JULIA SCHIFF

Verschiebungen

Eine Straße ist eine Straße. Aber keine Straße gleicht ihrer, in der sich alle kennen, von der vorerst noch niemand wegzieht und niemand hinzukommt, in der mit den Jahren Kinder zu Teenagern wachsen und Erwachsene gebeugte Greise werden, aber alles geschieht unauffällig und mit Selbstverständlichkeit. Doch von einem gewissen Punkt an bleibt die Straße mit den Häusern die Konstante, und die Menschen, die sie bewohnen, die Variable.

Dass sich auch die Ofcea-Gasse Wandlungen unterziehen musste, zeichnete sich in der ersten Hälfte der Siebziger Jahre ab, als die Familie Blaha von gegenüber nach Westen verschwand. Die Auswanderung jüdischer Familien nach Israel hatte bereits in den 60-er und Anfang der 70-er Jahre begonnen. So gingen der Kollege Dobosch von Albert und ein von ihm ausgebildeter Lehrling, der Laci, aber auch der Zahnarzt von Anna und Albert, Herr Goldstein, fort, und sie gaben den Ort, an dem sie ihr halbes Leben gelebt hatten, auf. Sie hinterließen Lücken in ihrer Umgebung. Plötzlich wussten sie nicht, an wen sie sich wenden sollten, wenn beispiels­weise eine Zahnarztbehandlung fällig war. Herr Goldstein, hatte seine Praxis nachmittags in der familieneigenen Küche betrieben... Auch die kleinen Kinder Annas mochten den stets freundlichen Herrn Goldstein Sie vermissten ihn alle und mussten sich nun nach Ersatz umsehen. Aber Ersatz ist und bleibt nur Ersatz

 

Anna hatte die Frau Blaha gar nicht gekannt, lediglich ihren älteren Sohn Richard, einen Ingenieur, und vom Sehen den Jüngeren, etwas behinderten, dessen Name ihr gar nicht mehr erinnerlich war. Eine sehr zurückgezogen lebende, stille Familie, deren Wegbleiben erst beim Einzug eines jungen rumänischen Ehepaars mit zwei kleinen Kindern ins leerstehende Haus auffiel. Eine Unruhe, eine tragische Unruhe verband Anna mit diesenjungen Erwachsenen, die bereits im ersten Jahr in der neuen Heimat ihre beiden Kinder bei einem Skiausflug am Semenic verloren. Der Vater hatte beim Rangieren mit dem Wagen die still hinter dem Auto stehenden Kinder im alle Geräusche verschluckenden Schnee überfahren. Der Mann ließ sich danach zum Zeichen der Trauer einen langen Bart wachsen und glich nunmehr einem orthodoxen Popen. Die junge, depressive Frau in Schwarz wurde bald wieder guter Hoffnung, sie brachte ein blasses, kränkliches Kind zur Welt; aber die stets schwarz Tragenden mussten dennoch bald ausziehen, den Wohnort wech­seln, nur weg aus der Umgebung des verlorenen Glücks. In der Tat, die Häuser bleiben. Nur, dass sich die Proportionen ändern: Die vormals die Straße beherrschenden Villen verstecken sich jetzt hinter den in den Himmel wachsenden Lindenbäumen. Nur, dass den Gehsteig noch mehr Löcher beinahe unpassierbar machen; nur, dass der Stadtteil „Troubadur" die Villen fast aus der Straße drängt. Nur, dass sie sich äußerlich immer mehr der allgemeinen Abnutzung und Farblosigkeit anpassen. Und wenn sie Farben annehmen, tanzen sie wieder aus der Reihe, wie nun Annas und Alberts Haus. Vor einiger Zeit besuchte ihre Tochter Johanna mit ihren Kindern die alte Heimat und wollte ihnen das ehemalige Wohnhaus zeigen. „Stellt euch vor", erzählte sie nach ihrer Rück­kehr, „ich habe das Haus fast nicht erkannt. Ich bin an meinem Elternhaus einfach vorbeimarschiert. Allein schon der vergoldete Zaun, dann die zugebaute Terrasse, die ausgewechselten Fenster: Ein wunderschönes Roma-Haus ist daraus geworden."...

 

Auszug aus Julia Schiff „Verschiebungen“ , Roman, POP Verlag Ludwigsburg 2013