Victoria – eine ehemalige Industriestadt am Fuße der Berge sucht nach einer neuen Identität

Eine Fotoreportage von Elise Wilk und Laura Căpățână Juller

Fotos: Laura Căpățână Juller

 

Nur acht Kilometer sind es vom Nationalweg DN1 bis nach Viktoriastadt. Nachdem wir auf der DN 1 bei Ucea nach links abbiegen, erscheint plötzlich das Fogarascher Gebirge vor uns. Bald passieren wir das Stadtschild: ein riesiges weißes V aus Marmor, auf dem der Name der Stadt eingraviert ist. Ein Name, der dem Sieg des Sozialismus gewidmet wurde. Gleich nach dem steinernen V beginnen schon die Plattenbausiedlungen. Wir parken das Auto und gehen ein wenig zwischen den Blocks spazieren. Es sieht so aus, als ob die Zeit hier seit Anfang der 90er Jahre stehen geblieben wäre. Wir sind in der einzigen „künstlichen“ Stadt Rumäniens, die 1948, in den ersten Jahren des Kommunismus, entstanden ist. Ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 1937, hatten Unternehmer aus der Tschechoslowakei das Chemiewerk Ucea am Fuße der Fogarascher Gebirge gegründet. Nach der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei kam das Werk in Besitz des deutschen Staates und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es eine soviet-rumänische Gesellschaft, „Chemisches Kombinat Stalin“ genannt. Für alle, die in dieser Fabrik arbeiten sollten, wurden Wohnungen gebaut. So entstand die Stadt, in der heute noch knapp 6000 Einwohner leben. In der Fabrik arbeiten die meisten nicht mehr – das Chemiewerk, das jetzt Viromet heißt, befindet sich in Insolvenz.


Filmkulisse und Öko-Desaster
Hinter den grauen, vierstöckigen Wohnblocks erhebt sich majestätisch das Gebirge, die Spitzen sind noch mit Schnee bedeckt. Das Bild ist uns bekannt. Im Sommer 2016 war das Wohnblockviertel, in dem wir spazieren gehen, auf der Leinwand der Filmfestspiele aus Cannes zu sehen. Mit dem Film „Bacalaureat”, der im Sommer 2015 in Viktoriastadt gedreht wurde, erhielt Cristian Mungiu in Cannes den Preis für die beste Regie. Doch es ist nicht der einzige Film, in dem die Stadt als Kulisse dient. In „Victoria” (2010), einem Dokumentarfilm von Adrian Voicu und Ana Vlad, geht es um die Verbindung der Bürger zu ihrer Stadt. Vor nur ein paar Jahrzehnten waren alle Einwohner jung, sie hatten einen Arbeitsplatz bei der Chemiefabrik und eine Wohnung, sie gründeten Familien. Damals gab es noch ein Kino, an deren Kasse man jede Woche Schlange stand.

Heute ist Viktoria eine Stadt, die langsam verschwindet. Die jungen Leute sind weggezogen, nach Hermannstadt, Kronstadt oder ins Ausland. Die Alten leben aus Erinnerungen. Die eine Szene aus dem Dokumentarfilm, die man nicht vergessen kann, zeigt ein paar Nachbarn, die sich in der Küche unterhalten. Sie sprechen über Bekannte, die an Krebs gestorben sind, nachdem sie jahrelang bei der Viromet-Chemiefabrik gearbeitet haben. „Purolite wird bald auch seine Opfer fordern“, meint einer von ihnen. Er spricht über den amerikanischen Konzern, weltweit führender Hersteller für Ionenaustauschharze, der 1995 nach dem Zusammenschluss mit Viromet eine Fabrik in der Stadt eröffnet hat. Damals schien es eine Rettung zu sein – nach der Privatisierung des Chemiewerks im Jahr 1990 folgten massive Entlassungen und die meisten Leute blieben ohne einen Arbeitsplatz. Mehrere ehemalige Angestellte des Chemiewerks Viromet gingen 1995 „zu den Amerikanern“. Doch es gab eine Kehrseite der Medaille – nach kurzer Zeit fingen Gesundheitsprobleme an. Nicht nur die Menschen bekommen es zu spüren, sondern auch die Natur – Flora und Fauna sind betroffen, die Wasser trüb, die Ernten knapp, die Luft ist schlecht. Heute hat Purolite 300 Mitarbeiter.

„Es ist schön, dass ihr über die Stadt schreiben wollt“, meint ein Mitarbeiter des Kulturzentrums, einem Betonklotz mitten in der Stadt. In der Bibliothek dürfen wir auf den Fenstersims klettern und Fotos vom schönen Panorama machen. Der Grund, weshalb wir hier sind, ist ein Zeitungsartikel, der auf das Potential der Stadt aufmerksam machte. Es ging darum, ein neues, modernes Wohnviertel für digitale Nomaden zu gründen. Das sind Leute, die ortsunabhängig arbeiten und dafür nur einen Internetanschluss und ein Laptop brauchen. Mit niedrigen Mietpreisen und mit der schönen Ansicht auf das nahegelegene Fogarascher Gebirge wollte man die Leute nach Viktoriastadt locken.

