Zwischen theatralischen Szenen und essayistischen Passagen

Premiere am Bukarester Nationaltheater: Juan Mayorgas „Der Junge in der letzten Schulbank“

Rareş Florian Stoica als Schüler Claudio und Diana Dumbravă
Foto: TNB

Das 2006 entstandene Schauspiel „El chico de la última fila“ (Der Junge in der letzten Schulbank) des spanischen Dramatikers und Philosophen Juan Mayorga feierte in der Übersetzung von Luminiţa Voina-Răuţ vor Kurzem seine Premiere im Bukarester Nationaltheater. Das Sechspersonenstück des 1965 in Madrid geborenen Autors, dessen zahlreiche Dramen in vielen Ländern der Welt gespielt werden und in eine große Anzahl von Sprachen übersetzt worden sind, kam in der Inszenierung des Regisseurs Theodor Cristian Popescu, der für seine Aufführungen zeitgenössischer dramatischer Werke rumänischer und internationaler Provenienz bekannt ist, auf die Bühne des Amphitheater-Saales.

Juan Mayorga, der unter anderem auch in Münster und Berlin studierte, über Walter Benjamin promoviert hat und als Übersetzer von Dramen Lessings, Dürrenmatts und Büchners hervorgetreten ist, lässt auch in seinem Werk „Der Junge in der letzten Schulbank“ Einflüsse deutscher Kultur spürbar werden: Engelbilder von Paul Klee sind Gegenstand des dramatischen Dialogs ebenso wie Fragen der Philosophie Kants.

Die Dramenhandlung wird ausschließlich von zwei Ehepaaren und zwei Schülern getragen. Der Lehrer Germán unterrichtet den siebzehnjährigen Claudio, den Schüler in der letzten Bank, sowie dessen gleichaltrigen Freund Rafa im Fach Literatur. Das Schauspiel wird eröffnet mit einer Unterhaltung zwischen Germán und seiner Frau Juana, einer Galeristin für zeitgenössische Kunst, über die katastrophalen Schüleraufsätze, die er immer zu korrigieren hat.

Germán beklagt dabei weniger grammatische oder stilistische Fehler als die in den Aufsätzen spürbare Leere des Daseins, den Ennui, das Fehlen von Lebensinhalten und den Kulturverfall. Bald wird jedoch deutlich, dass es sich dabei eher um Probleme des Lehrers als solche seiner Schüler handelt.
Eine Ausnahme und Abwechslung bildet dabei der Aufsatz Claudios, der unmittelbar Germáns Interesse weckt. Bei der Beschreibung der Mutter seines Schulfreundes Rafa gebraucht er so frühreife und ungewöhnliche Formulierungen wie „der unverwechselbare Geruch einer Frau aus der bürgerlichen Mittelklasse“ oder Sätze wie „die Farbe ihrer Augen war auf die ihres Sofas abgestimmt“. Außerdem beendet Claudio seinen Schulaufsatz mit den Worten „Fortsetzung folgt“.

In der Tat kommt es im Verlauf des Dramas zu einer langen Folge von Fortsetzungen jener Geschichte, die für Claudio einerseits Wirklichkeit ist, andererseits aber auch ein Experimentierfeld für sein vom Lehrer zu formendes literarisches Talent. Für Germán wird der sich über die gesamte Dramenhandlung erstreckende Fortsetzungsroman jedoch zugleich zum Substitut für sein eigenes ungelebtes Leben, zur Serie seiner seelischen Projektionen, zur Telenovela seiner voyeuristischen Sehnsüchte.

In die dramatische Rahmenhandlung, den Dialog zwischen Germán und Juana über das Leben und Schreiben Claudios, sind weitere Handlungsfäden eingewoben, die das Bühnengeschehen vorantreiben: die Konkurrenzsituation der beiden Schüler, die sich gegenseitig Nachhilfe in Mathematik und Philosophie geben; der Versuch Claudios, sich an Rafas Mutter Ester heranzumachen, der er mit dem poetischen Satz „nicht einmal der Regen tanzt barfuß“ einen Kuss abgewinnt; das berufliche Scheitern von Rafas Vater, der am Ende das Auto seines Geschäftspartners vor Wut im Geiste anzündet; die Beziehung zwischen Rafas Eltern, die sich nichts zu sagen haben und ihr persönliches Glück in der veräußerlichten Welt bürgerlicher Statussymbole suchen.

