Identität in der Krise

Eurothalias Schwerpunkt fiel auf Europas große Themen

Die Migrations-Thematik wird in Jan Lauwers „Der blinde Dichter“ aufgegriffen. Mit seiner Needcompany hat der Künstler ein multikulturelles Ensemble zusammengestellt.

Würde Theater, das vor hundert Jahren gespielt wurde, seinem gegenwärtigen selbst begegnen, es würde sich nicht wiedererkennen: Musik, Tanz, Performance, bildende Kunst sind mit dem Sprechtheater verschmolzen und haben ein neues Biest geschaffen. Die Grenzen des Möglichen wurden längst überschritten und auf der Suche nach neuen Wegen stellt sich Theater eine Frage, die sich auch Europa immer wieder stellt. Die Frage bezieht sich auf Identität und ob man von einer Krise sprechen kann oder von einer Chance. Künstler wie Jan Lauwers verbiegen die Regeln des Konventionellen, um vorrangig ihre künstlerische Vision zu verwirklichen. Dabei geht es ihnen sowohl um die Sozialkritik, als auch um die Ästhetik ihrer Gesamtkunstwerke. Die wirklich großen Namen des europäischen Gegenwartstheaters schließen das Eine und das Andere nicht aus. Ihr Ziel ist es, das Theater als Kunstform weiterzuentwickeln und voranzubringen sowie im Prozess auch die Gesellschaft zu verändern, indem sie auf Missstände hinweisen, sowohl sozialpolitische, als auch kulturelle und wirtschaftliche. Das fehlt im rumänischen Gegenwartstheater.

„In Rumänien will der Anlauf, Stücke zu produzieren, die sozialpolitische Themen behandeln, nicht gelingen“, so Andreea Andrei, Pressereferentin am Deutschen Staatstheater Temeswar und Kuratorin des internationalen Eurothalia-Festivals. „Dagegen gehört politisches Theater in Ländern wie etwa Polen längst zum Mainstream. Niemand reagiert überrascht, wenn in Staatstheatern Produktionen aufgeführt werden, die aktuelle Probleme behandeln.“

 

Eurothalia 2015

Andrei möchte diesen Zustand ändern und hat das diesjährige Festivalprogramm gezielt so zusammengestellt. Neben Jan Lauwers Stammbaumerkundung seiner Schauspieler in „Der blinde Dichter“ konnten Zuschauer Oskaras Koršunovas Inszenierung eines Klassikers sehen. Der Litauer hat Anton Tschechows „Die Möwe“ auf das Wesentliche reduziert. Er verzichtet auf ein ausgefallenes Bühnenbild und setzt Vertrauen in seine Schauspieler. Mit ihnen steht und fällt Koršunovas Inszenierung. Denn was Tschechows „Möwe“ wirklich zeitlos macht, sind die Figuren und die schonungslose Offenlegung ihrer Schwächen sowie die Beziehung der Charakter zueinander.

Ganz politisch ist die Produktion des „Teatru-Spălătorie“ aus Kischinau „Moldawien unabhängig. Erratum“. „Es ist ein Dokumentarstück, das die Schauspieler zusammen erarbeitet haben. Für den Text stöberten sie in Zeitungsarchiven nach Artikeln, sie schauten sich alte Nachrichtensendungen an, Schulbücher, führten Interviews, um so ein tatsächliches Bild des moldawischen Alltags zu schaffen“, sagt Andrei. „Was das Stück besonders macht, ist die Erzählsicht. Es geht um den gewöhnlichen Bürger und wie ihn die heikle politische Situation seines Landes beeinflusst.“

Nicht nur die Liebe zum eigenen Land, sondern auch die Liebe als Gefühl und ihre Wahrnehmung wurden thematisiert. Wim Vandekeybus’ Inszenierung „Sprich leise, wenn es um Liebe geht…“ ist ein Beispiel von einem zeitgenössischen Theaterstück, das Sprechtheater und Tanztheater zusammenführt.

