TIFF - Transilvania International Film Festival 2012

11 Gedanken über die 11. Auflage

TIFF 2012

Szenenfoto aus „Despre oameni şi melci“, Regie: Tudor Giurgiu.
Foto: Adi Marineci

Seit sieben Jahren bedeutet Anfang Juni für mich nur eins: Internationales Filmfestival Transilvania (TIFF) in Klausenburg. Dann heißt es wieder: übervolle Kinosäle, Warteschlangen, hektische Diskussionen nach jedem Film, dutzende von speziellen Events (Theater, Workshops und Masterclasses mit wichtigen Namen der Filmbranche, Konzerte, Open-air Vorstellungen, Partys), wenig Schlaf und eine gewisse Frustration, dass man nicht überall hin- kommen kann. Auch dieses Jahr, bei der 11. Auflage des Festivals, hat sich Klausenburg für 10 Tage (1.-10. Juni) in die Hauptstadt des Films verwandelt.

TIFF brach wieder einmal alle Rekorde: an 10 verschiedenen Standorten wurden 241 Filme aus 46 Ländern gezeigt (21 mehr Filme als im vergangenen Jahr), fast 70.000 Zuschauer haben das Festival dieses Jahr besucht, darunter 1330 Gäste und akkreditierte Journalisten. An der Organisation des vielleicht wichtigsten Kulturevents in Rumänien haben 300 Profis und 493 Volontäre mitgemacht – ein Zeichen, dass das Festival immer größer und größer wird. Ob das gut ist?

Laut Dieter Kosslick, Direktor der Berlinale, der in diesem Jahr zum ersten Mal das TIFF besucht hat, sollte sich das rumänische Festival möglichst in diesen Grenzen halten, und nicht zu groß werden, um sein Charme nicht zu verlieren. Als großer Fan des Festivals wünsche ich mir dasselbe. Nach mehr als 20 „verschlungenen“ Filmen (leider habe ich „Oslo, 31. August“, den diesjährigen Gewinner, verpasst) herrscht ein großes Chaos in meinem Kopf.

Trotzdem bin ich bei der 11. Auflage mit Sachen geblieben, an die ich mich immer erinnern werde. Es sind nicht nur Filme, weil ein Festival natürlich nicht nur aus Filmen besteht. Hier folgt mein persönlicher Top 11 (die Reihenfolge ist pur zufällig):

1. TIFF ist gefährlich - man kann an Filmüberdosis sterben

Es gibt leidenschaftliche Kinofans, die sich auf das TIFF wie auf Weihnachten freuen. Sie werden Tiffer genannt und ohne sie wäre das Festival kaum vorstellbar. Man erkennt sie leicht- sie rennen von Kino zu Kino, in der einen Hand einen Becher Kaffee, in der anderen ein vollgekritzeltes  Programm. Viele von ihnen nehmen sich extra Urlaub für das Filmfestival und fahren stundenlang Zug oder Bus, nur um nach Klausenburg zu kommen und 5-6 Filme pro Tag zu sehen. Am Ende des Festivals haben sie dann eine Überdosis Filme zu sich genommen.

Den Tiffern sind die beiden diesjährigen Festival-Werbespots gewidmet. Beim ersten beweinen Freunde und Familie den frühen Tod eines leidenschaftlichen Kinoliebhabers, der an einer Überdosis Filme gestorben ist. Beim zweiten geht es über einen Tiff-Fanatiker, der Tag für Tag nur Filme anschaut. Genervt wirft seine Frau die Fernbedienung aus dem Fenster, und diese landet genau … im Auge des Mondes, eine Anspielung auf den berühmten Film „Die Reise zum Mond“ von Georges Méliès (1902). Auch die Werbeplakate aus diesem Jahr sprechen über Filmüberdosis. Auf ihnen ist die Grabinschrift auf einem Kreuz eines an Filmüberdosis Verstorbenen  aus dem „Fröhlichen Friedhof“ in Săpânţa zu sehen.

2. Man sollte seine Zeit bei TIFF nicht nur in Kinosälen verbringen...

...und wenn man einen wichtigen Film verpasst hat, ist das kein Weltuntergang. Zu dieser Erkenntnis bin ich bei dieser Auflage des Festivals gekommen. Auch die Zeitung „Aperitiff“, die jeden Tag während des Festivals erscheint und in der man nützliche Tipps, Interviews  und Filmchroniken lesen kann, rät dazu, die schönen Orte in Klausenburg zu entdecken. In einer längeren Pause zwischen zwei Filmen kann man wunderbare Cafés in versteckten Gassen entdecken, auf dem See im großen Park mit einem Boot in Form eines Schwans fahren, köstliche Krautgerichte auf der Eroilor-Straße ausprobieren, witzige TIFF-Souvenirs kaufen oder auf einer Bank in der Sonne Kirschen essen.

