Der Bildhauer Henry Moore und seine Wirkung im Ostblock

Ausstellung in den Kretzulescu-Sälen des Bukarester Nationalen Kunstmuseums

Fünfundfünfzig Jahre ist es nun her, dass im Bukares-ter Dalles-Saal eine Ausstellung mit Werken des englischen Bildhauers und Zeichners Henry Moore zu sehen war, die dann als Wanderausstellung auch in der Tschechoslowakei (Bratislava, Prag) sowie in Ungarn (Budapest) gezeigt wurde. In den beiden Kretzulescu-Sälen des Kunstmuseums kann derzeit und noch bis zum 6. Februar nächsten Jahres eine umfassende Dokumentation dieser Moore-Ausstellung von 1966 und 1967 besichtigt werden, die den Titel „Das moderne Idol“ trägt und deutlich macht, dass Henry Moore diesseits wie jenseits des Eisernen Vorhangs als Ikone der Moderne verehrt wurde, in der westlichen Hemisphäre ohnehin und im Ostblock zumindest vom Beginn der Tauwetter-Periode bis zum Prager Frühling.

Veranstalter dieser dokumentierenden Schau in den Kretzulescu-Sälen sind das Bukarester Nationale Kunstmuseum sowie das Institut der Gegenwart (Institutul Prezentului), eine von [tefania Ferchedău und Alina [erban 2017 ins Leben gerufene Forschungsplattform zur Dokumentation der zeitgenössischen visuellen und performativen Kultur, speziell auch der künstlerischen Aktivitäten im Rumänien der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Wie bei der Ausstellung des Instituts der Gegenwart über die rumänische Neo-Avantgarde 1969-1971 im vergangenen Jahr, so wirkte auch bei dieser aktuellen Ausstellung Alina [erban wieder als Kuratorin mit, ergänzt durch Daniel Véri (Budapest) und Lujza Kotocová (Prag), die vor allem die Exponate aus der Slowakei, aus Tschechien und aus Ungarn museographisch betreuten.

Die Moore-Werkschau, die in den Jahren 1966 und 1967 an den vier genannten Ausstellungsorten im Ostblock zu sehen war, versammelte Skulpturen und Zeichnungen des englischen Künstlers aus den Jahren 1924 bis 1964. Sie war zum damaligen Zeitpunkt die umfassendste internationale Retrospektive des Schaffens von Henry Moore, die nicht nur vier Jahrzehnte seiner künstlerischen Tätigkeit umspannte, sondern zugleich Anlass zur kunsthistorischen Einordnung seines Oeuvres, zur ideologischen Verortung seines Wirkens und zur diplomatischen Begegnung wie zum politischen Dialog der im Kalten Krieg einander unversöhnlich gegenüberstehenden Machtblöcke beitrug.

Nachdem man die aktuelle Ausstellung in den Kretzulescu-Sälen mit der obligatorischen Gesichtsmaske vor Mund und Nase sowie dem Digitalen Covid-Zertifikat der EU in der Tasche betreten hat, fällt der Blick des Besuchers sofort auf ein Foto der Mooreschen Skulptur „The Grip“, die nach der Ausstellung des Jahres 1966 vom rumänischen Staat erworben wurde und heute zu den Beständen des Nationalen Kunstmuseums gehört. Eine Infotafel zum Thema „Henry Moore im Ostblock“ und eine Vitrine mit Bildbänden über den englischen Künstler, u. a. von Ionel Jianu, führen in das Thema der Ausstellung ein, die man am besten im Uhrzeigersinn begeht.

