Das Leben als Katz-und-Maus-Spiel

Premiere von Edison Denisovs Oper „Der Schaum der Tage“ in Stuttgart umjubelt

Die Bilder dieser Inszenierung der Stuttgarter Staatsoper prägen sich dem Zuschauer tief ein. Foto: A.T. Schaefer

Eine Bühne, ganz in existenzialistisches Schwarz getaucht, links eine mihrabartige Wandnische mit Waschbecken, rechts ein von Huysmans’ Likörorgel inspiriertes Cocktailpiano, das auch als Jukebox dient, auf den Treppen Jazzplatten und Cocktailgläser, die schwarze Rückwand als Videoprojektionsfläche, die mitunter transparent wird oder manchmal auch ganz hochgezogen wird, um den Blick auf die Hinterbühne freizugeben: So präsentiert sich der von Jens Kilian entworfene Bühnenraum, der den optischen Rahmen für das dreiaktige lyrisch-musikalische Drama „Der Schaum der Tage“ des russischen Komponisten Edison Denisov (1929-1996) bildet, das am 1. Dezember in Stuttgart seine umjubelte Premiere erlebte.

Die literarische Vorlage der in vierzehn Bildern und sieben Intermezzi locker zusammengefügten Oper bildet der gleichnamige Roman „L’Écume des jours“ des französischen Romanciers, Chansonniers, Schauspielers und Jazztrompeters Boris Vian, ein Werk, das 1946 erstmals erschienen war und zwei Jahrzehnte später zum Kultbuch avancierte, welches dem Lebensgefühl der jüngeren Generation weite Phantasieräume eröffnete.

Die elegisch-tragische Liebesgeschichte zwischen Colin und Chloé ist durchsetzt von skurrilen, phantastischen, surrealen und grotesken Elementen. Humor und Melancholie, Libertinismus und Verzweiflung fügen sich zu einer Melange aus Irrealem und Transzendentem, Philosophie und Religion, Freiheitsstreben und Sozialkritik, die auch den russischen Avantgardisten Denisov begeisterte, als er Vians Roman zum ersten Mal las.

Er arbeitete das literarische Werk später selbst zu einem Libretto um und vollendete die Komposition der Oper im Jahre 1981. Seine Uraufführung erlebte das rare Opus dann fünf Jahre danach an der Opéra Comique in Paris.
Wie die literarische Vorlage eine Mixtur von gänzlich disparaten Themen und divergierenden Realitätsebenen darstellt, so bildet auch Denisovs Oper eine eklektische musikalische Mischung, die virtuos die  Eigenarten verschiedener Stilepochen und unterschiedlicher Musiksparten handhabt und kongenial zu kombinieren weiß.

Man spürt das Können des versierten Filmkomponisten, der in „Der Schaum der Tage“ gleichsam spielerisch Jazz und Zwölftonmusik, Aleatorik und Chanson, Atonalität und Slowfox, Gregorianik und Boogie Woogie, Impressionismus und Wagner-Zitat, Tanzmusik und kirchliche Liturgie miteinander kombiniert und verfremdend wie anähnelnd zu arrangieren versteht. Eine besondere Rolle spielt dabei, neben den Einflüssen von Debussys „Pelléas und Mélisande“ und Wagners „Tristan und Isolde“, die Musik von Duke Ellington, dessen Songs „Chloé (Song of the Swamp)“ und „Slap Happy“ in Denisovs Oper in speziellen Arrangements und besonderer Instrumentierung erklingen. Als Colin im ersten Akt der Oper seiner späteren Ehefrau Chloé auf einer Party erstmals begegnet, fragt er sie: „Sind Sie von Duke Ellington arrangiert?“, und als Doktor Mangemanche im zweiten Akt die Lunge der erkrankten Chloé abhört, bemerkt er: „In ihrer Lunge ist eine komische Musik zu hören“, und fügt hinzu: „Legen Sie mal ‚Slap Happy’ auf, das wird es vielleicht wieder zurecht rücken“.

Der Bilderreichtum der literarischen Vorlage und der Stilreichtum der musikalischen Komposition bilden eine wahre Fundgrube, aus der Jossi Wieler als Regisseur der Stuttgarter Inszenierung und Sergio Morabito als ihr Dramaturg, die beide kürzlich zusammen als „Regieteam des Jahres“ ausgezeichnet wurden, aus dem Vollen schöpfen und sich zu einem gleichsam unerschöpflichen Strom von Regieeinfällen inspirieren lassen konnten.

