Rolf Bossert oder das lokale Kulturgedächtnis

Am 16. Dezember wäre der rumäniendeutsche Ausnahmelyriker aus Reschitza 65 geworden

Rolf Bossert ist eine der Persönlichkeiten, die das «Diaconovici - Tietz«-Lyzeum Reschitza hervorgebracht hat und dem im Schulgedächtnis Respekt eingeräumt werden sollte. Er gehört zu den dominanten Geistern dieser Schule, an Seiten von Alexander Tietz. Die Theatergruppe der Schule trägt heute seinen Namen, vor nicht allzu langer Zeit ist auch das Amphitheater am zweiten Stock des Schulgebäudes nach ihm benannt worden. Das sind bescheidene Zeichen der Anerkennung, aber auch der Verinnerlichung der jüngeren Schulgeschichte, die den Lehrer, Verleger, Übersetzer, Feuilletonschreiber und Lyriker, dem aus Reschitza stammenden Rolf Günther Bossert, ehren und die dazu dienen, ihn im Gedächtnis der Schüler- und Lehrerschaft, aber auch der Gemeinschaft der Reschitzaer lebendig zu erhalten.

In meinem Gedächtnis setzte sich das Jahr 1982 fest. Ich war damals seit Kurzem Bibliothekarin der Kreisbibliothek in Reschitza und zu jener Zeit war der Februar „traditionell” der „Monat des Buches am Lande”. Natürlich gehörte es zu unseren Aufgaben auch, uns um die „mitwohnenden Nationalitäten” zu kümmern. Deshalb war eine der damals auf die Agenda gesetzten Aktivitäten eine, die entweder mit „mitwohnenden Nationalitäten” oder mit ihren Vertretern stattzufinden hatte. Zusammen mit dem Bibliothekarkollegen Georgel Chiriac veranstalteten wir infolgedessen in Moritzfeld/Măureni, eine Begegnung der Dorfbewohner mit deutschsprachigen Schriftstellern aus Temeswar. Und da der damals größtenteils in Bukarest lebende Rolf Bossert gerade in Reschitza, bei Eltern und Söhnen weilte und uns bei solcher Gelegenheit oft und gern zuhause besuchte, nahmen wir ihn einfach mit. Schließlich war er Mitglied der Temeswarer Gruppe junger Schriftsteller, die als Hauptakteure in Moritzfeld auftreten wollten. Es war auch gerade seine Übersetzung von Gellu Naums „Mi und Mo und Balthasar” erschienen.

Die „Aktionsgruppe Banat” gab es damals als solche und als schriftstellerische Bewegung nicht mehr. Sie war vorher durch Infiltration und Gewaltmaßnahmen der Securitate gesprengt, aber nicht verstreut worden, einschließlich durch Verhaftung einiger ihrer Mitglieder und deren illegaler monatelanger Festnahme und Verhören in den Kellern der Securitate in Temeswar. Doch die Mitglieder fanden immer wieder zusammen und nutzten jede Gelegenheit zu Gesprächen untereinander – in jenen Jahren nach wie vor unter Leitung von Richard Wagner, dem zunehmend Herta Müller zur Seite stand, die damals bald seine Frau werden sollte. Der „Adam Müller-Guttenbrunn”-Literaturkreis des Schriftstellerverbands, Filiale Temeswar, stand ihnen dafür zur Verfügung.

Nach Moritzfeld kam damals ein Teil von ihnen – vor allem jene, die in der auf Rumänisch erschienenen Anthologie „Vânt potrivit până la tare” (in der Auswahl von Peter Motzan) veröffentlicht worden waren: William Totok, Johann Lippet, Richard Wagner, Helmut Frauendorfer und Rolf Bossert, denen sich in Moritzfeld auch das Gründungsmitglied der „Aktionsgruppe Banat”, Werner Kremm, zugesellte, der gemeinsam mit Rolf Bossert mittels dem legendären Pendlerzug „Marinică” aus Reschitza angereist kam. Die meisten der Angereisten waren bereits in der rumänischen literarischen Welt als deutschsprachige Schriftsteller Rumäniens ziemlich gut bekannt und hatten auch Nachahmer unter den jungen rumänischen Poeten der sogenannten „80ger Generation/Generația `80” gefunden.

