ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher: Im Rucksack nur die Hoffnung

„Train Kids“ Dirk Reinhardt, Gerstenberg Verlag, ISBN 978-3-8369-5800-4 ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Doroban]i 32/ Pavilion, www.goethe.de/ bukarest

„Von hundert Leuten, die den Fluss überqueren, packen es gerade mal zehn durch Chiapas, drei bis zur Grenze im Norden und einer schafft es rüber“, hatte Fernando gewarnt. Rüber – damit ist die Grenze zwischen Mexiko und den USA gemeint. Fünf Kinder aus Guatemala machen sich auf den gefährlichen, zweieinhalbtausend Kilometer langen Weg. Sie wollen der bitteren Armut in ihrem Land entfliehen. Dem Betteln, der Korruption, der Chancenlosigkeit. Sie wollen zu ihren Müttern oder Vätern, die es schon geschafft haben. Die den zurückgelassenen Kindern und Großeltern Geld schicken. Und das Versprechen: Bald hole ich euch nach!

Die bittere Wahrheit: Meist verdienen sie auch im goldenen Westen viel zu wenig, um ihr Versprechen einzuhalten. Oft sind sie illegal im Land, selbst ständig auf der Flucht. Oder sie werden von skrupellosen Schleppern betrogen, denen sie mühsam Angespartes anvertrauen, um die Kinder über die Grenze zu bringen. Wir nennen diese Leute Migranten. Oder abfälliger: Wirtschaftsflüchtlinge. Für Staaten, in denen Wohlstand, Recht und Ordnung herrscht, gelten sie als Problem...

Vor dem Grenzfluss zu Guatemala, dem Rio Suchiate, treffen sich die fünf. Beim Frühstück in einer Herberge lernen sie sich kennen. Fernando, mit 16 der Älteste, hat die gefährliche Reise bereits mehrmals unternommen. Die Züge, auf deren Dächern sie als blinde Passagiere reisen müssen, sind längst seine zweite Heimat geworden. Im Rucksack nicht viel mehr als die Hoffnung. Fernando kennt Helfer, Gefahren und Fallen, ist mehrmals dem Tod von der Schippe gesprungen. Mit seinen 16 ist er alter Hase in diesem Spiel – und trotzdem hat es ihn immer wieder erwischt, wie beim „Mensch ärgere dich nicht“: Zurück an den Anfang!

Die anderen: Miguel, 14 Jahre alt, der Ich-Erzähler. Er will es wissen: Hat die Mutter, die es vor Jahren auf demselben Weg geschafft hat, ihn und seine kleine Schwester längst abgeschrieben? Oder meint sie es ernst, wenn sie Jahr für Jahr schreibt, bald hole ich euch nach? Miguel ist in dieser Zeit fast erwachsen geworden. Er will der Mutter gegenüberstehen, ihr in die Augen sehen, den ersten Moment erwischen, wenn Freude oder Erschrecken darin aufblitzt… Und er verspricht der kleinen Juana: Wenn ich es schaffe, hole ich dich nach! Dann gibt es noch Emilio, Angel und Jaz. Emilio stammt aus Honduras, mehr hat er nicht erzählt. Dass er Indio ist, sieht man auch so. Angel stammt wie Miguel aus Guatemala, aber nicht aus den Bergen, sondern aus der Hauptstadt. Er ist mit 11 der Kleinste und will sich zu seinem Bruder nach Los Angeles durchschlagen. Jaz stammt aus El Salvador und heißt eigentlich Jazmina. Sie hat sich die Haare kurz geschoren und sich als Junge verkleidet. Übt, mit dunkler Stimme zu sprechen. Damit sie nicht dumm angemacht wird, sagt sie. Für ein Mädchen ist diese Reise besonders gefährlich. Zu fünft brechen sie auf und Fernando sagt, wenn sie zusammenhalten, haben sie vielleicht eine Chance. Doch auf den Zügen herrschen eigene Gesetze und unterwegs lauern zahlreiche Gefahren. Banditen. Betrüger. Polizei. Manchmal alles auf einmal. Eines steht fest: Für alle da draußen sind die fünf Kinder auf der Flucht Ziele, Beute oder zumindest unerwünschte Eindringlinge.
Lohnt sich das Wagnis? Winkt am Ende wirklich das Wiedersehen mit dem verlorenen Elternteil? Ein besseres, neues Leben? Was soll aus Angel werden, dessen Bruder offenbar Mitglied einer Verbrecherbande ist? Und: Werden sich die fünf danach jemals wiedersehen? Am meisten aber bewegt Miguel die Frage: Wird er es schaffen, Juana nachzuholen? Oder wird sie eines Tages genauso zweifelnd warten, mit seinem Brief in der Hand, dem Versprechen?

Der Autor von „Train Kids“, Dirk Reinhard, hat die Vorbilder für seinen Roman auf dem Bahnhof in Arriaga getroffen. Dort hockten sie unter einem Güterzug und warteten auf ihre nächste Chance: Felipe, Catarina, Jose und Leon. Er hat ihnen etwas zu Essen spendiert, da erzählten sie ihm ihre Geschichten. Die „Train Kids“ gibt es wirklich, nur ihre Namen sind austauschbar. Doch ihre Schicksale ähneln einander wie Münzen, mit anderem Kopf und anderer Zahl. Sie stammen aus den ärmsten Ländern der Welt, in denen eine Handvoll Reiche die gesamten Ressourcen kontrollieren, während die Bevölkerung in bitterer Armut lebt. Weil die Kinder mitverdienen müssen, können sie keine Schule besuchen – und der Kreislauf aus Armut und mangelnder Bildung wiederholt sich von Generation zu Generation. Wir aber, die wir im warmen Wohnzimmer sitzen und das Buch mit angehaltenem Atem verschlingen… Wir nennen sie jetzt nicht mehr einfach nur Migranten.


Die monatliche Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Biblio-theken des Goethe-Instituts auszuleihen oder auf www.buechercafe.ro zu erwerben.