Die wie Millais’ Ophelia von Seerosen bedeckt daliegende (und selbst an einer Seerose erkrankte) Chloé, das als Apotheker getarnte Kaninchen, das seinen Köttel als Medikament vertreibt, der sich nackt aufs Erdreich legende Colin, der durch seine Körperwärme Gewehrläufe spargelgleich zum wachsen bringen möchte, der mit einer Ikone im Arm über die Bühne schlurfende und liturgische Gesänge intonierende orthodoxe Priester: Das sind alles Bilder, die sich tief einprägen und den Text wie die Musik der Oper imaginativ überwölben. Zu den Höhepunkten der Inszenierung zählt gewiss das Hochzeits-Intermezzo, bei dem der gekreuzigte Jesus im silbernen Glitterregen als Nackttänzer auftritt und dabei sein Lendentuch schwingt wie die Cancan-Tänzerinnen im Moulin Rouge ihre Röcke.

Der Überfülle des Bühnengeschehens korrespondiert das Übermaß der Musikinstrumente, die im Orchestergraben des Stuttgarter Großen Hauses kaum Platz fanden: Angesichts von Klavier, Cembalo und Celesta, angesichts eines überdimensionalen Schlagwerks mit Vibraphon und Marimbaphon, angesichts von Harfe, Tenor- und Altsaxophonen wie Elektrogitarren musste der Streicherapparat gewisse Abstriche hinnehmen. Einer der sechs geforderten Kontrabässe konnte beim besten Willen nicht mehr im Klangkörper des Staatsorchesters Stuttgart untergebracht werden, der von Sylvain Cambreling differenziert strukturiert und sensibel zu Gehör gebracht wurde, von den Rezitativbegleitungen im Pianissimo bis hin zu monumentalen Fortissimoklängen im Bücherverbrennungs-Intermezzo, die Adrian Leverkühns „Apocalipsis cum figuris“ aus Thomas Manns „Dr. Faustus“ hätten entlehnt sein können.

Der Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Johannes Knecht), der nun schon zum neunten Mal seit 1999 als „Opernchor des Jahres“ ausgezeichnet wurde, begeisterte erneut auch in dieser Inszenierung, ebenso der achtköpfige Männerchor der Schutzmannen bzw. der Reinigungsknappen sowie der Kinderchor, der im letzten Bild der Oper beim Zug der Waisenmädchen beeindruckend zum Einsatz kam. Unter den Solisten ragten die Sopranistin Rebecca von Lipinski (Chloé) und der Tenor Ed Lyon (Colin) hervor, ebenso der Tenor Daniel Kluge (Chick) wie auch die Mezzosopranistin Sophie Marilley (Alise).

Die Monumentalität der gesamten Aufführung wurde erst beim Schlussapplaus so richtig deutlich: Es bedurfte einer eigenen Choreografie, um die diversen Chöre, die zum Teil nur als Fernchöre hörbar gewesen waren, die Chorsolisten, die Gesangssolisten und die für Orchester, Chor, Licht, Video, Kostüme, Bühne, Dramaturgie und Regie Verantwortlichen mehrfach und unter immer neu aufbrandendem Beifall vorbeidefilieren zu lassen.

Gleichsam existenzialistisch umrahmt wurde das Operngeschehen von zwei Akteuren in Sprechrollen. Der belgische Schauspieler Sébastien Dutrieux verkörperte die Maus und die in Südafrika geborene Ansi Verwey die Katze, die sich am Ende der Oper zu einem existenzialistischen Sinnbild vereinigen: Die Maus, die das Leiden Colins, der um Chloé trauert, nicht mehr ertragen kann, legt ihren Kopf zwischen die Kiefer der Katze, beider Schnurrhaare verflechten sich, und nun warten sie gemeinsam auf den Augenblick, in dem jemand zufällig der Katze auf den Schwanz tritt und damit den finalen Beißreflex auslöst.

Das gesamte Leben wird in diesem existenzialistischen Emblem zu einem kurzen, erlebnisreichen und spannungsvollen Moment vor dem Tode, wie ihn der in der Oper beschworene Denker Jean-Sol Partre (!) philosophisch reflektiert haben könnte und wie ihn die Stuttgarter Premiere von Denisovs „Der Schaum der Tage“ mitreißend gefeiert hat.