Wenn man sich die Landschaft anschaut, ist die Stadt wirklich ideal gelegen. Bloß war es bisher sehr schwierig, dieses immense touristische Potenzial auszunutzen. Initiativen gab es jedoch in der Vergangenheit.

Roter Teppich auf den Treppen des Kulturhauses

Im Jahr 2010 organisierte Siemens einen Wettbewerb, Studenten wurden damit angesprochen, es wurden Ideen für urbane Entwicklung gesucht, ausgehend von der Frage: Gibt es die Möglichkeit, dass sich Viktoriastadt nachhaltig entwickeln kann? Es wurden Lösungen für mehrere Bereiche gesucht: Transport, Energie, Industrie, Gesundheit. Dafür sollten moderne Technologien angewandt werden. Inspirationsquelle für den Wettbewerb war der Dokumentarfilm über die Stadt. Doch die Lösungen blieben leider nur auf dem Papier. Trotzdem schien es für eine kurze Zeit, dass es für die Stadt bergauf gehen wird. Zwischen 2013 und 2016 wurde in Viktoriastadt ein Filmfestival organisiert. Initiator des Prokjekts war der Schauspieler Andrei Morariu, der in der Stadt aufgewachsen ist.

Mit dem Slogan „Kleine Stadt. Großes Festival“ hat das Ereignis zahlreiche rumänische Schauspieler, Regisseure, Produzenten, aber auch Filmliebhaber aus dem ganzen Land angezogen und die Einwohner aus Viktoriastadt aus ihren Häusern gelockt. Sie wurden wie bei den bedeutendsten Filmfestivals der Welt empfangen, und zwar mit einem langen roten Teppich auf den Treppen des Kulturhauses. Diese Gelegenheit ließen sich manche Großeltern nicht entgehen und brachten ihre Enkelkinder ins Kino, um ihnen Filme auf großem Bildschirm zu zeigen. Mitte der 1990er Jahre wurde das Kino geschlossen, sodass die Kinder, die danach zur Welt kamen Leinwandgeschichten nur im Fernseher, auf dem Tablet oder Handy-Bildschirm gesehen hatten. Lehrer kamen mit Schulklassen zu Vorführungen, besprachen danach das Gesehene. Fotos zeugen von vollen Sälen.

Das Festival brachte nicht nur viele neue nationale Produktionen in die Stadt, sondern auch das Konzept des Kinos unter freiem Himmel, auf dem Fußballfeld und der Sportstätte. Es ermöglichte dem Publikum Treffen mit Mitgliedern von Filmteams, Konzerte und Partys, Kinder besuchten Fotografieworkshops. Dafür setzten sich dutzenden Freiwillige wochenlang ein, darunter auch Schüler des Theoretischen Lyzeums und des Technischen Kollegs, wie auch die Lokalbehörden, die unter anderen die Sportstätte renovierten. Ob die um Morariu gewachsene dynamische Gruppe das Festival wieder aufnehmen wird, ist nicht gewiss, würde der Stadt allerdings viele Vorteile bringen.

Auch die Wiedereröffnung des Strandbads würde positive Effekte haben. Das Mitte der 1960er Jahre für sein warmes Wasser begehrte Olympische Schwimmbecken, wo die Polo- und Schwimm-Nationalmannschaften, aber auch Sportler unterschiedlicher Klubs bis zur Wende Trainingslager machten, steht seit Ausbruch der Pandemie geschlossen. Vor dem blauen Metallzaun, der mit einem glänzenden Metallschloss verriegelt ist, stehen wir auf Zehenspitzen und schauen durch kleine Ritzen auf das nach der Wende zur Sportanlage umgebaute Gebiet. Es sieht ungepflegt aus. Auf dem Tennisplatz, wie auch auf dem Basketball- und dem Volleyballfeld, die nach der Wende gebauten wurden, wächst Unkraut, das Schwimmbecken sieht verwahrlost aus. Die Tür einer Umkleidekabine neben dem Strand steht halb offen, doch alles ist regungslos.

