rahmen des Projekts Aerlive.ro Messungen in Bukarest durch – und schlägt Alarm. Zum Beispiel im April, als Verkehr und industrielle Aktivitäten wegen der Pandemie auf einem Minimum funktionierten und trotzdem die Feinstaubwerte mehrmals drastisch überschritten wurden, dies vor allem nachts! „Bis heute wird in Ilfov massiv illegal Müll verbrannt, doch es passiert nichts“, erklärt Neneciu. „Die Messstationen der Behörden sind nicht gewartet und messen Unsinn.“

Ionuț Purică (Asociația Română de Energie și Economie) ergänzt: Es genüge nicht, über Ausmaß und Auswirkung Bescheid zu wissen, man bräuchte spezielle Fonds zur Behebung der Schäden, die Gesundheit und Metallkorrosion betreffen, und zwar in Höhe von 2,3 Prozent des BIP. Dafür müssten Mittel vom Staat bereitgestellt werden. Außerdem müssten Unternehmen gefördert werden, die einen aktiven Beitrag zur Reduzierung der Luftverschmutzung leisten können.

Keine Alternative zu Rostlauben

Das unterentwickelte öffentliche Transportwesen und der Mangel an Radwegen trägt außerdem dazu bei, dass Bukarester vor allem das Auto nutzen. Seit der Beseitigung der Umweltsteuer ist die Anzahl der Gebrauchtwagen stark gestiegen, die der Diesel-Fahrzeuge sogar um 50 Prozent, informiert Otilia Nuțu (www.expertforum.ro). Beigetragen hat dazu die Eliminierung der Diesel-Fahrzeuge aus Westeuropa, die besonders günstig zu haben waren. Der Bukarester Fuhrpark ist mit einem Durchschnittsalter von 12 Jahren stark überaltert. Bei Neufahrzeugen kommt eine Tendenz zu stärkeren Motoren hinzu. Vor der Aufhebung der Umweltsteuer, 2016, lag die Anzahl der Neufahrzeuge bei ca. 100.000, die der Gebrauchtwagen bei 296.539; im Folgejahr 2017 blieb erstere Zahl gleich, zweitere stieg auf 518.927. Im letzten Jahr gab es rund 150.000 Neuwagen und 409.000 Gebrauchtfahrzeuge. Weder lokal noch auf nationaler Ebene fand eine kohärente Besteuerung von umweltbelastenden Autos statt, kritisiert Nuțu. Das Programm Rabla habe nichts gebracht als „eine Verschwendung von 750 Millionen Euro in 15 Jahren.“

Wenn Müll zum Himmel stinkt

Nuțu beklagt auch die ungenutzten EU-Fonds für Luftverschmutzung und Müllentsorgung. Allein 33 Vertragsverletzungsverfahren von 108 gegen Rumänien eingeleiteten betreffen diese beiden Punkte. 2007 bis 2013 seien weniger als 60 Prozent der verfügbaren Mittel abgerufen worden, 2014 bis 2020 nur knappe 30 Prozent. Die Rate der Ablagerung auf Müllhalden sei um 70 Prozent gestiegen. Im Recycling belegt Rumänien den letzten Platz in der EU. Im EU-Mittel werden 144 Kilogramm Müll pro Einwohner und Jahr recycelt, hierzulande nur 20 Kilogramm. Statt der geplanten 50 Prozent beträgt die Recycling-Rate nur schlappe 14 Prozent.

Kontrovers betrachten die NGO-Vertreter die für Bukarest vorgesehene Verbrennungsanlage. Oriana Irimie („Zero Waste“) hofft, dass diese nie gebaut wird. In den „Waste to Energy“-Installationen würden Berge von Müll direkt in Luftverschmutzung verwandelt. „Solche Installationen sind nie sauber!“

Ein Lichtblick in Sicht?

Răzvan Orășanu stellt an dieser Stelle den Erfinder Iuliean Horneț (EcoHorneț) vor, dessen verifizierte und patentierte Technologie auf einem Verfahren zum kompletten und rückstandslosen Recycling von festen und flüssigen Abfällen beruht (Anm. Red.: Pyrolyse und Verbrennung bei über 1250 Grad Celsius). Aus jeder Art von brennbarem Abfall – Hausmüll, Klärschlamm, Biomüll, Plastik, Altkleider und Autoreifen – können alle Wärmeflüsse, Strom, Biogas und Bio-Diesel schadstoffarm erzeugt werden. Man könnte damit die Müllhalden Rumäniens in saubere Wärme, sauberen Treibstoff und sauberen Strom verwandeln. „Meine Emissionen sind die für 2050 angestrebten und die Effizienz beträgt 96 Prozent“, erklärt Horneț. Orășanu provoziert: „In all den Jahren haben Sie versucht, diese technischen Lösungen auf großer Ebene umzusetzen. Was sind die Hindernisse?“

Bukarest müsste den Müll pelletisieren und man scheue die Kosten dafür, erklärt Horneț. Dabei amortisiere sich die Investition in 2,5 Jahren. Seine letzte Erfindung, die im Januar patentierte Pyrolyse-Anlage, liefert einen Bonus obendrauf: Bei Verarbeitung von reinem Biomüll liefert sie als Abfallprodukt Pflanzenkohle, eine Substanz, die CO2 aus der Luft bindet und, als Dünger auf den Feldern verteilt, aktiv dem Klimawandel entgegenwirkt.

Rund 700 Installationen aus der Palette der 70 umweltfreundlichen Geräte, die EcoHornet produziert, laufen bereits in Rumänien. Auch Wohnblocks und Häuserviertel lassen sich mit Biomasse-Pellets kostengünstig und umweltfreundlich heizen. Zuletzt hatte EcoHornet ein Viertel in Buzău, das vom staatlichen Betreiber abgekoppelt wurde, mit ökologischen Zentralen für Heizung und Warmwasser ausgestattet. „Die etwa 1200 Einwohner sind wahrscheinlich die am besten versorgten in der Stadt“, sagt Horneț.

Hoffnung auch für Bukarest? Der Plan, den der Organisator der Konferenz Ende September zur Diskussion stellen will, wird hoffentlich einige schlafende Hunde wecken...