Zesti

Foto: George Dumitriu

Dass völlig überflüssige Probleme, die zu den gewohnten, alltäglichen hinzukommen, auch große Freude bereiten können, zeigt uns immer wieder -Zesti! Ihr Leben verdankt sie einem spontanen Anflug von Fleiß im späten Juni. Mein Mann wollte mähen, also machten wir uns am Abend nach der Arbeit auf, er mit der Sense, ich mit dem Korb zum Kräutersammeln. Als wir so durchs hohe Gras streiften, prallten wir auf einmal gegen einen festen, schwarzen Buckel. Wer hat denn da schon wieder was weggeschmissen? Ein alter Fußball etwa?
Nein, das Ding bewegte sich – eine Wasserschildkröte! Mit dem Hinterteil steckte sie in einer Erdspalte, und weil der Boden gar so trocken war, ruderte sie verzweifelt mit ihren Beinen im harten Grund. Die Arme, nun hatten wir sie bei der Eiablage gestört! Ein kräftiger Pipi-Strahl ergoss sich über die staubige Erde. Hatte sie sich erschreckt, oder wollte sie nur den Boden aufweichen? Begeistert über den faszinierenden Mitbewohner ließen wir sie erstmal in Ruhe.
Eine halbe Stunde später dann die Überraschung: Die Schildkröte war weg, doch im Gras verstreut lagen fünf längliche, weiße Eier! Nun war guter Rat teuer. Ab ins Erdloch damit – oder lieber mitnehmen? Mit einem Blick auf die lauernden Krähen entschieden wir uns für letzteres.

Zuhause wurde dann eine eckige Vase mit Sand und Thermometer bestückt und in die Sonne gestellt. „Brutzeit je nach Art zwischen 30 und 60 Tagen. Bei 25 bis 28 Grad Celsius werden es Jungs, bei höheren Temperaturen Mädels“, las ich meinem Mann aus dem Internet vor. Mal sehen, was wir  zustande bringen würden.
Wir hofften...
Doch auch nach 30, 40, 50, 60 Tagen immer noch kein Ergebnis. Wir fuhren in den Urlaub, kamen spät in der Nacht zurück, und einer Eingebung folgend, warf er kurz vorm Schlafengehen noch einen Blick in die Vase. Ein kleiner, schwarzer Buckel lag leblos in der Ecke... „Ooooch! Nun ist das Kleine während unserer Abwesenheit gestorben“, wandte sich mein Mann mit Tränen in den Augen ab. Ich nahm das vertrocknete Etwas in die Hand – und auf einmal begann es zu strampeln!

Die Nacht war gelaufen, von Müdigkeit keine Spur mehr. Hektisch bereiteten wir dem Tierchen ein Wasserbad und öffneten eine Dose geräucherte Sprotten, die es jedoch verschmähte. Na, vielleicht lieber ein Insekt? Eine Fruchtfliege? Pürierte Motte? Gehacktes Grillenbein? Das Insektenangebot des Hauses erschöpfte sich langsam.
Auge in Auge – das Schildkrötlein auf meiner Hand – betrachteten wir uns gegenseitig. Sein winziges Gesichtchen konnte man nur mit der Brille erkennen. Kaum größer als ein Käfer, doch wenn es umkippte, blieb es nicht hilflos am Rücken liegen, sondern drehte sich - schwupps - behende um! Von der ersten Minute an konnte es schwimmen, an der Wasseroberfläche schweben, oder sich mit seinen mikroskopischen Krällchen an der Tonscherbe festhalten, die nun als Insel aus seinem Waschschüssel-Zuhause aufragt. Neben drei Hunden, einer Katze und vier Hühnern haben wir nun also auch eine Wasserschildkröte. Eine Sorge mehr! Füttern, Sand und Wasser wechseln, für die passende Temperatur sorgen... Und wo soll das Kerlchen überwintern? Das Wissen des Internets war bald erschöpft.

Zesti ist mittlerweile zwei Monate alt und ihr Panzer so groß wie ein Dessertlöffel. Wenn wir abends nach Hause kommen, taucht ihr kleiner gelbgepunkteter Kopf sofort unter der Scherbe auf und guckt neugierig über den Schüsselrand. Dann stehen wir mit einem breiten Grinsen Hand in Hand vor dem selbsterbrüteten Familienmitglied – und der Alltag ist vergessen! Ja, selbst die überaus pragmatische Schwiegermutter hat das kleine Wesen liebgewonnen. Und dies, obwohl Zesti keine Eier legt, keine Milch gibt, keine Mäuse fängt, keine Einbrecher verbellt – und man sie nicht einmal essen kann!