„Ich hatte einige sehr gute Lehrer, aber das Wichtigste war, die deutsche Kultur mitzuerleben“.

Interview mit dem Mathematiker und Wittgenstein-Preisträger Univ.-Prof. Dr. Adrian Constantin

Univ.-Prof. Dr. Adrian Constantin lehrt seit 2008 an der Uni Wien Foto: privat

Der Wittgenstein-Preis, Österreichs höchstdotierter Wissenschaftsförderpreis, wurde vor Kurzem dem Mathematiker Adrian Constantin, Professor an der Universität Wien, verliehen. Der gebürtige Temeswarer und ehemalige Schüler des Nikolaus-Lenau-Lyzeums Temeswar hat, wie es die internationale Jury nannte, „bahnbrechende Beiträge zur Mathematik der Wellenausbreitung geleistet“. Seine Erkenntnisse über Strömungen und Wellen finden Anwendung in der Erforschung von Phänomenen wie Tsunamis oder „El Nino“. Über seine Forschung, den Preis, aber auch über Erinnerungen an Temeswar und die hier besuchte Schule sprach Univ.-Prof. Dr. Adrian Constantin mit der BZ-Redakteurin Ștefana Ciortea-Neamțiu.

Sie haben im Laufe Ihrer Karriere mehrere Preise gewonnen. Welches Gefühl hatten Sie, als Sie den Wittgenstein-Preis bekommen haben? Woran haben Sie zuerst gedacht?

Der Wittgenstein-Preis ist meine größte Anerkennung, insbesondere, weil es allgemein die Wissenschaft betrifft. Es ist eine große Ehre. Ich habe mich sehr gefreut als man mir die Entscheidung der Jury mitgeteilt hat. 

Der Preis ist eine Anerkennung für Ihre „bahnbrechenden Beiträge zur Mathematik der Wellenausbreitung“, so die internationale Jury. Diese Mathematik der Wellenausbreitung kann für die Erforschung von meteorologischen Phänomenen wie El Niño oder Tsunamis angewandt werden. Wie würden Sie Ihre Erkenntnisse den Lesern in einfachen Worten erläutern?

Ich bin von der Ausbildung her reiner Mathematiker, d.h. mein Interesse an Naturphänomene ist hauptsächlich theoretisch und motiviert von Neugierde. Manchmal sind diese Themen mit Ereignissen verbunden, die auch allgemein bekannt sind (wie z.B. die Tsunamikatastrophe im Dezember 2004, oder das El-Niño-Phänomen 2015/2016) aber oft sind die Fragen weniger relevant für das breite Publikum. Ein Naturphänomen ist meistens sehr komplex, und Modelle sind dazu notwendig, das Wesentliche verständlicher zu erfassen. Wie schon Galileo feststellte, ist Mathematik die dazu geeignete Sprache. Für die meisten Leute sind Zahlen die aussagekräftigsten Werkzeuge in der Mathematik, aber eigentlich ist die rechnerische Bestimmung untergeordnet dem Suchen nach Struktur. Und die mathematische Struktur die in Verbindung mit Fragestellungen der Physik zu finden ist, übertrifft oft die Vorstellungskraft der Experten. Dieser Struktur nachzugehen benötigt eine Mischung von Intuition und Technik, wobei das wirklich Neue nur durch Intuition kommen kann. Ohne technisches Wissen kann man aber nicht die Ideen verwerten. Meine Forschung betrifft hauptsächlich nichtlineare Wellen und Strömungen – Phänomene bei denen die Ursachen und ihre Wirkung nicht verhältnismäßig sind. Das bedeutet u. a., dass computergestützte Rechnungen ohne Leitfaden nicht sehr hilfreich und oft sogar irreführend sind: man ist gezwungen, strukturelle Eigenschaften zu finden (z.B. Ausdrücke die unverändert bleiben oder deren Änderung leicht nachvollziehbar ist, ähnlich wie eine Irisdiagnose etwas über unsere Gesundheit verrät).

Über diesen Preis haben auch die rumänischen Medien geschrieben, denn Sie sind gebürtiger Temeswarer. Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Geburtsstadt?

Ich habe Rumänien vor 30 Jahren verlassen, als ich 20 Jahre alt war. Jedes einzelne Jahr bin ich aber mehrmals nach Temeswar gekommen, meistens um meine Eltern zu besuchen. Ich finde, dass sich Temeswar in den letzten paar Jahren gut entwickelt hat – es ist eine viel schönere Stadt als die Stadt meiner Jugend.

Sie sind auch ehemaliger Lenau-Schüler. Das Nikolaus-Lenau-Lyzeum rühmt sich mit zwei Nobelpreisträgern, Herta Müller und Stefan Hell, jetzt auch mit Ihnen, denn der Wittgenstein-Preis wurde als „Nobelpreis Österreichs“ in den Medien bezeichnet. Welche Erinnerungen haben Sie an die Schule?