 

Theater ist demokratisch

Mit dieser Vielfalt wollten Andrei und das Deutsche Staatstheater das Publikum fordern. „Ich persönlich glaube, dass Theater zeitgemäß sein muss, sowohl ästhetisch, thematisch als auch konzeptuell. Es muss in irgendeiner Form die aktuellen Themen und Probleme behandeln, die in unserer Gesellschaft vorherrschen“, so Andrei.

Eben weil das Theater einen Raum schafft, in dem sich Künstler und Theaterschaffende sowie Zuschauer begegnen können. Theater kann Menschen zusammenbringen und für sie eine Erfahrung schaffen, die in Echtzeit stattfindet.

Im Theater können sich Menschen austauschen und mit aktuellen Fragestellungen konfrontiert werden, wenn sie es denn möchten. In Rumänien ist dies seltener der Fall.

Das zeigen überraschenderweise die exzessiven Ovationen nach jedem Stück. Wirklich kritisch scheint der rumänische Theaterbesucher nicht zu sein. Stattdessen herrscht meistens eine naive Grundhaltung vor, die meist aus einer heimlichen Angst, nicht mitreden zu können, herrührt. Viele verstehen nicht, was auf der Bühne passiert, reagieren aber auf ihr Unwissen nicht mit offener Resignation, sondern mit einem stummen Zuspruch. Die jüngste Produktion des Deutschen Staatstheaters „Simuliert“, die auch auf dem Eurothalia-Festival gespielt wurde, ist ein aktuelles Beispiel für die Passivität des rumänischen Theatergängers. Das Stück ist durch seine angedeutete Obszönität und vulgäre Sprache durchaus provokant. Trotz seines schweren Inhaltes und seiner unkonventionellen Form wurde das Stück am Ende mit Beifall überschüttet und das Publikum stand auch obligatorisch auf.

 

Die Emanzipation des Publikums

Andreea Andrei verweist bei diesem anhaltenden Phänomen, der dem Deutschen Staatstheater nicht eigen ist, auf Jacques Ranciéres „Der emanzipierte Zuschauer“. Der französische Philosoph beklagt eben diese fehlende geistige Partizipation des Publikums. Immer mehr Stücke versuchen den Zuschauer aktiv mit einzuspannen, wobei das Wesentliche verloren geht: Man muss als Zuschauer nicht das Plastikschwert in die Hand nehmen, um es dann den Schauspielern gleichzutun und es auf der Bühne schwingen. Wichtig ist die Zäsur im Kopf. Man sollte mit einer gewissen Zurückhaltung ein Stück betrachten, statt bedingungslose Hinhabe üben, um sich eine kritische Meinung bilden zu können und sich mehr Gedanken darüber machen, welche Intentionen denn der Regisseur hatte und ob und wie ihm die Umsetzung gelingt. Es geht also nicht nur um das Erlebte, sondern auch um Mittel und Zweck.

Doch der Zuschauer, sowohl der europäische und insbesondere der rumänische, möchte keine inhaltlich schwer verdaulichen Stücke sehen. Darum trifft man auch im Nationaltheater seltener „seriöse“ Inszenierungen an. Intellektuell ist der Aufwand größer bei einem Lauwers-Stück, selbst wenn es publikumsfreundlich ist. Es geht immer darum, was eigentlich dahinter steckt. Um die Bedeutungsebenen, die man nur dann wirklich erschließen kann, wenn man versucht, das, was an der Oberfläche ist, zu durchbrechen. Zeitgenössisches Theater heißt nicht bloß sehen, es heißt auch verstehen. Es heißt nicht nur aufnehmen, sondern auch hinterfragen. Denn wie kann man ohne Dissens auf eine Veränderung hoffen. Der Konflikt treibt das Theater und Europa an. Und dieser fehlt im rumänischen Theater viel zu oft.