Neue Blickwinkel auf Rumänien und sein deutsches Kulturerbe

Zu der Neuerscheinung „Mehrfachbelichtung“. Rumänische Erkundungen. Herausgegeben vom Lese-Zeichen e.V. 2011. Gefördert von der Kulturstiftung des Freistaats Thüringen, 131 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-00-035745-9

 

Diese Lyrik- und Prosaanthologie ist die literarische Ernte zweier Expeditionen, 2009 und 2010, nach Siebenbürgen (Transsilvanien) und das Buchenland, die Bukowina, wie Helge Pfannenschmidt im Vorwort erläutert.
Acht bundesrepublikanische und drei in die Bundesrepublik übersiedelte rumäniendeutsche Autoren erkunden das heutige Rumänien mit tiefen Erinnerungsblicken in seine ostblockdiktatorische Vergangenheit.
Ausgangspunkt sind meist die heutigen von den Siebenbürger Sachsen ganz oder zum großen Teil verlassenen Dörfer.

Birthälm/Biertan, heute UNESCO-Weltkulturerbe als der ehemalige Bischofssitz der evangelischen Landeskirche Siebenbürgens, steht hier exemplarisch für den Mehrfachbelichtungsversuch sowohl in den Bildern von Andreas Berner (S. 75 und 76) wie auch in den Gedichten von Grit Bärenwald: „Sonnenbank in Biertan“, „Kirchenbänke in Biertan“, „Junge in Biertan“ und „Mirabellen in Biertan“.

Auf dem Lande sind die wenigen Zurückgebliebenen noch verlassener als in den Städten, wo die Verbliebenen oft noch zahlreich genug sind, um zusammenzurücken und bewundernswerterweise aktiv rumäniendeutsche Kultur bis auf den heutigen Tag weiterzuführen. „Kirchenbänke in Biertan“ fangen diese Atmosphäre in dem aus einem einzigen Vers in Zeilen gebrochenen Satz ein: „Verschlafen sehe ich nicht / im Taufenster / Tiere treiben, / wandle tagsüber in / verwunderter Kirche, / finde ein Malbuch und / glaube an Kinder.“

Natürlich kommt auch Bran/Törzburg als angebliches Draculaschloss in Friederike Kennewegs Reportage „Nach Bran“ vor. Nicht als romantisches Klischee, sondern als konsumkritische Ernüchterung.

Demgegenüber steht Hansi von Märchenborns Huldigung des siebenbürgisch-sächsischen Schülers und „Kollegen“ der Brüder Grimm - Josef Haltrich. Aus dessen Märchensammlung bringt er das „gewendete“ Hans-im-Glück-Märchen der Siebenbürger Sachsen „Das Hirsekorn“. Das Hirsekorn als einziges Erbe des armen Jungen vergrößert sich laufend im Zuge der Handlung, bis es ihm zum Schluss dann auch noch die Prinzessin einbringt.

So glücklich verlief das Schicksal des rumäniendeutschen Dichters Werner Söllner nicht. Bei diesem auch in der Bundesrepublik renommierten Lyriker gab’s den Schock der Bekanntwerdung seiner Mitarbeit mit dem rumänischen Geheimdienst, der Securitate, der bundesweit in der Presse ausgeschlachtet wurde. Werner Söllner, der selbstkritisch seine damaligen Irrungen und Wirrungen eingestand, veröffentlicht hier vier neue Gedichte, die diese Thematik vertiefen.

Das Gedicht „Meine Haut“ ist eine „schöne“ metaphorische Anspielung auf seine hautnahen Verstrickungen von damals in der alten Heimat Rumänien und wie sie ihn bis heute in der neuen Heimat Deutschland begleiten: „Meine Haut / ist tätowiert von / innen ... / Du sitzt in der U-Bahn / und liest meine Haut / in der Zeitung. / Sie gehört mir / nicht mehr.“

Über seine Erfahrungen mit der Securitate berichtet auch Marius Koity in seinem Beitrag „Keine Romanhelden. Meine alten Tagebücher und andere Papiere.“ Aus zwölf dicken Heften aus der Zeit von 1982 bis 1992 rekonstruiert hier Marius Koity vor allem nach seinen Verhören bei der Temeswarer Securitate die damalige Befindlichkeit eines 23-jährigen Observierungsopfers. Bestürzend ist hier vor allem der Psychoterror, der mit Hilfe der Kenntnis intimer Details vom Verhörungsoffizier angewendet wird. Eigentlich eine fürchterliche Binsenwahrheit, dass jede auch anscheinend noch so unwichtige Information Verhörspezialisten von Nutzen sein kann und es harmlose Informanten gar nicht geben kann.

Martin Straubs abschließender Beitrag „Wo ist Siebenbürgen und wo sind die Leute. Eine Reise zu den Kirchenburgen – ein alter Mann – und Herta Müllers ‚Atemschaukel’“ versucht vor allem der Freundschaftsbeziehung zwischen Herta Müller, der Securitate-Verfolgten, und Oskar Pastior, einem zur Securitatemitarbeit Genötigten, gerecht zu werden.

Ohne Oskar Pastiors Deportation zur Zwangswiederaufbauarbeit in der stalinistischen Sowjetunion 1945-1949 hätte es auch ihren Nobelpreisroman „Die Atemschaukel“ nicht gegeben, aber auch nicht seine Erpressbarkeit durch die Securitate. So erweist sich Herta Müllers Nobelpreis auf Grundlage von Oskar Pastiors tragischem Schicksal als nur die eine Seite der rumäniendeutschen Literatur, die noch viel komplexer ist, wie man jetzt langsam zu ahnen beginnt.