Das Bukarest der 30er und 40er Jahre

Der neue Roman von Jan Koneffke „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“

Jan Koneffke: „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“, 510 Seiten, DuMont Köln 2011, ISBN 978-3-8321-9585-4

Ich lebe nun zwar schon seit langem in Düsseldorf, doch verbrachte ich meine Kindheit und Jugend im Rumänien der 50er und 60er Jahre und ging dort auch zur Schule. Und wie das in der Schule so ist, versuchte man mir dort u. a. Mathe, Fremdsprachen und Geschichte beizubringen. Mit Mathe gab es keine Probleme, aber mit den Fremdsprachen schon, denn als ich mich für eine Fremdsprache entscheiden musste, gab es lediglich die Wahl zwischen Russisch und... tja, Russisch. Und nicht bloß ich, sondern auch meine Mitschüler hätten viel lieber Französisch gelernt, denn das war ja die Sprache der drei Musketiere und die von Fantomas, und diese Filme waren für uns das Allerheiligste.

Doch in den 50ern und 60ern liefen in Rumänien auch jede Menge russischer Filme, von der Anzahl her konnten ihnen die französischen gar nicht das Wasser reichen. Es waren immer nur Kriegsfilme, die fand ich auch ganz toll, denn es wurde darin eine Menge herumgeballert, und zum Schluss gab’s dann auch noch ein tolles Happy End, wenn auch immer nach dem gleichen Muster: Die Russen retteten Rumänien vor den deutschen Nazis und machten diesen der Reihe nach den Garaus, was ich sehr erfreulich fand. „Man müsste alle Deutschen über den Haufen schießen!“, sagte ich eines Tages aufgebracht zu meiner Mutter, als ich aus einem russischen Film nach Hause kam. „Du Schwachkopf, du bist ja selbst Deutscher!“, sagte meine Mutter, aber das war mir piepegal.

Aber zurück zum Schulunterricht, wie hieß es nur in unseren Geschichtsbüchern? 1944 hat sich Rumänien dank der Roten Armee vom faschistischen Joch befreit. Beim Einmarschieren unserer sowjetischen Brüder haben wir fröhlich gejubelt und wir haben mit ihnen gefeiert. Und nun leben wir seit damals in Freiheit und  sind  auf unsere Vergangenheit stolz.
Von den Plünderungen und Vergewaltigungen der russischen Armee war in den rumänischen Geschichtsbüchern keine Rede, der Holocaust und die Pogrome waren immer nur ganz woanders geschehen.
Über diese Dinge dachte ich kürzlich nach, als ich den neuen Roman von Jan Koneffke „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“ las. Der Protagonist, der 1905 in Pommern geborene und in Berlin als Barpianist lebende Felix, flüchtet im Alter von 30 vor den Nazis nach Bukarest, und so wird seine persönliche Geschichte vor dem Hintergrund der rumänischen Geschichte in den 30ern und 40ern verfolgt.

Man erfährt eine Menge über den König Carol II., das Antonescu-Regime und die Eiserne Garde, die Judenverfolgung und die an Grausamkeit nicht zu übertreffende Pogromnacht 1941 in Bukarest. Und es wird erzählt, wie der vor den Nazis entkommene Felix vom Regen in die Traufe gerät und nach dem Einmarsch der Angst und Schrecken verbreitenden  Russen absurderweise inhaftiert wird. Aber mehr wollen wir ja nicht verraten, und nacherzählen lässt sich der überraschende Plot dieses vielschichtigen, unheimlich komplexen Buches sowieso nicht.

Ja, es gibt eine Unmenge von minutiös dokumentierten und beeindruckend erzählten historischen Ereignissen in diesem Buch, aber es geht darin beileibe nicht nur um Horror und Krieg, sondern auch um das Leben und die Liebe schlechthin, die sich niemals totkriegen lassen. Die Suche nach Freude und Glück ist im Buch allgegenwärtig. Das große Glück ist in den kleinen Dingen zu finden, und so zitiert Felix seinen Freund Slumowitz: „Verurteile mir nicht das Leben, das einfach nur leben will, ohne Bestimmung und Ziel. Wer diese Wahrheit begreift, kommt zur Ruhe. Er wird sich an den nichtigsten Dingen erfreuen, einem Frauenschuh mit Schlammspritzern, Tau auf den Wiesen, der Schwalbe am Himmel... die um keine Spur nichtiger sind als er selbst.“
Poetisch verspielt kommt die nostalgische Geschichte daher, wenn Koneffke im ersten Teil des Buches die 1935 verbrachte Zeit im paradiesischen Baltschik am Schwarzen Meer beschreibt. Wie aus einem Wunderhorn zaubert der Erzähler Düfte, Farben und Töne herbei und der wohltönende Rhythmus der Sätze klingt aufmunternd wie Mozart-Musik. 

Und es gibt auch viel Ironie und eine Menge Humor in diesem Roman, durch viele witzig-hintersinnige Passagen fühlt man sich des Öfteren an die unvergesslichen „Maghrebinischen Geschichten“ Gregor von Rezzoris erinnert, und auch Eichendorffs Taugenichts und Münchhausen lassen fröhlich grüßen.

Ganz wunderbar sind die vielen kleinen Nebengeschichten und Parabeln, die Felix der charmant-launischen Virginia erzählt, z. B. die Geschichte von der Dresdner Kastenuhr, die beim Anbruch des Krieges völlig verrückt spielt, oder die von Kaiser Wilhelm der Zweite, bei dem die Linke buchstäblich nicht weiß, was die Rechte tut, oder die vom preußischen Krupp-Vertreter, der an der Langsamkeit und am Laissez-faire des an der Schwelle zum Orient schlummernden Bukarests völlig verzweifelt, um danach aber eine Rumänin zu ehelichen und selber zu lernen, den Stress gegen das langfristige Pausieren einzutauschen. Und was könnte wichtiger sein, als plötzlich eine Menge Zeit für wesentliche Dinge zu haben?

Man soll ja den Schriftsteller nicht mit dem Protagonisten verwechseln, aber ich habe mir erzählen lassen, dass Jan Koneffke nun auch ein Teil des Jahres in Bukarest lebe, seitdem er eine Rumänin heiratete. Nun hat der Mann also ganz viel Zeit, um sich wunderbare Bücher wie dieses auszudenken.