Bartholomä vor 100 Jahren – unsere Gemeinde inmitten des Weltkrieges

Festvortrag, Bartholomäusfest 28.08.2016 Thomas Şindilariu

Kirchenhistoriker Thomas Şindilariu während des Festvortrages
Foto: Hans Butmaloiu

Der am 20. Mai 2016 nicht versteigerte „neue Kelch“ von 1703. Deutsche Übersetzung der Inschrift: „Diesen Kelch mitsamt Hostienteller schenkt der Königliche Rat und außerordentliche Gesandte Dänemarks, Herr Heintz, im Gedenken an seinen mehrere Monate aus verschiedenen gewichtigen Gründen und Umständen währenden Kronstadt-Aufenthalt, der im Zusammenhang mit seiner schicksalshaften Moskaufahrt steht, der Kirche zu Sanct Bartholomae im Jahre 1703. Gepunktet darunter: Pfarrer Andreas Bogner. Eine weitere Inschrift auf den freien Flächen der Kelchschale: Gottes Fügen – Mein Vergnügen.
Foto: Zur Verfügung gestellt von Thomas Şindilariu

Verehrte Festgemeinde,
ehe ich in die Thematik einsteige, möchte ich mich den Dankesworten an Pfarrer Christian Reich, die Kurator Christian Csorik im Namen der Honterusgemeinde für den geleisteten Vertretungsdienst im heurigen Sommer vorhin geäußert hat, anschließen.

Wie mag das Bartholomäusfest vor 100 Jahren abgelaufen sein? So wie immer? Der große Festtag der Kronstädter Vorstadt Barholomä, die noch fest in ihrer bäuerlichen und handwerklichen Tradition stand, mit Festtracht der Gottesdienstbesucher, feierlicher Predigt und Abendmahl? Wohl nicht ganz. Das Fest hat nachweislich stattgefunden, zugleich vermerkt der Gemeindepfarrer Dr. Eugen Lassel, dass sich, entgegen dem Brauch, keine Abendmahlsgäste einfanden, was er auf die bereits um sich greifende Unruhe zurückführte. Der Bartholomäustag, der 24. August, fiel 1916 auf einen Donnerstag, also fand das Bartholomäusfest am darauffolgenden Sonntag, den 27. August statt. Die für Unruhe sorgenden Gerüchte sollten sich allzu schnell bewahrheiten – bereits in den Abendstunden desselben Sonntags erfolgte die Kriegserklärung Rumäniens an Österreich-Ungarn, zu dem Siebenbürgen seit gut 200 Jahren gehörte. In Predeal und im Tömösch-Pass setzten die Kampfhandlungen ein. Mit einem Schlag, Lassel nennt es „Donnerschlag“, war sie vorbei, die gute alte Zeit. Der erste Weltkrieg hatte Kronstadt erreicht und drohte die Stadt in seinem unerbittlichen Mahlwerk zu verschlingen.

Wilhelm Morres, langjähriger Rektor der Volksschule und Prediger in Bartholomä formuliert in seinem „Gendenkbuch“ an die „Rumänenzeit“ für die Zeitspanne bis die Truppen Rumäniens Kronstadt erreichten und ihnen die Stadt übergeben wurde, also für die Tage 28. bis 29. August nachmittags, sehr treffend, wenn er feststellt: „Kronstadt gleicht einem Ameisenhaufen“. Es lässt sich aus diesen Aufzeichnungen aber auch aus jenen des bislang letzten deutschen Bürgermeisters von Kronstadt, Dr. Karl Ernst Schnell, ersehen, in welchen Etappen die Stadt in Bewegung geriet und wie die emotionale Erregung von Stunde zu Stunde anstieg, um in eine umfassende zu münden.

Im Vorfeld des Kriegsausbruches in Siebenbürgen, also während der gesamten Sommermonate des Jahres 1916 waren Vorkehrungen getroffen worden, um Archiv- und Vermögenswerte der Stadt, aber auch ihrer Kirchengemeinden in Sicherheit zu bringen. So berichtet Schnell, dass er bereits zwei Wochen vor Kriegsausbruch städtische Werte in der Höhe von 4 Millionen Kronen in die Hauptstadt Budapest hatte verbringen lassen. Trotzdem wurde die zentrale Landesverwaltung der ungarischen Reichshälfte in Budapest in der Nacht vom 27. auf den 28. August 1916 erst einmal kalt erwischt, ihre ersten Anordnungen widerspiegeln dies nur zu deutlich. Doch nach ein bis zwei Stunden hatte man begriffen und die Anordnungen ergingen logisch und in rascher Folge.