Interessant ist die daran sich unmittelbar anschließende und breit gefächerte Dokumentation der damaligen Bukarester Ausstellung mit Fotos von Moo-reschen Werken sowie mit einer Vielzahl von Presseartikeln, darunter auch ein bebilderter Ausstellungsbericht in deutscher Sprache, der am 19. Februar 1966 im „Neuen Weg“ erschienen ist. Der rumänische Dichter Marin Sorescu beschreibt am 10. März 1966 die überwältigende Wirkung, die von den Mooreschen Exponaten auf ihn ausgeht, und gesteht seine fundamentale Unsicherheit angesichts der Frage ein, ob er das Oeuvre Moores geistesgeschichtlich in eine „geo-logische Vergangenheit“ oder in eine „kosmische Zukunft“ rücken solle. Der rumänische Maler Corneliu Baba schwärmt in seinen, in der Ausstellung nachzulesenden, Tagebuchaufzeichnungen vom „Dialog zwischen Skulptur und Raum“, den er lange nicht mehr so erleben konnte wie gegenwärtig im von Moore-Skulpturen bevölkerten Dalles-Saal, und in der Zeitschrift „Contemporanul“ feiert der rumänische Künstler seinen berühmten englischen Kollegen mit einer überschwänglichen „Eloge auf die Einsamkeit“. Und Mircea Popescu, der rumänische Journalist und Schriftsteller, schildert in der Zeitschrift „Secolul 20“ seine eigene und persönliche Begegnung mit Henry Moore.

Die nächste Abteilung der Dokumentation widmet sich dann den Ausstellungsorten Bratislava und Budapest, wobei neben Fotos und Ausstellungsplakaten auch Skizzen von anderen Künstlern zum Werk Henry Moores zu sehen sind. Mehrere in den Kretzulescu-Sälen gezeigte Videos, die allesamt in der Ausstellung optisch und akustisch (per Kopfhörer) genossen werden können, haben die Rezeption des Oeuvres von Henry Moore in Polen (1959), Rumänien (1966) und Ungarn (1967) zum Thema.

Eine umfassende chronologische Über-sicht zum Thema „Henry Moore im Ostblock“ macht deutlich, dass das Werk des englischen Bildhauers bereits seit 1955 (mit einer ersten Ausstellung in Jugoslawien) in der östlichen Hemisphäre wahrgenommen und gewürdigt wurde und dass es bis 1989 nicht nur in Rumänien, Ungarn und der Tschechoslowakei, sondern auch in Polen und Bulgarien aufmerksam rezipiert wurde. Weitere Bildbände, Bücher und Broschüren ergänzen die umfangreiche Dokumentation im ersten und größeren der beiden Kretzulescu-Säle.

Im zweiten und kleineren Kretzulescu-Saal ist dann eine Großbildleinwand zu sehen, auf der fortlaufend Videos von Interviews (in verschiedenen Originalsprachen mit englischen Untertiteln) gezeigt werden, die allesamt in diesem Jahr gegeben und aufgenommen wurden. Bei den Interviewten handelt es sich durchweg um Zeitzeugen, die damals die Mooresche Wanderausstellung in den sechziger Jahren im Ostblock gesehen haben und sich nun über diese Retrospektive wie überhaupt zum Gesamtwerk Moores äußern. Man kann auf Stühlen vor der Großbildleinwand Platz nehmen und dort den einzelnen Interviews lauschen, deren Lautstärke allerdings den Besuch des benachbarten Ausstellungssaales ein wenig stört.

Zu den Interviewten zählen von ungarischer Seite der Bildhauer György Jovánovics, der Maler László Gyémánt, die Kunsthistorikerin Krisztina Passuth sowie die gemeinsam befragten Kunsthistoriker Márta Kovalovszky und Péter Kovács. Von tschechischer Seite ist die Bildhauerin und Multimediakünstlerin Adéla Matasová vertreten. Und von rumänischer Seite kommen die Kunsthistorikerin Ioana Vlasiu, der Maler Constantin Flondor sowie der Bildhauer Grigorie Minea zu Wort.

Besonders sehenswert ist vor allem das Interview (in rumänischer Sprache mit englischen Untertiteln) mit dem 1935 in Rumänien geborenen und 1970 nach Deutschland emigrierten siebenbürgisch-sächsischen Bildhauer, Fotografen und Kunstprofessor Peter Jacobi, das in diesem Jahr im nahe Pforzheim gelegenen Wurmberg aufgezeichnet wurde, wo Peter Jacobi lebt und arbeitet. Auch dieses Interview kann, wie überhaupt die gesamte Ausstellung in den Kretzulescu-Sälen, als beeindruckende Hommage an Werk und Wirkung des großen englischen Bildhauers Henry Moore begriffen werden.