„… so manches getan, um das schwere Los unserer Bauern zu erleichtern“

Über gesellschaftliche, wirtschaftspolitische und kulturelle Initiativen Erwin Wittstocks nach 1945/ Ein Beitrag zum 125. Geburtstag des siebenbürgisch-deutschen Schriftstellers (I) / Von Wolfgang Wittstock

Erwin Wittstock - Kohlezeichnung (1995, Privatbesitz Kronstadt) des Kronstädter Malers und Zeichners Waldemar Schachl (1893-1957).

Erwin Wittstock mit seinem Bruder Oskar (links), bis zur Evakuierung der Familie im Jahr 1952 Fachlehrer für Deutsch und Latein am Honterusgymnasium in Kronstadt, und dessen Sohn Paul (rechts), Arzt in Emmendingen (Baden-Württemberg), bei einem Spaziergang auf der Hill bei Wolkendorf/Burzenland, im November 1960 Foto: Familienarchiv Wittstock

Erwin Wittstock, der vor 125 Jahren, am 25. Februar 1899, geboren wurde, ist einer der bekanntesten Vertreter der siebenbürgisch-deutschen Literatur. Seine Romane - „Bruder, nimm die Brüder mit“, „Das Jüngste Gericht in Altbirk“, „Das letzte Fest“, „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“ (die letzten drei aus dem Nachlass herausgegeben) -, vor allem aber seine ebenfalls vorwiegend aus siebenbürgischen Lebensverhältnissen inspirierten Novellen und Erzählungen (z.B. „Die Verfolgung“, „Miesken und Riesken“, „Das Begräbnis der Maio“, „Ein Ausflug mit Onkel Flieha“, „Der Hochzeitsschmuck“, „Die Begegnung“ u.a.) fanden in vielen Buchausgaben einen breiten Leserkreis, auch in Übersetzungen in andere Sprachen (z.B. rumänisch, ungarisch, französisch oder niederländisch).
Um anlässlich seines 125. Geburtstags an Erwin Wittstock zu erinnern, drucken wir in dieser und in der nächsten Ausgabe der „Karpatenrundschau“ in einer geringfügig überarbeiteten Fassung einen bisher unveröffentlichten Text ab, einen Vortrag, den Wolfgang Wittstock, ein Sohn des Schriftstellers, im Jahr 1999 anlässlich der Feier von Wittstocks 100. Geburtstag im Spiegelsaal des Deutschen Forums in Hermannstadt gehalten hat. Es geht darin um gesellschafts-, wirtschafts- und kulturpolitische Initiativen Erwin Wittstocks in der schwierigen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zu dessen Tod im Jahr 1962.

 

In vielen siebenbürgisch-sächsischen und banatschwäbischen Familien, vor allem solchen, die im ländlichen Bereich, d.h. auf dem Dorfe lebten bzw. leben, wurde bzw. wird in der Mappe mit den wichtigsten Papieren (z.B. Personenstands-Urkunden, Kaufverträgen, Grundbuchauszügen) auch eine Urkunde aufbewahrt, die „Act de proprietate“ (also Eigentums-Dokument) betitelt ist und in den 1950er Jahren ausgestellt wurde. In meiner Dokumentation zu diesem Thema gibt es Kopien derartiger Urkunden, eine aus Wolkendorf (Burzenland), datiert 19. Januar 1956, und eine aus Hahnbach bei Hermannstadt, datiert 30. Juni 1956.

In diesen Urkunden wird das Dekret Nr. 81/1954 erwähnt, für dessen Zustandekommen sich Erwin Wittstock nachdrücklich eingesetzt hatte. Es gibt mehrere gedruckte Quellen, die diesen Fakt belegen, doch bevor ich da-rauf eingehe, möchte ich kurz zusammenfassen, welches die Umstände waren, die die Verabschiedung des Dekrets Nr. 81/1954 des Präsidiums der Großen Nationalversammlung und damit die Rückgabe der sächsischen und schwäbischen Häuser und Höfe auf dem Lande veranlasst haben.

Am 23. März 1945, der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, wurde bekanntlich das Dekretgesetz Nr. 187 für die Verwirklichung der Agrarreform verabschiedet, das für die Rumäniendeutschen einen der schwersten Schicksalsschläge ihrer Geschichte bedeuten sollte. Artikel 3 dieses Gesetzes nominierte die Güter und deren Eigentümer, auf die die Enteignung anzuwenden war. Als erstes, noch vor dem Eigentum der Kriegsverbrecher (Punkt b), wurden bei Punkt a) angeführt: „Ländereien und landwirtschaftlicher Besitz jeder Art, die deutschen Staatsbürgern und rumänischen Staatsbürgern deutscher Nationalität (ethnischer Herkunft), natürlichen oder juristischen Personen, gehören, die mit Hitler-Deutschland kollaboriert haben.“ Und in den Durchführungsbestimmungen für dieses Gesetz wurden (in Art. 3, Punkt c) unter den zu enteignenden Personen die „rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität (Herkunft), die der Deutschen Volksgruppe (im Original: grupul etnic german) angehört haben“, genannt.

