Letzte Zeugnisse, aus erster Hand

Holocaust-Überlebende, über die verschwundene Welt

Sarina Ionescu am Temeswarer Domplatz
Foto: Philipp Venghaus

Ein Kampf gegen das Vergessen ist das: Das Deutsche Kulturzentrum Temeswar hat vor Kurzem zu einem Filmabend und Gespräch mit einer Holocaust-Überlebenden eingeladen – letzte Zeugnisse aus erster Hand. Sarina Ionescu (81) wurde in der Bukowina geboren, mit 11 nach Transnistrien deportiert und lebt nun in Bukarest. Sie hat vom jüdischen Leben vor dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Deportation erzählt.

 

2000 ist sie zurück gefahren. In grauer Kleidung, mit den Händen im Schoß stand sie da und blickte auf das Unkraut und die Mauerreste. An dem Ort, wo einst, vor 60 Jahren, das Ghetto war. Wo die Geschwister ihres Vaters gestorben sind, wo sie mit anderen neun Personen in einem Zimmer lebte und an Bauchtyphus erkrankte. Dorthin zurück, wo sie mit 11 nicht mehr wusste, was Zeit, Kindheit und Geburtstag bedeutet.

 

Warum die Rückkehr, also? Es sei, die Grausamkeit lag so weit in die Vergangenheit zurück, dass sie nicht mehr wusste, ob es tatsächlich existierte. „Ich wusste nicht mehr, was real war und was nicht“, sagt die nun 81-jährige Sarina Ionescu. Oktober 1941 wurde Sarina Ionescu mit ihrer Familie nach Transnistrien deportiert. Sie war 11 Jahre alt. Weitere 20 Mitglieder ihrer Familie wurden damals verschleppt. Und noch 1800 Juden aus Câmpulung Moldovenesc, ihrer Heimat.

 

Etwa 700 sind letztendlich, drei Jahre später, zurückgekommen. „Ich kam mit meinen Eltern und Großeltern zurück, ging in die Schule und schwieg“, setzt sie fort. Niemand fragte. „Und für uns war es auch besser so“, sagt sie. Das Schweigen habe nicht weh getan, wie man es vermuten würde. Erst das Sprechen, Jahrzehnte später, nach der Revolution 1989. Bis dahin musste man schweigen.

 

Aber: „Man muss die Geschichte so nehmen wie sie war, nicht wie man es will“, sagt Sarina Ionescu und es wird schlagartig still in der Bibliothek des Deutschen Kulturzentrums Temeswar. Die 81-jährige Überlebende des Holocaust ist vor Kurzem in die Stadt an der Bega gekommen, um über ihre Heimat, die Bukowina, zu sprechen und sich gemeinsam mit dem Publikum den Film „Eine verschwundene Welt – die Geschichte des jüdischen Radautz“ anzusehen.

 

Über die schönen Sachen sollte sie sprechen. Über diese „phantastische Welt“, mit vielen Ethnien. Sie sei vor allem eine Bukowinerin, erst nachher eine Jüdin – auch wenn diese Welt tatsächlich verschwunden ist, wie sie sich selbst eingesteht, wenn sie den Titel des Films auf der Leinwand sieht: „Ja, die Welt ist wirklich verschwunden“, sagt sie. Der Blick gleitet gemeinsam mit der Kamera über die Hügellandschaft, über Haushalte und Schicksale. Damit geht auch das Gespräch über das Thema hinaus.

 

Denn der Film beschreibt nicht nur die vergangene Welt der fruchtbaren Koexistenz unterschiedlichster Menschen und der jüdischen Kultur in der Bukowina, sondern auch die Verschleppung und den Schmerz der Deportierten.

„Es gibt auch die schlechten Sachen“, sagt Sarina Ionescu, wenn der Film zu Ende geht. Ihre Stimme klingt klar, der Blick wirkt mild. Die Gesten, frisch und munter. „Ja, wir wurden in Viehwaggons geschleppt“ – sagt sie so, als müsse sie immer wieder Vermutungen und Zweifel bestätigen. Sie ahnt die Fragen, die im Schweigen schweben und beantwortet sie.

 

Irgendwie balanciert sie jede schmerzliche Erinnerung mit einem Hauch Optimismus – eine Charakterstärke, die sie von ihrem Vater geerbt hat. „Es wurde uns nicht gesagt, wohin wir fahren. Damals hieß es nur, wir werden ´relocaţi´. Auf dem Weg hat mein Vater aber immer wieder versucht, die anderen aufzumuntern“, erinnert sich Sarina Ionescu.

 

Mit dem, was passiert ist, hat sie sich längst abgefunden. „Am Anfang dachte ich, das sei nur ein Ereignis des Krieges gewesen“, so Ionescu. „Ein Teil von uns haben überlebt und sind weiter gekommen, ein Teil von uns haben überlebt und sind traurig geblieben“, sagt Ionescu. Sie war eine von denen, die weiter kommen wollten.

 

Sorina Ionescu ging auf die Schule, danach auf die Universität in Bukarest, hat geheiratet, macht seit 1990 im Verein der Holocaust-Überlebenden mit, arbeitet einmal die Woche freiwillig im jüdischen Altersheim, reist zu anderen Bukowinern nach Deutschland und Amerika und fühlt sich überall wie zu Hause. „ Die Zeit geht weiter, man muss weiterleben“ sagt sie. Der Glaube an Gott blieb unberührt, der Optimismus auch. Gehasst hat sie nie und niemanden. Wen, denn? Denn, „trotz allem ist es uns bis heute nicht gelungen, die Menschheit auf das kulturelle Niveau zu bringen, um den Absurden am Umbringen anderer Menschen einzusehen“, schließt sie resigniert.