„Jeder Idiot kann etwas wissen“

Zum Religionsunterricht und der Wertevermittlung an den Schulen

Ja, wir haben das Wissen, eine Atombombe zu bauen. Aber sollten wir sie im Ernstfall auch nutzen? Ja, wir können den Menschen, die schwerstkrank oder zu alt geworden sind, die medizinischen Apparate abschalten. Aber ist das wirklich ethisch vertretbar? Ja, unsere Kinder haben das Wissen, mit ihren Handys um den ganzen Erdkreis zu kommunizieren. Aber verlieren sie möglicherweise durch die digitale Kommunikation die Fähigkeit, Gefühle und Emotionen an anderen Menschen wahrzunehmen? Ja, wir können behinderte Kinder noch im Bauch der Mutter aus der Welt schaffen. Aber führt das unsere Gesellschaft zu mehr Menschlichkeit? Ja, wir wissen, wie wir der Ukraine Waffen liefern. Aber wird das wirklich den Frieden in unserem Nachbarland bringen?

Das alles sind keine leichten Fragen. Auch ist ein gesellschaftlicher Konsens für diese Fragen schwer zu finden. Wir können und wissen im 21. Jahrhundert sehr viel. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen und üben, unser Wissen zu beurteilen und zu bewerten. Zur Wissensvermittlung muss also die Wertevermittlung treten. Denn reines Wissen kann gefährlich werden, wenn es nicht von Werten begleitet wird, die es zu einem gesellschaftlich sinnvollen Ziel führen. Schon Albert Einstein sagte deshalb: „Jeder Idiot kann etwas wissen.“ Er wollte damit sicher nicht das Wissen herabsetzen. Es bildet ja die Grundlage all unserer Entscheidungen. Doch zum Wissen müssen auch Verständnis, Urteilsvermögen und Wertebewusstsein kommen. Diese Fähigkeiten sind mindestens genauso wichtig wie das Wissen selber. 

In diesem Sinne bildet der Religionsunterricht ein wichtiges Bindeglied zwischen den einzelnen Schulfächern, weil er die gesellschaftlichen Werte zur Beurteilung des Wissens benennt, begründet und vermittelt. Der Religionsunterricht ist im Reigen der Wissenschaften nötig, weil er zum Wissen die Werte schafft. Es waren im Besonderen die evangelischen Reformatoren, die sich für die Bildung ausgesprochen haben. Sie gründeten überall im Land Schulen, damit Glauben, Wissen, Werte und Menschlichkeit im ständigen Gespräch blieben. Niemand sollte glauben, ohne zu wissen, denn ungebildeter Glaube führt zu Fundamentalismus. Niemand sollte wissen, ohne zu glauben, denn das führt zu Einseitigkeit, Rücksichtslosigkeit und Egoismus.

Nun sind wir Menschen – Gott sei Dank – frei, uns für oder gegen den Glauben zu entscheiden. Niemand wird zum Glauben gezwungen. Auch das ist ein Wert, den wir dem Christentum zu verdanken haben, denn Gott schuf alle Menschen frei. Wir sind nicht Gottes Marionetten, die nach seinem Willen leben müssen. Vielmehr können wir uns selber entwickeln, dürfen selbständig entscheiden und können unsere eigenen Wege gehen, mit oder ohne Gott.
So gibt es immer mehr Menschen, die der Kirche den Rücken zugekehrt haben und ihre Werte selbständig und ohne Gott begründen wollen. Das ist für mich als Pfarrer ein schmerzliches Zeichen. Doch in einem demokratischen Land ist es ihr gutes Recht und die Toleranz gegenüber Andersdenkenden ist ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Denn wer seine Werte begründet, der bleibt mit dem Andersdenkenden im Gespräch. Der ist gezwungen, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, zu analysieren und gegebenenfalls zu aktualisieren oder zu korrigieren. Von daher ist eine Wertevermittlung und der ständige Abgleich von Wissen und Werten unverzichtbar für jede kultivierte Gesellschaft.

Wenn es nun in unserem Land die Möglichkeit gibt, nicht mehr am Religionsunterricht teilzunehmen, so ist das noch nicht zwangsläufig der Anfang einer wert(e)losen Gesellschaft. Doch bisher scheint es so, als wenn das bestehende und bewährte System des Religionsunterrichtes für alle Schüler in Frage gestellt worden sei, ohne einen vergleichbaren Ersatz zu schaffen. Bereits ab dem laufenden Semester soll es möglich sein, nicht mehr am Religionsunterricht teilzunehmen. Ein Fach „Ethik“, das die Schüler von der Vorschulklasse bis zur zwölften Klasse begleitet und ihnen die nötigen Werte vermittelt, ist nicht in Sicht und wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ohne Weiteres realisieren lassen. Und genau dieser Mangel ist zu kritisieren. Als Gesellschaft haben wir ein großes Interesse daran, dass Schüler über gesellschaftliche Werte gemeinsam nachdenken, diskutieren und eine eigene Position dazu finden. Schüler müssen es lernen und üben, ihren eigenen Standpunkt zu gesellschaftlichen Fragen zu finden, ihn zu begründen und mit den Vorstellungen und Lebenskonzepten anderer abzugleichen. Wenn dieser Prozess nicht mehr im Rahmen der Schulen geschieht, so verfehlen die Schulen ihren allgemeinen Erziehungsauftrag. Gleichzeitig überlassen sie einen wichtigen Aspekt der Bildung dem Privatbereich oder – was noch schlimmer ist – der Privatwirtschaft.

So möchte ich als Pfarrer und Religionslehrer für den Religionsunterricht aller Konfessionen werben. Ich bitte alle Eltern und Großeltern, gemeinsam mit den Kindern sorgfältig über eine Anmeldung zum Religionsunterricht nachzudenken. Ich bitte Sie, Rücksprache mit den Religionslehrern zu halten. Diese informieren Sie bestimmt gerne über die konkreten Inhalte des nächsten Semesters.

Und so verbleibe ich mit den besten Grüßen,

Ihr Pfarrer Martin Meyer
Kronstadt