Kapitalismus und Kommunismus im Urteil eines namhaften Siebenbürger Sachsen (I)

Stephan Ludwig Roths Lob der kleinbürgerlichen Gesellschaftsordnung

Siebenbürgen, eine Vielvölkergemeinschaft

Stephan Ludwig Roths (1796-1849) Leben und Wirken fällt in die Zeit des Übergangs der gesellschaftlichen Entwicklung vom Feudalismus zum Kapitalismus. Das Fürstentum Siebenbürgen bestand damals verfassungsrechtlich aus dem Komitats-, Sachsen- und Szeklerboden, mit einer national gemischten Bevölkrung von Rumänen („Walachen“), Ungaren (Magyaren), Sachsen (Deutschen), Szeklern, Juden, Roma („Zigeunern“) u. a. Der Komitatsboden war grundherrschaftlich-feudaler Besitz des Adels, der von den ihnen untertänigen, hörigen und leibeigenen Bauern („Jobagen“ genannt) bestellt wurde, die außer ihrer persönlichen, grundherrschaftlichen Abhängigkeit von Feudalherrn, diesen zur Abgabe des Zehnten oder sogar ein Viertel von ihren landwirtschaftlichen Erzeugnissen und zur Leistung von Frondiensten verpflichtet waren. Der privilegierte Adel gehörte dem Ungarentum an, dominierte das öffentliche Geschehen und hatte auch die politische Führung des Landes inne. Die geknechteten Jobagen waren hauptsächlich Rumänen, sie besaßen keine Bürgerrechte und galten als bloß geduldet. 

Der Königsboden gehörte den Sachsen, die freie Bürger aufgrund eines Freibriefs waren, der  im 12. Jahrhundert den ersten deutschem Siedlern bei ihrer Niederlassung in Siebenbürgen vom ungarischen König verliehen worden war. Die Szekler waren ebenfalls freie Bürger auf eigenem Verwaltungsgebiet. Siebenbürgen war demnach  eine von Rumänen, Ungarn (Magyaren), Sachsen, Szekleren und anderen Volksangehörigen bewohntes Vielvölkergemeinschaft, deren Nationalitäten verschiedene Rechte besaßen, woraus sich zusätzlich zu den sozial-wirtschaftlich Gegensätzen zwischen der hörigen Bauernschaft und dem Adel nationale Konflikte zwischen den Völkerschaften ergaben. Die führende ungarische Schicht beabsichtigte einen einheitlichen, magyarischen Nationalstaat zu gründen und Siebenbürgen mit Ungarn zu vereinigen. Sie stieß aber auf den Widerstand der Rumänen und Sachsen, und so kam es nicht zur Union. 

Das waren, kurz gefasst, die rechtlichen und ethnischen Verhältnisse unter denen der bedeutende Siebenbürger Sachse, Stephan Ludwig Roth, gewirkt hat. Nach ihm hatten Zeitgeist und die allgemeine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung die Ablösung des feudalen Systems durch eine bürgerliche Gesellschaftsordnung vorbereitet. Der freie Stand der Sachsen vom Königsboden sei von der Vorsehung für eine Mittlerfunktion und als Vorbild bestimmt worden. Historisch sei der freiheitlichen Verfassung der Sachsen die Aufgabe gestellt, zwischen Adel und hörigen Bauern einen Ausgleich zu schaffen: „Der Adel muss herunter zu uns, der  Untertan muss hinauf zu uns. Dem Bürgertum gehört die Zukunft.“ Roth setzte sich somit für eine kleinbürgerliche Staats- und Gesellschaftsordnung mit Aufrechterhaltung der Zünfte ein, wie er es in der Broschüre „Die Zünfte. Eine Schutzschrift“(1841) dargelegt hatte. Gleichzeitig lehnte er die Erweiterung der Industrie ab, sowie die damit verbundene Vorherrschaft des Fabrikwesens mit stark ausgeprägten Gegensätzen zwischen den Arbeitgebern, den Kapitalisten, einerseits und den Arbeitnehmern (Proletariern) andererseits.