Die Begegnung war interessant. Keine Ahnung, ob auch die Leute aus Moritzfeld - die in ein kaltes Kulturheim gebracht wurden, wo die Öfen mehr Rauch als Wärme spendeten - von dem Auftritt der jungen Wilden viel verstanden haben und von der Botschaft, die diese jungen Schriftsteller boten (sie waren alle zwischen 28 und 31 Jahre alt). Für mich, als Außenstehende, steht aber fest, dass der Auftritt und die Begegnung von Moritzfeld für diese jungen Schriftsteller ein Wiederfinden und eine Kontaktnahme mit der Realität am Lande bedeutete – über die sie unter anderem, aber auch schrieben.

Im zweiten Teil der Begegnung von Moritzfeld führte die Gastfreundschaft Regie. Und das trotz der Mangelzeit, die wir damals bereits per Rationalisierung des Lebensnotwendigen durchlebten. Die lokale Gastfreundschaft hatte nämlich als Stütze einen starken landwirtschaftlichen Staatsbetrieb (IAS Măureni), zu dem auch die Weingärten von Tirol gehörten. Und einen verständnisvollen und zur Mitarbeit offenen Bürgermeister. So kam es, dass wir bis abends spät zusammen bleiben konnten. 

Ich verfiel rasch dem Charme dieser jungen Leute, die so versiert im freundschaftlichen, aber sachbezogenen Gespräch waren: ich war fasziniert von den lebhaften und vor Humor sprühenden Diskussionen, die die Freunde führten. Auch deshalb blieb diese Begegnung mir so tief im Gedächtnis haften. Damals lernte ich – erst damals – einen Teil der Mitglieder dieser literarischen Gruppierung persönlich kennen, zu der in ihren Gründerjahren auch mein Mann gehört hat.

Es waren bezaubernde junge Leute. Sie konnten dich im Gespräch fesseln. Sie sahen die Realität durch eine Klarsichtbrille und hatten auch den Mut, die Utopie der damaligen verkehrten Welt zu sehen und zu beschreiben, so, wie wir sie erlebten. Realistisch. Fußend auf einer soliden, ideologisch links stehenden Grundlage.  Ihr Kampfthema darf wohl als Geist der sozialen Gerechtigkeit definiert werden. Alles ging durch den Filter und die Vermittlung der Literatur. Selbstverständlich.

Ich glaube: wenn Rolf Bossert nicht beizeiten ausgewandert wäre, wäre er mit Sicherheit für eine Zeit in den Zellen der Securitate gelandet. Sowieso hatten sie bereits nach ihm gegriffen, als ihm eines Tages in Bukarest, am helllichten Tag, im Vorgarten des Restaurants des Schriftstellerhauses, in einem nie geklärten Fall eines gewalttätigen Überfalls, von offensichtlich professionellen Schlägern ein doppelter Kieferbruch zugefügt wurde, der ihn für zwei Monate ans Krankenbett und anschließend noch einen Monat in die Psychiatrie fesselte. Rolf Bossert hat immer behauptet, dass die Täter zu den „verdächtig Unverdächtigen” (so die oft zitierte Formulierung von Wolf Biermann) gehört haben, die ihn vorher tagelang verfolgten, wohin immer er auch ging. 

