Als Ancel zu Celan wurde – zweieinhalb Jahre ein Leben lang 

„Paul Celan – Die rumänische Dimension“ von Petre Solomon

Petre Solomon: „Paul Celan – Die rumänische Dimension. Erinnerungen – Einflüsse – Prägungen“, übersetzt und herausgegeben von Mario Herlo. Edition Noack&Bock, Berlin, 2023, ISBN 978-3-86813-155-0

Das Œuvre, aber auch die Biographie von Paul Celan gilt so gut erforscht wie von vielen in der Weltliteratur. Und dennoch ranken sich Legenden und Mythen um das zerrissene Leben und Wirken jenes Autors, der aus der nicht minder sagenumwobenen Stadt Czernowitz/Cernăuți an der Wegkreuzung von Kulturen, Riten, Heeren stammt, der das Hadern der Überlebenden ausgelöschter Familien mit sich bis zum Suizid trug, der die Sprachen Europas beherrschte und in keiner Heimat finden konnte, obwohl sie, die Sprache, ihm „unverloren blieb“, er aber ständig auf der Suche nach neuen sprachlichen Ausdrucksformen war. Man gerät in Versuchung, einen Langzeitfreund Celans fragen zu wollen: Wie kam es dazu, wie war das damals wirklich? Petre Solomon war ein solcher Weggefährte Paul Celans in den Nachkriegsjahren der rumänischen Hauptstadt, während aus dem rumänisch geschriebenen Familiennamen Ancel der Künstlername Celan wurde, während die später berühmte „Todesfuge“ entstand und erstmals veröffentlicht worden ist: in rumänischer Übersetzung, erstmalig signiert mit dem Pseudonym Celan.

Befreit von der kommunistischen Zensur, sorgfältig redigiert und für die ausländische Leserschaft mit Fußnoten über Persönlichkeiten des rumänischen Kulturlebens angepasst, ist nun, die ursprünglich bereits 1987 erschienene Originalfassung in der gelungenen Übersetzung von Maria Herlo (in Revision von Ingrid Baltag) bei der Berliner Edition Noack & Block des renommierten Fachverlages Frank & Timme  erschienen. Endlich, muss hinzugefügt werden, da die spanische Ausgabe bereits 2010 vorlag. Diese Übersetzung wurde durch das Rumänische Kulturin-stitut gefördert und auf dessen Stand der Leipziger Buchmesse von Ernest Wichner, Jan Cornelius und dem Sohn des Autors vorgestellt. Verdient, könnte man hinzufügen, doch angesichts von aktuell nur noch 28 direkt geförderten Übersetzungen weltweit, ist es beim Rumänischen Kulturinstitut auch ein Glücksfall.

Der Zeitreise in Celans Bukarest der ersten Nachkriegsjahre schiebt Petre Solomon eine Zeitreise in die 1970er und 80er Jahre vor. Er geht hart ins Gericht mit dem damals vorherrschenden Geist des Strukturalismus oder der „Neuen Kritik“, wonach das Ziel der Lektüre die „Dekonstruktion“ des Textes sei (Jacques Derrida), ohne jeden Bezug zum biografischen Kontext des Autors. In einem Paul Celan gewidmeten Buch wird 1973 bei Suhrkamp behauptet: „1947 tauchte in Wien ein junger Mann auf, der sich Paul Celan nannte. Er kam buchstäblich aus dem Nichts“ (Milo Dor). Solche postumen Publikationen und Symposien, aber auch die Verschlossenheit der Witwe Gisèle Celan-Lestrange mussten erst überwunden werden, bis ein Celan-Kolloqium 1981 unter Mitwirkung des Goethe-Instituts in Bukarest zur Wende in Celans später Rezeption verhalf, was letztendlich 1985 zur Doktorarbeit von Barbara Wiedemann zum Frühwerk Celans und 1987 zur Erstfassung dieses vorliegenden Buches beigetragen hat. Selbst heute noch weicht jene Barbara Wiedemann in ihrer auf 1262 Seiten gewachsenen, neu kommentierten Gesamtausgabe (Suhrkamp, 2018) von den Angaben Petre Solomons ab: Sie ordnet die Entstehung von Celans „Todesfuge“ zwischen den Schaffensepochen in Bukarest und Wien ein. Tatsächlich aber erschien sie erstmalig am 2. Mai 1947 in der Bukarester Traditionszeitschrift „Contemporanul“ als „Tangoul mor]ii“ (Todestango) unter erstmaliger Signatur mit „Celan“ und in der Übersetzung Solomons. Eine Petitesse? Die Antwort liefert dieses Buch.
Das aufatmende Bukarest der ersten Nachkriegsjahre ist jenes, das „der junge Paul Antschel vorfand, als er im Herbst des Jahres 1945“ dort ankam. Die Beschreibung jener moralischen und intellektuellen Atmosphäre offenbart, dass Petre Solomon bei aller akademischen Objektivität und vielen bibliografischen Querverweisen auch Schriftsteller war. Er vermag es der Leserschaft konzise zu vermitteln, welche Umstände und Weggefährten den jungen Celan, trotz Trauma, zu surrealistischen Wortspielen beflügelten, sowie zu einer „Fröhlichkeit des Geistes“:

