Eurothalia Perspektiven 2023

Am Ziel Foto: Susanne Hassler-Smith

SIDY THAL Foto: Gabriel Amza

Unter dem Motto „Perspektiven“  fand vom 20. bis zum 30. September die neunte Auflage des seit 2009 bestehenden Europäischen Theaterfestivals EUROTHALIA des Temeswarer Staatstheaters statt. Das Festivalpublikum erfreute sich an den von Andrea Wolfer und Rudolf Herbert selektierten Theateraufführungen, Tanztheater, Dokumentar- und Puppentheater, Theater mit Multimedia- und Animatronik-Darbietungen aus Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Lettland, Mazedonien, Österreich, Spanien und Rumänien. Im Begleitprogramm: Fotoausstellungen, Filmprojektionen, szenische Lesungen, outdoor Performances, Theaterworkshops, Ausbildungprogramme für Theaterkritik und Kreatives Schreiben. Das Ziel des Festivals: neue Perspektiven für die Rezeption unterschiedlicher theatralischer Inhalte und Formen anzubieten, die mit innovativen Methoden universelle Themen erörtern. Darunter die Suche nach der Wahrheit, die Identität des Selbst und seine Beziehung zur Gesellschaft und Geschichte, die Beziehung des Menschen zur Natur und zu den Maschinen bzw. zu den neuen Technologien, die Gegenwart und die Zukunft. Elf Tage, elf Theatervorstellungen, verschiedene Perspektiven. Ein Querschnitt hebt die unterschiedlichen Aspekte des Theaterfestivals hervor.

Bei der Eröffnung des Kulturevents wünschte der Temeswarer Bürgermeister Dominic Fritz dem Festival, das sich in der kulturellen Landschaft der Stadt als eine konstante und innovative Präsenz etabliert hat, Erfolg, insbesondere da im Jahr 2023 Temeswar zum Mittelpunkt der besten kreativen Energien Europas geworden ist. Lucian Vărșăndan, der Intendant des Deutschen Staatstheaters Temeswar, verlas anstelle einer Festrede das Protestschreiben der Theaterleute aus Rumänien, die mit dem Vorschlag der Regierung, die Ausgaben der Kultureinrichtungen zu kürzen, einschließlich der angeblichen Fusion einiger dieser Einrichtungen mit weniger Mitarbeitern, nicht einverstanden sind.

Zum Auftakt bot Agrupación Señor Serrano aus Spanien mit der Performance „Der Berg,eine Mischform zwischen Theaterund innovativer Technologie. Vor den Augen der Zuschauer verwandelt sich die Bühne in ein Spielfeld, wobei auf mehreren Ebenen ein Konglomerat von Geschichtenentsteht, verbunden durch die Rekonstruktion der ersten Expedition zum Mount Everest, auf der Suche nach der Wahrheit. Laut Programmheft werden die Zuschauer zum Nachdenken angeregt: „Es gibt ein Bild, das sich durch die Geschichte der Ideen zieht: Man besteigt einen Berg, überwindet alle Schwierigkeiten, um den Gipfel zu erreichen. Dort angekommen, sieht man die Welt, genau so «wie sie ist». Man sieht angeblich die Wahrheit und nicht nur Schatten oder Spiegelungen. Aber ist das wirklich so? “ Die Antwort findet jeder nach dem Erleben der Vorstellung für sich allein.

Rimini Protokoll nimmt erneut am Eurothalia Theaterfestival teil, diesmal mit einem provozierenden Thema – Konfrontation der Zuschauer mit einem humanoiden Doppelgänger des Stückeschreibers Thomas Melle, derin Zusammenarbeit mit Stefan Kaegidie Performance „Unheimliches Tal“, eineProduktion der Münchner Kammerspiele, präsentiert. Andrea Wolfer äußert sich dazu: „Rimini Protokoll hinterfragt die Anwesenheit oder Möglichkeit von Robotern auf der Bühne.  Denn dieser Gedanke und das Bild dieses Gedankens ist ziemlich beängstigend, wie auch der Titel der Show Uncanny Valley ist eigentlich wie der Begriff, der von japanischen Robotik-Forschern verwendet wird und bedeutet die unheimliche Ähnlichkeit zwischen Original und Kopie, zwischen Mensch und Technologie.

Schauplatz und entsprechender Raum ist die Innerstädtische Synagoge für die szenische Lesung aus dem sich im Entstehen befindenden dramatischen Text „SIDY THAL. a schtikl“ von Thomas Perle, der sich damit als Stadtschreiber der Europäischen Kulturhauptstadt Temeswar verabschiedete; eine Zusammenarbeit des Deutschen Kulturforums östliches Europa mit der Moses-Mendelssohn-Stiftung Berlin, der Jüdischen Gemeinde Temeswar, dem Deutschen Konsulat Temeswar, dem Demokratischen Forum der Deutschen im Banat und dem Projektzentrum der Stadt Temeswar.Der junge Dramatiker Thomas Perle,Nestroy Preisträger dieses Jahres für das beste Stück, karpatenflecken, das 2022 das Theaterfestival Eurothaliaals Produktion des Deutschen Theaters Berlin eröffnete, recherchierte für sein neuestes Stück die Umstände des antisemitischen Attentats, das sich am 26. November 1938 im Temeswarer Theater ereignete. Im November dieses Jahres wird das Dokumentattheaterstück, eine mehrsprachige Produktion in Zusammenarbeit mit dem Jüdischen Staatstheater Bukarest, seine Uraufführung am Deutschen Staatstheater Temeswar in der Regie von Clemens Bechtel erfahren.

Der erfolgreiche belgische Choreograph Wim Vandekeybus erforscht in der Tanzperformance„Spuren“ mit den Mitgliedern seiner Tanzkompanie Ultima Vez die „innere Geschichte“, die sich jenseits der Sprache entfaltet und in den Impulsen von Tanz und Musik erzählt werden kann. Eine äußerst dynamische Vorstellung, die durch akrobatische Höchstleistung der Darsteller das Drama der Impulse und der Instinkte zum Ausdruck brachte.

Ein Highlight des Festivals stellte die Anwesenheit des Wiener Burgtheaters mit Thomas Bernhards Theaterstück „Am Ziel“ dar. Es handelt sich um die Geschichte einer Familie, deren Schicksal in Form des monopolisierenden Monologs der Mutter erzählt wird, was ihr Sicherheit und zugleich Macht gibt, alles zu kontrollieren. Wortkomik und Ironie begleiten die minimalistisch gehaltene Handlung, die nach und nach tragikomische Züge annimmt. Wieder fällt auf, dass Bernhard mit Röntgenblick und grotesk-komischer Raserei eines seiner zentralen Themen variiert: den Selbsthass seiner Protagonisten auf ein Leben, das sie als aussichtslose Falle empfinden. Die Darstellung der „monströsen Mutter“ durch den österreichischen Dramatiker erhält durch die virtuose Darstellung der Schauspielerin Dörte Lyssewski eine tiefgründige Dimension.Die Inszenierung des jungen Regisseurs Matthias Rippert, der mit seinen Regievorschlägen an verschiedenen Theatern in Deutschland und bei den Mülheimer Theatertagen präsent war, zeichnet sich in der Inszenierung des Burgtheaters durch ihren Minimalismus aus. Nur das Wort, die Kraft des Wortes, steht im Vordergrund und fordert die Schauspieler heraus, die beeindruckenden Partituren zu übernehmen, denn Bernhard verzichtet auf Interpunktion, was zwar eine gewisse Freiheit bietet, aber auch extreme Konzentration erfordert.

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