Georgische Häuser und das Restaurant „Paradis“
Viktoriastadt hat sich sehr gut auch für eine internationale Sommerschule und Künstlerresidenz geeignet, die die gebürtige Viktoriastädterin Soziologin und Forscherin Dana Diminescu (Frankreich) gemeinsam mit Künstlerin Tincu]a Heinzel (England) 2019 koordinierten. Im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts „Orașe utopie/Societăți programate“ (Utopische Städte/Programmierte Gesellschaften) machten Teilnehmer aus mehreren europäischen Ländern, ausgehend von der kleinen rumänischen Stadt und dessen Chemiekombinat, eine komplexe Radiographie utopischer Städte, besprachen unter anderem Themen wie Rekonfigurationen von Städten, Städte im Niedergang oder auch über Kommunismus. Das Projekt wurde mit einer Ausstellung beendet. Zum Mittagessen gehen wir in eines der drei Restaurants der Stadt. Der riesige Saal in rot- und beige-Tönen wurde ursprünglich als Kantine für 300 Leute gedacht. Mit dessen Privatisierung, nach der Wende, wurde sie umbenannt und ist nun als „Paradis“ bekannt. Nichts im Raum erinnert an das Paradies, die Beleuchtung ist dämmrig, die modernen Musiktöne total unpassend zur kommunistischen Architektur und Dekoration. Der Hunger ist aber groß, das Essen nicht schlecht. Bis die Mici mit Senf, die wir bestellt haben, vor uns stehen, erfahren wir von der jungen Kellnerin, dass an warmen Tagen die Terrasse des Lokals gut besucht ist. Auf der Hauptstraße im Zentrum, anfangs Leninstraße, nun Mihai Eminescu-Straße genannt, bewundern wir die meist grün gefärbten einstöckigen „georgischen Häuser“, wie sie etwa in der Altstadt von Tiflis noch zu sehen sind. Durch Elemente georgischer Architektur, wie hölzerne Balkons oder geschlossene Erker mit reichem Schnitzwerk, brachte Georgier Longinoz Sumbodze, der Architekt der die Stadt projizierte, einen Hauch Exotismus in die Plattenbau-Stadt.

„Wenn alle von hier wegziehen, gibt es keine Zukunft mehr für die Stadt“
„Unsere wichtigste Priorität ist jetzt, Arbeitsplätze zu schaffen“, meint der Vizebürgermeister Cristian Iosipescu von der USR, als wir ihn fragen, wie das Projekt für digitale Nomaden vorangeht. Seit den Wahlen im Herbst 2020 gibt es eine neue Stadtleitung, die jetzt andere Pläne bevorzugt. „Falls wir die wichtigsten Probleme der Stadt lösen, können wir auch auf diese Idee zurückgreifen. Es ist nicht schlecht, dass Leute in unsere Stadt kommen wollen, um von hier aus zu arbeiten. Doch was tun diese Leute, wenn Feierabend ist? Wir müssten ihnen gute Alternativen zur Freizeitgestaltung bieten, und das gibt es zur Zeit leider nicht.“ Iosipescu wurde in Bukarest geboren und zog als Kind ins Fogarascher Gebirge, wo seine Eltern die Schutzhütte Podragu verwalteten. Er ging in Viktoriastadt ins Lyzeum, danach ging es nach Hermannstadt und Kronstadt zum Studium. 2006 kehrte Iosipescu zurück in seine Heimatstadt. „Wenn alle von hier wegziehen, gibt es keine Zukunft mehr. Ich bin einer von denen der hier geblieben ist, um eine Zukunft für die Stadt aufzubauen“, meint er.

Zurzeit ist das Chemiewerk Viromet in Insolvenz und die Stadtverwaltung weiss noch nicht, was der Geschäftsführer Ion Niculae vorhat. Wegen der Ableitung von nicht gereinigtem Abwasser in die Flüsse wurden dem Unternehmen Viromet in der Vergangenheit Rekordstrafen von der Kronstädter Umweltaufsicht verhängt. Jetzt hofft man, das Umweltproblem zu beseitigen. Andere wichtige Projekte sind die Wiedereröffnung des städtischen Krankenhauses, das 2011 geschlossen wurde. Auch im Bereich Tourismus sollte sich etwas tun: „Unser großer Nachteil ist, dass wir wie eine Art Insel sind – alle Böden, die uns umgeben, gehören anderen Ortschaften. Doch von Viktoriastadt kann man wunderbare Bergwanderungen unternehmen, unter anderen zum höchsten Gipfel Rumäniens, dem Moldoveanu. Letztes Jahr war das Hotel im Zentrum an den Wochenenden voll ausgebucht. Die Preise sind niedriger als in anderen Ortschaften und das Gebirge ist nahe. Man kann von Viktoriastadt aus bis zur Podragu-Hütte wandern, dort übernachten und dann am nächsten Tag zum Moldoveanu-Gipfel und zurück.“

In seiner Freizeit arbeitet Iosipescu als Karate-Trainer für Kinder und Jugendliche. Seiner Meinung nach muss man den jungen Leuten aus der Stadt so viel wie möglich bieten. „Es wäre schade, wenn wir diese Stadt nicht wiederbeleben könnten.“