Auch die Beziehung zwischen Germán und Juana gerät im Verlauf des Dramas auf den Prüfstand, meist vermittelt über Gedanken zur Literaturgeschichte, Germáns Domäne, und zur Kunst der Moderne, Juanas Domäne.

Überhaupt ist das ganze Schauspiel befrachtet bis überfrachtet mit Reflexionen zu Literatur, Philosophie, Kunst und Kultur, die im Stil gebildeter Plaudereien und gelehrter Causerien vor sich hinplätschern, ohne sich je dramatisch zu ballen. Nicht selten hangelt sich die Handlung des Schauspiels von Pointe zu Bonmot, von Aphorismus zu Sentenz. Eine Kostprobe: „Was hat uns das 20. Jahrhundert gebracht? Zwei Weltkriege und die Bücher von James Joyce!“

Die zu Beginn des Theaterstücks belebend wirkende Spannung zwischen dramatischem und epischem Genre, zwischen theatralischen Szenen und essayistischen Passagen, zwischen Handlung und Reflexion erschöpft sich jedoch, nachdem man die dramatische Formel des Stücks einmal erkannt und goutiert hat, in dessen weiterem Verlauf immer mehr, sodass das Werk mit einer Dauer von über zwei Stunden (ohne Pause) insgesamt zu lang gerät. Der Zuschauer sieht sich dabei in derselben Statik gefangen, die auch das Leben der beiden Ehepaare bestimmt und aus der letztlich kein Ausweg möglich scheint.

Regie und Bühnenbild (Liliana Cenean, Ştefan Caragiu) versuchen dabei, dieser epischen Statik entgegenzuwirken, indem sie die Schauspieler in offenen Räumen agieren lassen und die Wände, angedeutet durch hohe Stahlgestelle, in alle Richtungen permeabel machen. Das rote Sofa, das die Bühnenmitte dominiert, wird zum geheimen Zentrum des Dramas: als therapeutische Couch, als Ort der Verführung, als bürgerliches Konversationsmöbel, als Sitzgelegenheit vor dem Fernseher, als Platz für Lektüre und als Raum für intime Aussprache.

Ebenso sorgen Musik (Vlaicu Golcea) und Lichteffekte (Ionel Docan) für Abwechslung und Belebung, sodass man dem sich in keiner Weise andeutenden Ende des Stücks mit Gelassenheit entgegensieht. Schließlich wird sogar noch dieses Ende, bevor es dramatisch eintritt, einer epischen Reflexion unterworfen: Das Ende muss so sein, dass es für den Leser beziehungsweise Zuschauer einerseits unerwartet ist und dieser dennoch kein anderes Ende für denkbar hält. Erst dann wird der Schluss in Gestalt einer schallenden Ohrfeige Wirklichkeit.

Von den Schauspielern überzeugen vor allem Claudio (Rareş Florian Stoica), dem Auftritte von starker Authentizität, und Rafas Vater (Dan Tudor), dem etliche humoristische Momente gelingen. Dagegen nimmt man den beiden Frauen ihre Rollen weniger ab.

Bei Rafas Mutter Ester fügen sich Midlife Crisis, Wiederaufnahme des Jurastudiums, Interesse an der Ausstattung des bürgerlichen Heims und Hingabe an den jungen Claudio nicht zu einem schlüssigen Rollenkonzept, und auch Juanas Rolle als Galeristin für zeitgenössische Kunst steht in merkwürdigem Gegensatz zu ihren bürgerlichen Moralvorstellungen und ihrem schwarzen Flamencokleid, mit dem sie unbeirrt durch Wohnung und Galerie tanzt. Mihai Călin gibt gediegen und kultiviert den Literaturlehrer und Lebensvoyeur, ohne zu begeistern und mitzureißen. Das stünde aber wohl auch im Gegensatz zur abgeklärten und distanziert operierenden literarisch-philosophischen Technik des essayistischen Dramatikers Juan Mayorga.