Sie betrafen einerseits den Abschluss der Evakuierung der Archiv- und Vermögenswerte sowie den Abzug der öffentlichen Verwaltung unter Einschluss der Polizei- und Militäreinheiten am 28. August – Stadtpfarrer D. Franz Herfurth weist in seinen Erinnerungen zurecht auf die völlige behördliche Schutzlosigkeit der Stadt in der Nacht vom 28. auf den 29. August 1916 hin. Plünderungen, gar ein neuerlicher Stadtbrand sind jedoch glücklicherweise ausgeblieben. Andererseits erging ganz in der Logik eines herannahenden bewaffneten Konflikts die Anordnung, dass alle wehrfähigen Männer im Alter von 17-55 Jahren Kronstadt zu verlassen hätten, bald die Aufforderung zur Flucht an alle ungarischen und sächsischen Bürger Kronstadts, insgesamt also an 28.000 Personen. Bezeichnenderweise waren in diese letzte Anordnung die 12.000 rumänischen Kronstädter nicht mit eingeschlossen. Bis zum Zeitpunkt, an dem die Stadt durch den stellvertretenden Bürgermeister Friedrich Fabricius am Nachmittag des 29. Augusts an das rumänische Militär übergeben wurde, hatten über 20.000 Ungarn, Sachsen und auch einige Rumänen Kronstadt verlassen.

Soweit der allgemeine Rahmen der Flucht unserer Vorfahren, im Übrigen nicht nur aus Kronstadt sondern auch aus dem gesamten Burzenland. Im Einzelfall lagen die Dinge anders. Jede Familie musste für sich entscheiden und all die Aspekte, die so manchem von uns aus der Zeit bis 1990 noch aus den Bleiben-oder-Gehen-Debatten nur zu gut noch in Erinnerung sind, kann man insbeson-dere in Bartholomä in gedrängter Form in den Tagen nach dem Bartholomäusfest 1916 beobachten. Wieso gerade in Bartholomä? Nun, es ist eine gewisse zeitliche Verzögerung hier festzustellen, die mit der relativ isolierten Vorstadtlage zu tun hat, was die Fluchtbewegung erst zeitversetzt auslöste. Eines der Bilder auf den Schautafeln zu dieser Ansprache zeigt eine Luftaufnahme von Bartholomä aus dem Jahre 1921, oben links ist die Bartholomäer Kirche noch halb zu erkennen, ringsum nichts als freies Feld und Gärten. Während sich in der Inneren Stadt die Ereignisse überschlugen, Anordnung um Anordnung eintraf, sich zeitgleich die Verwaltung begann zurück zu ziehen und sich damit der Staat gewissermaßen aus Kronstadt verabschiedete, war zunächst davon kaum etwas nach Bartholomä gedrungen.

In der Berichterstattung von Pfarrer Lassel – sie kann vollinhaltlich auf einer der Schautafeln im Kirchhof nachgelesen werden (Original im Archiv der Gemeinde) – scheinen zunächst die klassischen Elemente eines verantwortungsbewussten Krisenmanagements auf: ruhig und besonnen bleiben. Um 11 Uhr am 28. August, also genau vor 100 Jahren kamen die erreichbaren Presbyter mit ihrem Pfarrer hier am Kirchhof zusammen und beschlossen zum Schutze ihres Besitzes zu bleiben, man meinte auch, noch über Zeit zu verfügen, um situationsbedingt über den am besten geeigneten Ort für die Verwahrung des Kirchenschatzes befinden zu können. Da die Abendmahlsgeräte am Bartholomäusfest am Vortag eigentlich noch hätten zum Einsatz kommen sollen, waren diese, anders als die übrigen Archiv- und Vermögenswerte der Gemeinde, nicht frühzeitiger in Sicherheit gebracht worden. Man schwankte noch bezüglich des weiteren Vorgehens hinsichtlich der Kirchenlade und ihrem kostbaren Inhalt. Sollte sie in einer aufgelassenen Kalkgrube in der Kirche unter der Orgelempore vergraben werden? Dies Versteck hätte zusätzlich durch herumstehende alte Kirchenbänke und dergleichen mehr gut getarnt werden können, überlegte man. Oder war die Kirchenlade doch in der Pfarrwohnung sicherer?