Zunfthandwerk gegen Industrie

Eine auf das Handwerk gestützte „kleinbürgerliche Gesellschaftsordnung“ sei humaner als der Industriekapitalismus, da sie eine gleichmäßigere Verteilung des Besitzes und ein wirtschaftliches Gleichgewicht zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft sichere und  eine Massenproletarisierung verhindere, hat St. L. Roth öfters verkündet: Zünfte seien „Anstalten der Humanität“ und sollten daher erhalten bleiben. „Im Fabrikswesen hingegen steht die Mehrheit im Dienste des Einzelnen. Ein Fabriksherr ist ein Meister, dem viele andere Hände dienen, ein hundertprozentiges Ungeheuer: die ganze Gesellschaft ist eigentlich nur eine Person, aber nicht eine moralische, sondern eine physische. Die Eheleute, die in Fabriken arbeiten, haben oft keinen gemeinschaftlichen Tisch, höchstens ein gemeinschaftliches Bett. Ihre ohne Aufsicht aufwachsenden Kinder werden noch bevor sie stark genug sind, die Hosen sich selbst zu knöpfen, zu leichten Arbeiten in den Fabriken ausgenutzt, wo Siechtum des Leibes und Fäulnis der Seele ihr Los ist“. In jenen Ländern, in denen sich die Industrie bereits durchgesetzt, fährt Roth in seiner Analyse fort, stehen Armut und Reichtum in „schneidendem Gegensatz“ zu einander, es gibt Klassen von Menschen, die bei aller Arbeitslust sich den Bauch nicht füllen können.

Das Ergebnis ist Pauperismus und ein verarmtes, ausgebeutetes Heer von Proletariern. Zwischen den Fabrikbesitzern besteht ein harter Konkurrenzkampf, in dem der skrupellosere und stärkere siegt: Dem Fabrikanten kommt es bloß auf den Gewinn an. Größere Betriebe fressen im Konkurrenzkampf die kleinen Werkstätten auf. Die Fabriken sind den Zünften ökonomisch zwar überlegen, da sie billiger erzeugen können, menschlich betrachtet, sind sie jedoch Brutstätten, „in denen Siechtum des Lebens und Fäulnis der Seele“ gedeihen. „Die Gewerbe sind in meinen Augen nicht Selbstzweck“, – argumentiert Roth weiter – „sondern stehen als Mittel zur Verschönerung, Veredlung und Erleichterung des menschlichen Lebens in dessen Diensten. Mithin ist nicht Güte und Wohlstand der Ware die höchste Anforderung, die ich mit dem Gewerbe verbinde, ich halte nur jenes Gewerbe für eine Verbesserung, die dem menschlichen Dasein in einer höheren Bedeutung zugute kommt.“ Roth befürwortete das in Zünften organisierte Handwerk, als Alternative zu den Fabriken, da es frei von Klassenkampf sei und von den Sachsen beherrscht werde. Aus dieser Beschreibung geht hervor, dass Roth das Wesen des Kapitalismus richtig erkannt hatte, einige seiner Sätze könnten in den Schriften von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) stehen. Roth prangert die Auswüchse des Kapitalismus an und wünschte sich eine  harmonisch-bürgerliche Gesellschaft.

Roth: Kritik der Einrichtungen des Kommunismus

St. L. Roth hatte nicht nur das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung seiner Zeit erfasst und deren negative Bereiche hingewiesen, er besaß auch Informationen über Anhänger und die Verbreitung kommunistischer Anschauungen und über erste Versuche von deren praktischer Anwendungen. Er hat dazu ebenfalls kritisch Stellung bezogen. Kommunistische Weltanschauungen geisterten in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Die kommunistische Welt der Armen träumte von einer paradiesischen Gesellschaft, in der, gestützt auf Gemeinschaftsbesitz, völlige Gleichheit unter den Mitgliedern der Gemeinde herrschen werde. Solche mysteriöse Wunschwelten haben zu verschiedenen Zeiten die Phantasie der Menschen belebt. Die Reichen hingegen fühlten sich von der kommunistischen Bewegung bedroht, da die Armen und Besitzlosen es auf ihr Eigentum abgesehen hatten.

Die modernen Vorstellungen über eine kommunistische Gesellschaft sind in Westeuropa Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden als Reaktion auf das Elend der Arbeiterklasse, die oft unter katastrophalen Bedingungen lebte und arbeitete. Karl Marx gilt gemeinsam mit Friedrich Engels als Schöpfer des modernen, wissenschaftlichen Kommunismus mit folgenden Hauptmerkmalen der Gesellschaft: Gemeinschaftseigentum, kein Privateigentum, keine sozialen Klassen, keine Ausbeutung, Gleichheit und keinen freien Markt. Alles sollte allen gehören und allen zugute kommen, die Wirtschaft sollte von staatlicher Seite zum Wohle aller gelenkt werden und nicht zur Bereicherung  Einzelner dienen. Nach Marx ließ sich der Inhalt des kommunistischen Programms durch einen einzigen Ausdruck zusammenfassen: „Aufhebung des Privateigentums“. 

Der Begriff „Kommunismus“ ist abgeleitet vom Lateinischen „comunis“, was „gemeinsam“ bedeutet. St. L. Roth setzte ich für den Erhalt des Privateigentums ein. Das alte Nomadenrecht müsste „gänzlich beseitigt werden“ und das „bereits anerkannte Recht des besonderen Eigentums zum ausschließlichen und vollkommenen erhoben werden. Dadurch sollten die gesetzlichen Hindernisse der Entwicklung aufgehoben werden. Das war eine klare Absage an das kommunistische Gemeinschaftseigentum. 

