ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher Und auf einmal ist alles anders...

„Der große schwarze Vogel“, Stefanie Höfler. BeltzVerlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/ Pavilion, www.goethe.de/bukarest

„Der große schwarze Vogel“ fliegt durch einen seltsam bunten Wald: So bunt wie die Kleider und Bühnenbilder der grünäugigen, rothaarigen Ma von Ben und Krümel, der fröhlichen mit dem knallrot geschminkten, lachenden Clownsmund, die den Wald liebte und furchtlos auf die höchsten Kastanienbäume kletterte. „Wie geht es deiner schönen Mama?“ fragt der Eisverkäufer Ben und betont dabei besonders das letzte A. Du hast wohl ihr Temperament geerbt, tadelt ihn der Kriminalbeamte. Ma konnte von einem Augenblick auf den andern zetern und schimpfen und dann wieder lachen. Sie war der lebendigste Mensch, den ich kannte, schleudert Pa dem Pfarrer mit den salbungsvollen Worten wütend entgegen. Seit Ma nicht mehr da ist, schlafen Ben und Krümel bei Tante Gerda. Und Pa hockt alleine im Wohnzimmer am Boden, hört ihr Lieblingslied - Jazz, „Strange Fruit“- und sein Blick verliert sich mit dem klagenden Trompetensolo in der Ferne, seine Schultern hängen schwer herab...

Der Tod im Jugendbuch: Geht das überhaupt? Ben ist sechzehn und Krümel, der eigentlich Karl heißt, erst sechs. Doch der Tod fragt niemals: Geht das jetzt? Passt es dir gerade? Nicht im wirklichen Leben und nicht im Roman. Verdrängen, verleugnen - oder lieber weglaufen von den trauernden Erwachsenen und hingebungsvoll im Sandkasten ein Mausoleum bauen für Ma, so wie es Krümel tut? Jeder geht anders damit um, dass auf einmal alles anders ist. Langsam tröpfelt es ins Bewusstsein. Erinnerungsfragmente an das Davor. Das Danach: nie wieder.

Mit Pa ist jedenfalls seither nichts mehr anzufangen, denkt Ben, während er wütend den Staubsauger durch die Wohnung traktiert, die trügerisch aussieht wie immer, ihr Mantel hängt neben der Tür, er saugt jede Menge langer roter Haare auf, entsorgt gegen Pas Widerstand Zeitungsbällchen der von ihr zuletzt gelesenen Seiten, erinnert sich, wie Ma immer spottete: über die praktische Kurzhaarfrisur anderer Frauen nach der Geburt des ersten Kindes. Und: wie die Sanitäter auf dem langen roten Haarteppich knieten. Das Klack-Klack des Defibrillators. An die Worte: Das wird wohl nichts mehr. An den Moment, als er mutig allein das Schlafzimmer betritt... An den Kriminalbeamten, der ihnen allen Fragen stellen muss. An den Apfelbaum neben ihrem Grab, die Stelle haben sie gemeinsam ausgesucht - oder war es Ma, die sie ihnen zeigte? Und immer wieder an das Davor. 

Zuerst ist sie kaum spürbar, die transparente Wand, die das Morgen unwiederbringlich vom Gestern trennt. In der Schule: Wegsehen, Schweigen. Geflüster hinter dem Rücken. An der Bushaltestelle sagt Ben zu einem wildfremden Mädchen: Meine Mutter ist gestorben. Fragt sich, was er bezwecken will mit dieser Art Mutprobe. Am Schlimmsten: das Nichtreden, das Nichtfragen... Aber auch das „Wir sollten mal darüber reden“, wie Lina plötzlich im Unterricht vorschlägt. Lina, die fachmännisch behauptet, sie kenne sich aus mit dem Tod. Das stille Mädchen, das pausenlos die Figuren der Karyatiden an der Kirche fotografiert. Lina, die von Ben heimlich dabei beobachtet, wird, wie sie hinter dem Fenster mit einer alten Frau tanzt. Und ausgerechnet ihn weiht sie ein in ihr kostbares, schreckliches Geheimnis, das im Alltag der anderen genausowenig Platz findet wie der Tod seiner Ma.

„Auch wenn mit einem Mal nichts mehr so ist, wie es war, das Leben geht nicht nur irgendwie weiter“, heißt es im Klappentext des für den deutschen Jugendliteraturpreis nominierten Romans von Stefanie Höfler, „sondern es passieren neue und ganz wunderbare Dinge“. Eine zauberhafte Geschichte über die Transformation der Seele, die passiert, wenn der große schwarze Vogel auf einmal das lichte Bunt des Lebens überschattet - und die Farben dunkler, aber auch tiefer werden lässt.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen
Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.