Interessanterweise wird Nikolaus Lenau als einer der größten Dichter Österreichs gelobt (es gibt auch eine „Nikolaus Lenau“-Schule in Österreich). Das „Nikolaus Lenau“-Lyzeum in Temeswar hatte einen sehr guten Ruf, und meine Eltern dachten sich auch, dass die hohe Wertschätzung von Pünktlichkeit, Anstrengung und Ordnung die man der deutschen Kultur zuschreibt, einen positiven Einfluss auf mich haben würde. Ich hatte einige sehr gute Lehrer, aber das Wichtigste war, die deutsche Kultur mitzuerleben. Im Vergleich mit den anderen Schulen (durch die Teilnahme an Mathematikwettbewerben war ich in den letzten fünf Schuljahren mehr als acht Wochen jährlich in engem Kontakt mit Jugendlichen aus allen Ecken Rumäniens) waren die Rumäniendeutschen allgemein reservierter, aber ziemlich direkt, was manchmal unangenehm sein konnte, aber auf Dauer stand man auf festem Grund in den persönlichen Beziehungen. Der persönliche Freiheitsbegriff war sehr stark, und die Gemeinschaft neigte zur Geschlossenheit. Es gab weniger Toleranz für Selbstlob, aber auch für andere kleinzureden – dementsprechend traute man sich zuzugeben, einen Fehler gemacht zu haben, und lernte nicht aufzugeben. Dass die meisten Familien, die seit Generationen im Banat lebten, das Land verlassen haben, ist meiner Meinung nach ein großer Verlust für die rumänische Gesellschaft.

Wann ist die Mathematik zu Ihrem Lieblingsfach geworden?

Ziemlich spät – obwohl beide Eltern Mathematiker sind – als ich bei den Mathematikolympiaden Erfolg hatte. Ich habe mich fünfmal für die nationale Phase qualifiziert, und ab und zu hatte ich auch gute und sehr gute Ergebnisse bei Olympiaden und regionalen Wettbewerben, aber außerordentliche Leistungen – wie z.B. die Teilnahme an der internationalen Mathematikolympiade (nur einmal war ich knapp dran) - waren nicht zu verzeichnen.

Wann haben Sie sich dazu entschieden, Mathematik zu studieren?

Das System der regionalen und nationalen Mathematikwettbewerbe war in den Achtzigerjahren sehr gefördert, und begabte LehrerInnen haben viele Jugendliche für Mathematik begeistert. Die Mehrheit der jungen Leute, deren Bekanntschaft ich bei diesen Gelegenheiten gemacht habe, wurden Mathematiker (einige sind jetzt sehr angesehen auf internationaler Ebene). Die Entscheidung, Mathematik zu studieren, schien uns irgendwie natürlich bereits als wir 15-16 Jahre alt waren. Ich würde aber hinzufügen, dass Erfolg bei Wettbewerben allgemein nicht hindeutend für eine Karriere in der Forschung ist. Bei der Olympiade ist es jedem Teilnehmer klar, dass jede einzelne Aufgabe in weniger als eine Stunde mit den Kenntnissen aus dem Schulstoff lösbar ist. Nicht so in der Forschung, wo die meisten Fragen unbeantwortet bleiben und wo ein Schritt nach vorne üblicherweise nur vielen Fehlschritten folgt, deren Bedeutungslosigkeit oft erst nach Monaten ersichtlich ist. Forscher scheitern auf großem Fuß, dazu sind aber die erhellenden Momente eines Durchbruchs unbeschreiblich.

Sie haben in Frankreich studiert, anschließend in den USA promoviert, haben vielerorts, in der Schweiz, in Schweden, Irland, Österreich und in Großbritannien unterrichtet und geforscht. Was glauben Sie war das Entscheidende, das Sie auf den Weg des Erfolgs gebracht hat?

Die entscheidende Rolle spielten einige Persönlichkeiten, mit denen ich das Glück hatte, eine enge Bekanntschaft zu machen, die mich als Forscher und Mensch geprägt hat. Zusätzlich ist das System (Ausbildung und Arbeitsbedingungen) sehr wichtig – und in dieser Hinsicht ist das Sprichwort „Masse statt Klasse“ sehr aussagend. Schon zu meiner Studienzeit war das Massenbildungssystem erkennbar, dessen Weiterentwicklung in den letzten 10-20 Jahre mir große Sorgen macht. Nicht nur, weil somit die durchschnittliche Fachkompetenz sinkt (und es immer schwieriger wird, professionelle Einstellungen wahrzunehmen), sondern auch weil bei der Überflutung mit Diplomen aller Art die Beziehungen als entscheidender Faktor bei der späteren Karriere im Vordergrund gebracht werden. Diese Entwicklung wird zu oft politisch-administrativ im Namen der Vereinfachung des Studienzugangs der wirtschaftlich Benachteiligten gemacht, aber das damit verbundene korrupte Bildungssystem verhindert die soziale Mobilität. Wie so oft werden die Träume der Bürokraten zu Albträumen für die Gesellschaft.

Um auf den Preis zurückzukommen: Dadurch können Forschende ihre Forschungstätigkeit auf international höchstem Niveau vertiefen. Was sind somit Ihre weiteren Pläne?

Die Preismittel werden ausschließlich für Forschungskosten zur Verfügung gestellt, dazu aber frei. Das bedeutet, dass ich es mir leisten kann, für ein paar Jahre Richtungen zu initiieren, die außerhalb des gängigen Wissenschaftsverständnisses sind. Unter normalen Umständen wären derartige Versuche unmöglich. Besonders in der Forschung der Phänomene in der Atmosphäre ist es sinnvoll, denke ich, nicht den üblichen Weg zu gehen, der zu sehr von einigen vorgegebenen Fragenstellungen geprägt ist.