Indessen begannen auch in Bartholomä sich die Ereignisse zu überschlagen, Lassel vermerkt: „die Panik der Inneren Stadt griff auf Bartholomä erst am Nachmittag (des 28.08) über“, als bekannt wurde, dass die Behörden die Stadt verlassen hatten und zudem das Militär die Kronstädter Viehherde – rund 500 Stück – aus Sicherheitsgründen, wie es hieß, fortgetrieben hatte und zwar bis nach Bălăuşeri. Am Morgen des 29. August war vielleicht noch ein Zehntel der Bartholomäer vor Ort, der Rest, stellte Lassel fest, war geflohen. Er hält weiter fest: „da habe ich leider die ruhige Überlegung und Selbstbeherrschung verloren und in die Flucht eingewilligt, die wir, eben gänzlich unvorbereitet und überstürzt, in Kleidung und Nahrung wie zu einem Ausflug auf zwei Tage antraten mit dem letzten (blinden) Pferd, das im Liehrischen Stalle war (gemeint ist Alt-Kurator Georg Liehr) und vom halbwüchsigen Pferdejungen an den kleinen Postwagen gespannt wurde, der für die 9 Personen (der Familie) kaum Platz bot, ich immer im Wahn, es sei nur ein Ausweichen auf kurze Zeit, vielleicht schon von Marienburg könnten wir oder zumindest ich umkehren.“

Die Kirchenlade ward zurückgelassen, die Flucht ging allerdings bis Budapest. Bei der Rückkehr des Pfarrers am 27. Oktober 1916 ist die Lade zwar vorgefunden worden, nicht jedoch auch ihr Inhalt. Das verwundert wenig, wenn man die schweren Kämpfe bedenkt, die ringsum die Bartholomäer Kirche am 7. und 8. Oktober 1916 stattfanden, und die zahlreiche Opfer forderten, rund 200 an der Zahl, der weit überwiegende Teil Rumänen. An sie erinnert das Heldendenkmal hier gleich am Bahnübergang; an der Nordseite unserer Kirche befinden sich deutsche Soldatengräber aus derselben Zeit. Der Chorraum hier diente zunächst den rumänischen, dann den deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen als Verbandsplatz, auf dem Kirchturm war ein rumänisches Maschinengewähr stationiert, im Garten Schützengräben und freilich jede Menge Zerstörung, insbesondere hier auf dem kirchlichen Gelände und im unteren Bereich der Langgasse.

Den 38 im Ersten Weltkrieg gefallenen Bartholomäern ist die 1924 eingeweihte Gedenktafel im Querschiff der Kirche gewidmet. Insgesamt wurden bereits im Frühjahr 1916 unter den 5171 bis zu diesem Zeitpunkt eingerückten Kronstädtern 96 Sachsen, 89 Ungarn und 73 Rumänen als Gefallene verzeichnet.

Ab November 1916 arbeiteten die weltlichen und kirchlichen Verwaltungsinstanzen in Kronstadt wieder weitgehend normal. Es ging nun darum, die Kriegsschäden zu bemessen und darüber zu berichten. Dies ist der Entstehungskontext für Lassels Schilderung, die in Schilderungsart und Wortwahl ganz deutlich bestrebt ist, seine Verantwortung für den Verlust der Bartholomäer Abendmahlsgeräte in Anbetracht der Kriegsumstände möglichst gering erscheinen zu lassen. Diese Sicht macht sich das Bartholomäer Presbyterium in seiner Sitzung vom 27. Dezember 1916 zu eigen, wohl auch um Pfarrer Lassel vor disziplinarrechtlichen Folgen zu schützen. Zugleich wird aber schon über die Anschaffung eines modernen hygienischen Abendmahlskelches beraten – einen solchen gibt es im Eigentum der Gemeinde, gestiftet von Presbyter Wilhelm Tellman im Jahre 1933. Ehe jedoch an die Anschaffung solch moderner Erfindungen gedacht werden konnte, musste schleunigst für Ersatz gesorgt werden. Bereits in der Sitzung des Presbyteriums vom 15. Februar 1917 berichtete Pfarrer Lassel dem Presbyterium, dass er für Hauskommunionen Becher und Patene besorgt habe, was dankend zur Kenntnis genommen wird. Doch die Zeit drängte, Palmsonntag und damit die nächste Konfirmation standen vor der Tür. Bereits im nächsten Presbyterialprotokoll vom 22. März 1917 wird von der Bereitstellung durch Spenden eines vollständigen Sets an Abendmahlsgeräten berichtet – dem Auge des Historikers entgeht dabei nicht, dass unter lediglich sechs Spendern der Familienname „Lassel“ gleich zwei Mal aufscheint.
Eine Bilddokumentation des 1916 verlorenen Kirchenschatzes ist auf einer der Schautafeln draußen einsehbar.