Als sie ausreisten, haben viele unter diesen jungen Schriftstellern ihr Land im Geiste mitgenommen. Und die verlassene Heimaterde wurde für viele unter ihnen zum Rohstoff für ihr Schreiben. Ich denke da an Herta Müller, die Rumänien neu erdacht und erschrieben hat. Auch das Banat. Und der es kaum gelingt, sich in ihrem Schreiben ein anderes Universum zu erschaffen, jenseits der Welt, von wo sie ausgezogen ist (die einzige große Ausnahme ist ihr Roman „Atemschaukel” – aber den hat sie aufgrund der Erlebnisse und Erzählungen eines Siebenbürger Sachsen, Oskar Pastior, geschrieben, also als Fremderlebnis und als Reflexion darüber. Aber immerhin ist auch die „Atemschaukel” die literarische Reflexion einer der größten Tragödien, die von den Rumäniendeutschen erlitten wurden, der Deportation von rund 70.000 ihrer jungen Leute, Frauen und Männer, zur „Wiederaufbauarbeit” in die Sowjetunion aufgrund einer fiktiven „Kollektivschuld”.). Der literarische Vorgang der Herta Müller erinnert an einen anderen Nobelpreisträger, den Kolumbianer Gabriel Garcia Marquez. Auch der erschuf für Südamerika eine fiktionale Welt, tief verankert in der Realwelt, die er bis zur Sublimierung beschrieb. Aus der „Aktionsgruppe Banat” hat auch Johann Lippet etwas Ähnliches mit seinem Heimatdorf Wiseschdia gemacht. Seine Freunde nennen Wiseschdia heute nach Marquez`schem Vorbild „Macondo”.

Die Diskussion in Rumänien, ob Herta Müller den Nobelpreis für die Rumänen oder für die Deutschen holte, finde ich fehl am Platz. Der Nobelpreis ist Herta Müller verliehen worden, als Person, als Schaffende.  Es stimmt: in den Büchern der Herta Müller wird ein bestimmtes Rumänien erschaffen, in ihnen lebt ein bestimmtes Rumänien, das Rumänien der Herta Müller, von dem sie nicht mehr loskommt. Sie beschreibt Rumänien mit den Augen einer sprachgewaltigen Gejagten. Ihre Augen sind die einer Verfolgten, Gehetzten, Gejagten, Unsteten. Aber gehetzt, gejagt, verfolgt, ja unstet waren auch wir alle, alle anderen, die im Rumänien jener Zeit lebten. Nur der Blick der Schreibenden ruht eindringlich ausschließlich auf dem Gejagtsein, auf denjenigen, die kraftlos angesichts einer Übermacht der Gewalt an ihre Heimat gefesselt sind.

2016, im Februar, waren es 30 Jahre, seit Rolf Bossert freiwillig aus dem Leben geschieden ist, knapp zwei Monate nach seiner Aussiedlung nach Deutschland. In diesem Jahr, am 16. Dezember, wäre er 65 Jahre alt geworden. Gedichtanthologien halten ihn fest, die Ortsgeschichte ignoriert ihn nicht. Reschitza sollte aber seinen verdienstvollen Söhnen eindringlicher gedenken. Ich finde, es wäre an der Zeit, einen Dokumentarfilm über Rolf Bossert und seine wundervolle Lyrik zu drehen, der ihn uns in einer definitiven Art für immer näher bringt. Die Orte, wo er gelebt hat, die Spuren seiner Schritte und Gedichte, die Orte, wo er und seine Familie – auch die Söhne – gelebt und gelernt hat, sollten für Außenstehende interessant sein/gemacht werden. Reschitza ist der Ort, wo Rolf Bossert 18 seiner 33 Jahre verbracht hat – mehr als ein halbes Leben. Eile ist geboten!

Es leben gar nicht mehr so viele der Zeugen des Erdenlebens von Rolf Bossert. Auch in Reschitza nicht. Wenn wir es ernst meinen mit der Wahrung des lokalen Kulturgedächtnisses und daraus eine Priorität machen möchten, wäre es eine Bereicherung unseres Kulturerbes. Und wir hätten die Chance, kulturell reicher zu werden. Geistig großzügiger.

Auf der Castanilor-Straße gibt es noch das Haus, in dem die Familien Bossert und Hirschvogel gelebt haben. Wieviel kostet wohl eine Gedenkplatte? Der Lyriker und der Rennfahrer verdienen sie gleichermaßen.

(Ersterschienen in der Publikation des Rumänischen Schriftstellerverbands „Reflex“, Jahrgang XVII, Nr. 7 - 12 (190 -195) Juli - Dezember 2016, S. 60;  Übersetzung und Bearbeitung: Werner Kremm)