Die moderne kommunistische Weltanschauung wird nach ihrem bedeutendsten Schöpfer auch „Marxismus“ genannt.  Das erste bedeutende Werk von Marx und Engels war das „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848), das gewissermaßen ein Grundsatzprogramm der kommunistischen Bewegung und einen  Aufruf an alle Proletarier der Welt enthielt, sich zu vereinigen, um den Kapitalismus samt Privateigentum zu beseitigen und eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Dazu sei das Proletariat entsprechend der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. 

Ein zweites grundlegendes Werk der kommunistischen Lehre ist das in den Jahren 1867 bis 1894 im drei Bänden erschienene Werk „Das Kapital“, in dem Marx eine detaillierte Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bietet, als Basis für die nächste Entwicklungsstufe, den Kommunismus.

St. L.  Roths  hat die genannten Werke von Marx und Engels nicht gekannt, da sie außer dem „Manifest der Kommunisten Partei“ nach seinem Tod erschienen sind. Seine Kenntnisse über Kommunismus basierten auf eigenen Erfahrungen und Kontakten. Er hat Personen, Parteien oder Kreise kennengelernt, die kommunistischen Ideen anhingen, oder sich sogar eine auf Gleichheit und Gemeinschaftseigentum fußende Gemeinschaft zu gründen versuchten. Der Gemeinschaftsbesitz war für Roth Beweis für die Existenz kommunistischer Vorhaben. So betrachtete er den gemeinschaftlichen Besitz der Hirten über die Weideplätze als kommunistisches Eigentum, das er ablehnte.

Roth war auch über die Forderungen der Arbeiterbewegung Englands und Frankeichs informiert, so über „Tumulte“ der Arbeiter in Lyon und Manchester und das Eingreifen des Militärs gegen die Aufständischen. Er lehnte Streiks der Arbeiter ab, da er sie als Gefahr für die Gesellschaft sah. Seine  gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen, die er für wichtig hielt, veröffentlichte er in der Presse und mehreren Schriften.  

Die erste bekannte Stellungnahme Roths zur  kommunistischen Bewegung hat er in der Broschüre „Untersuchungen und Wohlmeinungen über Ackerbau und Nomadenwesen“ (1842) veröffentlicht. Wir zitieren daraus: „Die Verwandlung der Gemeindeerde in Privatbesitz erscheint dem Hirten als eine Verkürzung und Schmälerung des Menschenrechtes, die Versündigung an seinem Stande, weswegen er sich denn auch weniger ein Gewissen daraus macht, die Privatgründe hirtenmäßig zu benützen und auszubeuten. Ihm ist Privateigentum nicht  nur eine verhasste Schranke, sondern auch eine Aufforderung, diese Schranken zu überspringen, so oft er es ohne Gefahr der Bestrafung zu tun vermag. Mit seinem Gewissen im reinen, verlegt sich seine Moral auf ein Gebiet der List. Macht man ihn darauf aufmerksam, das Abweidungen jetziger Privatgründe Diebstahl seien, so will er nicht begreifen, wie die Sättigung hungrigen Viehes eine von Gott verbotene Sache sein kann. Weiden im Gras und Holz stehlen gilt ihm für keine Sünde, weil man ja nicht darum gehäufelt habe. Tut er den Weizenfeldern Schaden, so beschwichtigt ihn der Gedanke: dem Eigentum bleibt noch genug, er spürt es nicht, er hat noch übrig. Treibt man ihn mit der Bemerkung in die Enge, dass hier geackert und gearbeitet sei, und zwar nicht durch ihn und auch nicht für ihn, so ist auch da noch ein Türchen offen: arme Leute müssen auch leben.  Diese Behandlung des Privateigentums könnte zum Zeugnis dienen, dass „Kommunismus im Prinzip da sei“, und es fehle nur die Organisation. Sei das auch nicht der Fall, so bewiesen solche Äußerungen doch wenigstens eine große Geringschätzung des siebenten Gebotes.“

Kontakte zur kommunistischen Bewegung

Aus anderen Aufzeichnungen Roths erfährt man einiges über die kommunistische Bewegung jener Zeit, mit der er gelegentlich in Verbindung kam. Außer dem marxistischen Kommunismus gab es auch andere, ältere kommunistische Kreise, die aber weniger Zuspruch fanden, da ihre Mitglieder, meist verarmte Menschen, in freiwilligen künstlichen Lebensgemeinschaften lebten. Dann gab es auch religiöse Gemeinschaften, die in Gütergemeinschaft lebten und aufgrund ihres Glaubens eine Gemeinschaft bildeten. Während seines Deutschlandaufenthalt im Jahre 1845 zur Werbung von deutschen Kolonisten machte Roth in Stuttgart Bekanntschaft mit dem Deutschkatholizismus. 

(Fortsetzung folgt)