Beraubung jeglicher Existenzgrundlage
Die sogenannte Agrarreform war für die Dorfbevölkerung unter den Rumäniendeutschen eine Katastrophe riesigen Ausmaßes, beraubte sie sie doch jeglicher Existenzgrundlage. Entschädigungslos enteignet und sogenannten Kolonisten übergeben wurden nämlich die landwirtschaftlichen Nutzflächen der Rumäniendeutschen, deren Höfe und Gärten, die Wirtschaftsbauten (Scheunen, Ställe, Remisen usw.) mit sämtlichem lebenden und toten Inventar und in sehr vielen Fällen auch die als Wohnungen dienenden Gebäudeteile ihrer Wirtschaften – letzteres offensichtlich ein vom Gesetz nicht gedeckter Übergriff, auf den Erwin Wittstock und andere sächsische Rechtsanwälte bereits in den Jahren der Anwendung der Bodenreform 1945/46 aufmerksam machten. Erwin Wittstock hatte im Jahr 1945 in Hermannstadt ein eigenes Advokatenbüro eröffnet, wo er u.a. sächsische Bauern, die von der Enteignung betroffen waren, beriet. Davon legt eine ziemlich dicke Mappe Zeugnis ab, die sich im Nachlass des Schriftstellers befindet, „Agrarreform 1945“ betitelt ist und diverse Eingaben, Zeitungsausschnitte, die Broschüre mit dem Text des Bodenreformgesetzes, Abschriften behördlicher Verordnungen usw. enthält. Ich erwähne diese Dinge, um zu zeigen, dass Erwin Wittstock, der 1947 nach Kronstadt übersiedelte, die tragische Situation des enteigneten sächsischen oder schwäbischen Landwirts sehr gut kannte. Und dass er in Fragen des immobilen Eigentums über solide juristische Kenntnisse verfügte, hatte er bereits mit der 1931 erfolgten Veröffentlichung der Studie „Die Liquidierung des sächsischen Nationalvermögens und die Enteignung der Sieben-Richter-Waldungen“ nachdrücklich demonstriert.

Ein Brief an die Zeitung „Neuer Weg“ in Bukarest
Dafür, wie bei der Enteignung im Jahr 1945 in der Praxis vorgegangen wurde, gibt es im Erwin-Wittstock-Archiv ein eindrucksvolles Zeugnis, das in der „Karpatenrundschau“ Nr. 32 vom 9. August 1990 unter dem Titel „Seit der Agrarreform die erste Kuh…“ mit dem Untertitel „Ein Brief als Zeugnis zum Fragenkomplex: Warum wandern die Deutschen aus Rumänien aus?“ veröffentlicht wurde. Dieser Brief ist mit dem Namen Sara Schuller unterzeichnet und an die Redaktion der Zeitung „Neuer Weg“ in Bukarest gerichtet. Da aber Sara Schuller aus Schaas bei Schäßburg zeitweilig im Hause Wittstock in Kronstadt als Haushilfe tätig war, kann eigentlich mit hundertprozentiger Sicherheit angenommen werden, dass Erwin Wittstock selbst diesen mit dem 8. April 1954 datierten Brief (fast vier engbeschriebene Schreibmaschinenseiten) konzipiert und redigiert hat. Ich lese daraus einen bezeichnenden Absatz vor, der zeigt, wie bei der „Agrarreform“ vorgegangen wurde:

„Zur Zeit der sozialistischen Agrarreform im Frühjahr 1945 wurden Haus, Hof und Felder meiner Eltern Georg Schuller und Sophia geb. Schuller, trotzdem wir nur Kleinbauern waren, total enteignet und ein rumänischer Bauer aus unserem Dorfe namens Zaharie Rohan als Kolonist in unseren Hof eingesetzt, wo ihm die gemauerte, im Erdgeschoss unseres Hauses befindliche Sommerküche als Wohnraum und sämtliche Nebengebäude zur Benützung überwiesen wurden. Durch die Agrarreform erhielt er zwei Kühe, zwei Schweine, Wagen, Pflug, Egge, Schlitten, Schafe usw., so dass er alles besaß, was zum Betrieb einer Bauernwirtschaft gehört, und sich auch noch in die Lage versetzt sah, sich nach kurzem in Schäßburg ein Haus mit Hof und Gärtchen zu kaufen, das er vermietet und auch heute noch besitzt.
Als dieser Zaharie Rohan 1946 heiratete, wurde das Zusammenleben mit ihm für meine Eltern und uns Kinder wegen der Zanksüchtigkeit, Brutalität und Unredlichkeit dieser Kolonistenfamilie zur wahren Höllenqual. (…)