Der materielle Wert des verlorenen Bartholomäer Kirchenschatzes wird im Juli 1917 mit 20.640 Kronen beziffert. Im Vergleich zum sonst allein in der Bartholomäer Pfarrwohnung festgestellten Schaden an Einrichtungsgegenständen in Höhe von 24.048 Kronen oder gar dem Gesamtschaden, den die Gemeindeglieder erlitten haben, in Höhe von 2.076.354 Kronen erscheint der materielle Wert des Kirchenschatzes als eine in Kriegszeiten verkraftbare Größenordnung. Der ideelle Wert von Abendmahlsgerät, aus dem bereits die Vorfahren Christi Leib und Christi Blut empfangen haben, ist freilich ein ganz anderer. Das ist aus den überlieferten Schriften klar zu spüren, auch dürfte sich Pfarrer Lassel trotz der Rückendeckung durch das Bartholomäer Presbyterium weiter Vorwürfe gemacht haben.

Fast 100 Jahre vergingen ohne jeden Hinweis auf den Verbleib des Kirchenschatzes. Anfang Mai 2016 erhielt Frank-Thomas Ziegler vom Kunstreferenten der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hon.-Prof. Dr. Thorsten Albrecht, einen Hinweis über einen Kelch aus Kronstadt-Bartholomä, der in Köln am 20. Mai 2016 zur Versteigerung gelangen sollte. Die Information gelangte an die Bartholomäer Kirchengemeinde und sofort wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um durch Archivunterlagen nachzuweisen, dass es sich dabei um den sogenannten „neuen Kelch“ von 1703 der Bartholomäer Kirchengemeinde handele. Unser Landsmann und Anwalt vor Ort, Wilhelm-Georg Hietsch, konnte damit ausgestattet eine richterliche einstweilige Verfügung beim Landgericht Köln gegen die Versteigerung erwirken. Der Kelch ist folglich sichergestellt bis zur Klärung des Eigentumsrechts. In Kronstadt schaltete unser Presbyter Anwalt Arnold Ungar die Staatsanwaltschaft ein, so dass wir dem weiteren Verlauf der Angelegenheit einige Hoffnung entgegen bringen dürfen. Beiden Anwälten sei an dieser Stelle für ihren Einsatz herzlich gedankt.

Der neue Kelch von 1703 führt uns in die Umbruchszeit, als Siebenbürgen nach Zurückdrängung der osmanischen Herrschaft in das Reich der Habsburger integriert wurde. Zeitgleich erfolgte die Zurückdrängung Schwedens als europäische Großmacht im Rahmen des Großen Nordischen Krieges (1700-1721). Dieser Umstand erklärt auch, wieso sich der Gesandte des Königs von Dänemark 1703 längere Zeit in Kronstadt aufhielt und unter anderem unserer Kirche diesen Kelch schenkte – es ging um das militärische Bündnis zwischen Dänemark und Moskau gegen die Schweden.

Mit der Distanz des Historikers kann ich festhalten, dass in jener Zeit, als der neue Kelch gestiftet wurde, die gute alte Zeit für unseren Winkel Europas begann. Gewiss war nicht alles gut an der alten Zeit, aber abgesehen von minder folgenschweren Konflikten, wie etwa 1848/49, war die Zeitspanne von 1700 bis zum Ersten Weltkrieg beziehungsweise bis zum Bartholomäusfest vor 100 Jahren die längste Friedensperiode in unserer Geschichte und damit ihr gedeihlichster Abschnitt. Der Verlust des neuen Kelches stand am Ende dieser Friedensperiode.

Daher wollen wir in der Aussicht auf den Wiedererhalt des neuen Kelches eine Frucht des Friedens sehen, in seinem hoffentlich baldigem Besitz ein Symbol des Friedens für unsere Gemeinschaft und weit darüber hinaus.

 

Literatur:
Herfurt, Franz: Kriegsbilder, in Kirchliche Blätter 9 (1917), Artikelserie, S. 225-338.
Morres, Willhelm: Kronstadt und Großrumänien, in: Emil Sigerus (Hg.): Aus der Rumänenzeit. Ein Gedenkbuch an sturmbewegte Tage, Hermannstadt 1917, S. 81-222.
Schnell, Karl Ernst: Aus meinem Leben. Erinnerungen aus alter und neuer Zeit, Kronstadt 1934.