3. Man kann auf der Straße oder in einem Cafe auf einen Filmstar treffen

Natürlich ist die Dichte von Stars nicht so groß wie in Cannes oder Berlin, aber dafür gibt es in Klausenburg viel größere Chancen, dass man ein Autogramm bekommt.

Schon in den vergangenen Jahren waren Persönlichkeiten der Filmindustrie nach Klausenburg gekommen, die TIFF-Veranstalter ehrten sie mit dem Preis für die gesamte Karriere. Dazu zählten Julie Delpy, Annie Girardot, Udo Kier, Vanessa Redgrave, Franco Nero, Catherine Deneuve, Claudia Cardinale, Wim Wenders und Jacqueline Bisset. Dieses Jahr war der Ehrengast des Festivals Geraldine Chaplin. Bei der Gala am Abend das 9. Juni sagte sie, dass Rumänien das erste fremde Land sei, von dessen Existenz sie als Kind gehört hat, da die Frau ihres Onkels, Sydney Chaplin, von hier stammt.

4. Sehr lange Filme sind nicht unbedingt langweilig

Ein echter Kinofan sollte imstande sein, lange und sehr lange Filme zu sehen. In diesem Jahr sah ich gleich zwei solche Marathon-Produktionen: der dreieinhalb stündige russische Film „Chapiteau Show“ des Regisseurs Sergej Loban (bestehend aus vier grotesk-komischen Geschichten die sich gleichzeitig am russischen Schwarzmeerstrand zutragen) und das fünfstündige deutsche TV-Projekt „Dreileben“ ( die Regisseure Christian Petzold, Dominik Graf und Christoph Hochhäusler beleuchten einen Kriminalfall aus drei Blickwinkeln und schaffen eine spannende und interessante Geschichte). In beiden Fällen hat es sich gelohnt: die skurrilen Charaktere aus „Chapiteau Show“, der in Klausenburg den Publikumspreis gewann, sind so sympathisch, dass man sie am liebsten in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen will, und bei „Dreileben“ bemerkt man gar nicht, wie die Zeit vergeht – die Geschichte vom aus einem Krankenhaus ausgerissenen Mörder ist viel zu fesselnd.

5. Manchmal braucht man einen Schwarzweiß-Film über Liebe und Krokodile

Ein wirkliches „Must See“ des diesjährigen TIFF war der portugiesische Film „Tabu“ des Regisseurs Miguel Gomes, der im Februar im Wettbewerb der Berlinale war und den „Alfred-Bauer“-Preis erhielt. Der Schwarzweiß-Film erzählt die Geschichte der alten Aurora und deren kapverdischen Haushälterin Santa, die Tür an Tür mit Pilar leben, deren Lebensinhalt es ist, Gutes zu tun.

Was ihr kaum jemand dankt, schon gar nicht die notorisch misstrauische Aurora, die ihren Lebensabend damit verbringt, ihre Rente im Casino zu verspielen. Als die alte Frau stirbt, findet Pilar in Auroras Hinterlassenschaften einen Brief an einen alten Liebhaber. Sie schickt ihn ab, und so beginnt in einer Rückblende der zweite Teil des Films: eine abenteuerliche Liebesgeschichte aus dem kolonialen Afrika, voll von Leidenschaft, Schüssen und … Krokodilen. Man wird in eine andere Welt versetzt, was bei vielen anderen Filmen nicht geschieht, denn die meisten handeln vom Alltag. „Tabu“ wirkt wie eine Oase inmitten einer Film-Wüste voll von deprimierenden Bildern und schockierenden Erzählungen.

6. Rumänische Kurzfilmmarathons verbergen Juwele

Die rumänischen Kurzfilme lasse ich mir in keinem Jahr entgehen. Bei jeder Auflage des Festivals werden etwa 15 gezeigt, und immer entdecke ich zwischen ihnen einen kleinen „Edelstein”. Dieses Jahr war die Kurzfilmproduktion leider nicht so erfolgreich. Trotzdem gab es einen (sehr kleinen) Edelstein, und zwar „Sink” in der Regie von Iulia Rugină. Er handelt vom Nachmittag des 31. Dezember – an dem man entweder weiß, zu welcher Silvesterparty man gehen wird, oder verzweifelt Bekannte anruft, um nur nicht in der Nacht zwischen den Jahren alleine zu bleiben.