„Zu dieser Zeit gab es in Bukarest zahlreiche Literaturkreise, die genauso ephemer waren wie die Liebes-abenteuer Paul Celans.“ (S. 70)

Fast beiläufig skizziert Solomon den Mikrokosmos jener literarischen Szene in einer Melange u.a. französischer und russischer Einflüsse mit einem jungen philologischen Multitalent Paul Celan als Übersetzer mittendrin, der dem rumänischen Surrealismus kritisch aufgeschlossen gegenüberstand und auch Gedichte, sowie lyrische Prosa auf Rumänisch verfasst hat. So manche Fußnote der Übersetzerin wird zum Appetizer für rumänische Autorinnen und Autoren jener Zeit, die anhand von Briefen im Buch selbst zu Wort kommen. Wie bedeutsam jene „belle saison des calembours“ (Kalauer-Saison) für Celan war, spürte er bei der vorgenannten Einschätzung bereits in einem seiner ersten Briefe aus Wien nach Bukarest. Die gesamte Dimension erschloss sich ihm 15 Jahre später in Paris im Vergleich zu großen französischen Dichtern: 

„Manche von ihnen haben mir durch Zuneigungen und Widmungen ihre Freundschaft kundgetan, von der ich nur Folgendes sagen kann: Sie erwies sich ausschließlich als literarisch. Aber ich hatte, es ist lange her, Dichterfreunde in Bukarest zwischen 1945 und 1947. Ich werde sie nie vergessen.“ (S. 37)

Das im vorliegenden Buch skizzierte Portrait Paul Celans ist zwar auf zweieinhalb Jahre dessen Lebens fokussiert, zieht aber immer wieder die Vorgeschichte in Betracht, sowie die langen Nach- und Auswirkungen. „Für ihn war Judesein eine Evidenz physischer – und nicht so sehr metaphysischer – Natur. Später jedoch, nach seinen bitteren Erfahrungen im Westen, nahm die metaphysische, bisweilen sogar die mystische Seite des Judentums immer mehr Raum ein.“ (S. 110) Die unvermeidliche subjektive Einfärbung von Solomons bis zu vierzig Jahre zurückreichenden Erinnerungen wird durch zahlreiche, mitunter kontroverse publizistische Bezüge, sowie Einschätzungen weiterer befreundeter Literaten und deren damaligen Briefe objektiviert. Petre Solomon schreibt empathisch, aber nicht pathetisch. 

Ernest Wichner stellt über Celan fest: „Singulär ist er deshalb, weil von ihm kein Weg irgendwohin führt.“ Seine Lyrik lasse sich „von niemand anderem weiter schreiben.“ (DLF) Jene Singularität erkennt Petre Solomon bereits in den lyrischen Texten von 1946/47: „Celan bleibt Celan, sogar auf Rumänisch.“ (S. 160) Zwar erkennt er Einflüsse von Tudor Arghezi und Lucian Blaga, stellt ferner sogar fest: „Kein Dichter kann sich ganz den in der Sprache aufbewahrten Traditionen entziehen, auch wenn er diese nur vorübergehend verwendet.“ Jedoch ähnle Celans rumänische Poetik in ihrer außergewöhnlichen Art nicht einmal dessen deutschen Texten, mit Ausnahme des Apologs „Gespräch im Gebirg“. Die selektierten Gedichtfragmente sind ein Genuss. Die strikt literaturwissenschaftliche Relevanz dieses Buches resultiert aus dem Kapitel „Die Adoleszenz eines Adieus“, worin der Literaturkritiker Petre Solomon die rumänische Literatur Celans durchdringt. 

Das Buch ist für Literaturfreunde, wie für Wissenschaftler  interessant und aufschlussreich, räumt gar mit einigen Fehlinformationen gut fundiert auf und ist stellenweise als Primärquelle geeignet. Einige von Celans erhalten gebliebenen rumänischen Gedichten (7) und lyrischen Prosatexten (8) sind auszugsweise berücksichtigt, in voller Länge jedoch nur im Anhang der rumänischen Ausgabe dieses Buches zu finden (Editura ART, Bucure{ti, 2008). Das ist zwar bedauerlich, aber z.B. in Barbara Wiedemanns Gesamtausgabe „Paul Celan – Die Gedichte“ (Suhrkamp, 2018) zweisprachig nachlesbar.

Diese zweieinhalb Jahre Paul Celans in Bukarest waren für ihn weichenstellend im Umgang mit der deutschen Sprache. Durch die surrealistische Einwirkung wie auch aufgrund seiner experimentierfreudigen Erfahrungen beim Verfassen literarischer Texte auf Rumänisch, wonach er sich anschließend auf Lyrik ausschließlich in Deutsch festgelegt hat, entschied er sich, ins Exil nach Wien aufzubrechen – weniger als Flucht motiviert, sondern bewusst seiner Bestimmung folgend. Die anregende Zusammenarbeit mit Literaten im Bukarest jener Zeit führte zu weitreichenden Beziehungen und Korrespondenz, in der sich der Lyriker anders artikulierte und aussprach, als im westeuropäischen Raum. Jeder rumäniendeutsche Literaturfreund oder Autor wird sich nach der Lektüre dieses Buches verstärkt fragen: Welches ist die eigene rumänische Dimension?