Was der Mensch ist

Der Shaolin-Mönch Shi Yan Yan in Kronstadt

Konzentriert schöpft der Mönch Atem.

Der Shaolin-Mönch Shi Yan Yan in Kronstadt

Gleich biegen sich die Speere, einer bricht. In der Mitte: Bernhard Moestl. Links: Freiwilliger aus dem Publikum.
Fotos: Ralf Sudrigian

Shi Yan Yan kommt mit einem Eisenstab auf die Bühne. Er kniet sich auf den Holzboden und schließt die Augen. Die Adern an der rechten Seite der Stirn treten hervor. Er hebt den Stab hoch und schlägt ihn sich mit voller Wucht auf den Kopf.

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Die Veranstaltung beginnt verspätet. Mit jeder Minute steigert sich die Spannung im Studenten-Kulturzentrum. Die Kinder und jungen Erwachsenen im Publikum mutmaßen tuschelnd, was der Mönch an diesem Abend zeigen wird. Fünfzehn Minuten nach sieben betritt Veranstalter Bernhard Moestl die Bühne. Bevor das Spektakel losgeht, spricht er einige Grußworte. Der österreichische Unternehmer hat viele Jahre in China verbracht und coacht heute westliche und osteuropäische Führungskräfte, indem er ihnen fernöstliche Gedanken nahebringt. Er steht neben dem Banner seines Unternehmens, hinter ihn werden seine kommenden Seminare auf die Leinwand projiziert, auf das nächste Seminar erhalten die Zuschauer einen dreißigprozentigen Rabatt. Die Veranstaltung ist auch eine Werbeaktion. Im Mittelpunkt aber steht kein Unternehmen, sondern der Mensch.

Mönch

Shi Yan Yan ist Shaolin-Mönch und Kung-Fu-Meister. Er wird 1984 geboren und kommt mit sieben Jahren ins Shaolin Kloster. Vor acht Jahren schickte ihn sein Kloster nach Deutschland; dort lehrt er seither Meditation. Von Gestalt ist er schmächtig und eher klein; wie romantisch, befreiend, ja, erlösend ist die Vorstellung, dass dieser Mann es mit einem Dutzend aufgepumpter Soldaten aufnehmen kann. Der Geist kann über das Fleisch triumphieren! Wobei der Mönch, trotz seiner Schmächtigkeit, ein Kraftpaket ist: Er wirbelt über die Bühne, biegt spitze Speere, indem er sich mit seinem Hals dagegenstemmt und zerschlägt einen Eisenstab auf seinem Kopf, dass der in drei Teile zerspringt.

Noch beeindruckender als die Tatsache, dass er dies kann, ist, dass er es hier kann. Ein Mönch übt und lernt in einem Kloster, unter Gleichgesinnten, in einer Atmosphäre der Konzentration. Im Studentenkulturzentrum blendet ihn Scheinwerferlicht, das manchmal flackert, Fotoapparate klicken und blitzen, Fotografen und Filmer rennen vom einen Ende der Bühne zum anderen, Kinder flüstern und husten. Und in all dem Trubel weiß der Mönch, dass er sich konzentrieren muss, weil es sonst gefährlich wird - reißt ihn da nicht jedes einzelne der vielen Geräusche aus seiner Konzentration? Ist nicht das, was man ausblenden muss, stets das, was sich aufdrängt? Haben Sie einmal versucht, nicht an einen fliegenden Elefanten zu denken?

Individuum

Die Sorge ist unbegründet. „Wenn ich mich konzentriere, höre ich nichts. Nichts lenkt mich ab”, sagt mir Shi Yan Yan später. „Mir ist egal, wo ich bin.” Er kann seine Gedanken jederzeit und absolut kontrollieren. Dafür übt und lebt er regelmäßig: Er steht jeden Morgen um halb fünf auf und meditiert zwei Stunden, bevor er frühstückt und Krafttraining macht. Vor dem Schlafengehen meditiert er erneut zwei Stunden. In der Meditation lässt er alle Gedanken aus sich herausfließen. „Ich denke an nichts.” Frauen sind für ihn tabu; und vielleicht liegt hierin der springende Punkt: Vielleicht muss sich ein Mensch ganz auf sich selbst fixieren, um zu totaler Gedankenentleerung und Konzentration in der Lage zu sein. Jeder nahestehende Mensch wäre Ablenkung, würde die Konzentration stören. Mögli-cherweise ist diese Selbstbezogenheit der Preis, den die Fähigkeit zu absoluter Selbstkontrolle kostet.

Maschine

Zwischen den Darbietungen Shi Yan Yans gewähren rumänische Kung-Fu-Schüler Einblicke in die Grundlagen des Kampfsports. Gerade im Vergleich mit ihnen fällt auf, was den Meister auszeichnet: Dieser spannt jeden Muskel an. Sogar sein Bauch unter dem Gewand zittert. Seine Bewegungen führt er vollständig aus: Schlägt er in die Luft, bremst er seine Energie keinen Moment; die Bewegung ist blitzartig und präzise. Zu Anfang hört man seine Knochen knacken. Zuletzt sein Fokus auf die Atmung: Jedes Mal, bevor er loslegt, atmet er hörbar aus, pustet die Luft aus seinem Körper. Bewusste Atmung sei der Schlüssel zur Gedankenkontrolle, erzählt mir der Mönch. Sein Blick ist ein Strahl, er ist völlig fixiert.

Gott

Shaolin-Mönche erinnern uns daran, was der Mensch ist. Er ist nicht notwendigerweise von Instinkten und Gier getrieben; er handelt nicht unbedingt reflexhaft – er kann so handeln und leben, aber er muss es nicht. Ein Shaolin-Mönch ist der personifizierte Beweis, dass das Bewusstsein vor dem Sein kommen und der Geist das Fleisch besiegen kann. Das Schicksal des Menschen ist formbar, denn er ist das Tier, das sich selbst erschafft. Nach der Darbietung, als Shi Yan Yan noch auf der Bühne steht und sich lächelnd mit Zuschauern fotografieren lässt, springt mir plötzlich ein Teil des zerbrochenen Eisenstabs ins Auge. Ein Symbol, denke ich. Ein Symbol für das Tier im Mensch. Oder, ich stocke, sogar für den Menschen?