Die Benutzung von Stall, Scheune und Schopfen ist uns ebenso von allem Anfang verboten gewesen. Da wir ein Schwein hielten, mussten wir uns einen besonderen Stall bauen, die Schafe mussten wir bei meinem Onkel halten, der am anderen Ende des Dorfes wohnt.“
In Siebenbürgen, im Banat und im Sathmarland wurden 1945 rund 120.000 Bauernhöfe enteignet (siehe die Dokumentation „Die Deutschen in Rumänien 1918 – 1940 – 1945 – 1985. Zur Geschichte ihres Niedergangs“ von Hans Hartl, o.O., o.J., S. 42). In Südsiebenbürgen fielen 33.700 von 34.500 sächsischen Höfen der Enteignung zum Opfer (die restlichen 800 gehörten sächsischen Soldaten, die in der rumänischen Armee dienten, es also vermieden hatten, zur Waffen-SS einzurücken und damit der Totalenteignung entgingen).

Zeitweiliges ideologisches Tauwetter, dank Stalins Tod
Die Ex-lex-Periode, die für die Rumäniendeutschen mit dem Umschwung vom 23. August 1944 eingesetzt hatte, ging erst 1948 zu Ende. Damals beschloss die rumänische Regierung, das Nationalitätenstatut von 1945 auch auf die Rumäniendeutschen anzuwenden. Dass Mitte der 1950er Jahre eine lockerere, offenere Minderheiten- und Kulturpolitik, ein zeitweiliges ideologisches Tauwetter verzeichnet werden konnte, hängt wohl ursächlich mit Stalins Tod zusammen. 

In dieser Zeit wurde auch das schon eingangs erwähnte Dekret Nr. 81 des Präsidiums der Großen Nationalversammlung verabschiedet, das mit dem 18. März 1954 datiert ist und das die Rückgabe der 1945 enteigneten sächsischen und schwäbischen Bauernhöfe verfügte. Dieses Dekret und auch der Ministerratsbeschluss Nr. 370/1954, der die Anwendungsbestimmungen enthielt, wurden in den folgenden Jahren noch mehrfach abgeändert und ergänzt.

Wie bereits erwähnt, gibt es mehrere schriftliche Quellen, die bezeugen, dass Erwin Wittstock beim Zustandekommen des Dekrets Nr. 81/1954 eine nicht unwichtige Rolle gespielt hat:

1. In den Jahren 1991, 1992 veröffentlichte die Bukarester Tageszeitung „Neuer Weg“ Erinnerungen des Juristen Dr. Wilhelm Klein (1888-1976) an bedeutende siebenbürgisch-sächsische Persönlichkeiten, insgesamt rund 30 Lebensbilder, darunter auch eines, das Erwin Wittstock gewidmet war. Ich zitiere daraus:

„Ab 1954 führte mich mein Dienstverhältnis ab und zu nach Kronstadt, und ich verfehlte selbstverständlich nie, Erwin zu besuchen und mit ihm und seiner interessanten Familie viele Stunden des Tages und auch der Nacht in freundschaftlichen Gesprächen zuzubringen. 
In jenen Jahren fand ich Erwin zwar unverändert in seiner Freundschaft zu mir, aber doch gewandelt vor. Der Ernst des Lebens, die Umstände, unter denen er leben musste, die wachsende Familie und die Zeichen einer beginnenden Krankheit, von der er in Ostberlin vergebens Heilung suchte, konnten an ihm nicht spurlos vorübergehen. Immer wieder aber hat er sich zu neuer Arbeit aufgerafft, und neben seiner intensiven Tätigkeit als Schriftsteller, von der wir bis jetzt durch die Veröffentlichungen seines Sohnes Joachim schon reichlich Kenntnis bekommen haben, hat Erwin so manches getan, um das schwere Los unserer Bauern zu erleichtern. Ich erinnere mich einer Nacht, in der Erwin zusammen mit Dr. Hans Balthes eine diesbezügliche bemerkenswerte Denkschrift ausgearbeitet hat, an der ich, da ich zufällig dazukam, als besserer Kenner der rumänischen Sprache mitarbeiten durfte.“

(Fortsetzung in unserer nächsten Ausgabe)