7. Man sollte sich wenigstens einen Film über Jugendliche anschauen

Dieses Jahr gab es viele Filme, die von Jugendlichen und ihren Problemen handeln. Bei allen geht es um die erste Liebe, um Generationenkonflikt und Suche nach Identität. Was bleibt, nachdem man so viele Filme über Jugendliche gesehen hat, sind einige Figuren: die übergewichtige Lena aus dem gleichnamigen Film des belgischen Regisseurs Christophe Van Rompaey, in die sich sowohl der delinquente gleichaltrige Daan verliebt, als auch sein Vater Tom, die 15-jährige Alma aus dem norwegischen „Turn me on, damn it”, die in einem abgelegenen Bergdorf lebt, Tagträume über ihren Mitschüler Arthur hat  und sich nach Oslo sehnt, die sanfte Ayse aus dem Film des kurdisch-österreichischen Regisseurs Umut Dag „Kuma” (auf türkisch: Zweitfrau), die aus der Türkei nach Österreich in eine Zwangsehe mit einem viel älteren Mann gebracht wird, die verrückte Jasna aus dem serbischen Film „Klip”, die alles, was sie erlebt, mit ihrem Handy filmt.

8. Von Menschen und Schnecken...

...heißt der neue Film des Regisseurs Tudor Giurgiu. Die Handlung  spielt 1992, genau zu der Zeit als Michael Jackson zum ersten Mal nach Bukarest kam, in der Kleinstadt Câmpulung-Muscel. Die staatliche Automobilfabrik ARO ist pleite und wird in einer Woche privatisiert. Der Käufer ist eine französische Gesellschaft, deren Leiter verkünden, dass sie vorhaben, die Fabrik in eine Schneckenzuchtanlage zu verwandeln. Die über 1000 Arbeiter werden gefeuert. Und George, der Gewerkschaftsleiter, kommt auf eine verrückte Idee: wenn alle Arbeiter als Samenspender je 300 Dollar verdienen würden, könnten sie zusammen die Fabrik kaufen und somit ihre Arbeitsplätze retten. Ein Film voller Humor über die Anfänge der rumänischen Transition, obwohl einem ab und zu das Lachen im Hals stecken bleibt.

9. Michael vergisst man nicht leicht

Über den österreichischen Film „Michael”, der Debütfilm des Regisseurs Markus Schleinzer, der voriges Jahr in Cannes Aufsehen erregte, kann man nicht sagen „wow, toller Film”. Denn es ist kein schöner Film. Aber er befindet sich unter den besten Filmen, die ich je bei TIFF gesehen habe. „Michael” beschreibt die letzten fünf Monate unfreiwilligen Zusammenlebens des 10-jährigen Wolfgang mit dem 35-jährigen Michael. Hinter einer schweren Metalltür im Keller seines Reihenhauses hält ein Versicherungsbeamter das Kind gefangen, das er entführt hat. Im „normalen Leben“ ist Michael ein fleißiger Versicherungsbeamter, geht in der Freizeit mit Freunden Skifahren. Nachdem er die Tür seines Hauses betritt, wird er zum Monster. Bei diesem Film läuft einem kalter Schweiß über den Rücken. Man hat einen Kloß im Hals. Andere Filme vergisst man schon beim Verlassen des Kinos, diesen Film kann man nicht vergessen.

10. Unbeantwortete Fragen...

… gibt es jedes Jahr. Diesmal sind sie: Warum kam der in Cannes preisgekrönte Film „După dealuri” („Hinter den Hügeln”) des Regisseurs Cristian Mungiu nicht ins Festival? Warum gehen die meisten Klausenburger nicht zu TIFF?

11. Die TIFF-Atmosphäre bleibt das ganze Jahr...

...weil es ab 2012 das TIFF-Haus (Casa TIFF, gegenüber des Arta-Kinos) gibt. Auf den 1000 Quadratmetern wird es das ganze Jahr hindurch Workshops und Trainings geben, es gibt ein Café und einen Club im Untergeschoss, nostalgische TIFF-Fans können hier Tag für Tag ein bisschen Festival-Atmosphäre finden und ab und zu sogar Filme sehen … damit das Warten bis zu TIFF 2013 nicht so lang erscheint.