Der Gral als Mysterium politischer Macht

Wagners „Lohengrin“ in der Inszenierung durch Árpád Schilling in Stuttgart

Der Stuttgarter „Lohengrin“, der in der vergangenen Spielzeit in der Staatsoper Premiere feierte und auch in der laufenden Spielzeit wieder im Repertoire des Großen Hauses ist, erlebte am 19. Januar auf der Stuttgarter Opernbühne seine mittlerweile zehnte Aufführung. Die musikalische Leitung dieser Vorstellung hatte, wie bei der Premiere am 29. September 2018, der Stuttgarter Generalmusikdirektor Cornelius Meister inne, der die „Romantische Oper in drei Aufzügen“ bravourös dirigierte. Er sorgte im Orchester für feinste Pianissimi, unendlich langsam anschwellende Crescendi, überwältigende Fortissimi und für eine wunderbare instrumentale Begleitung des solistischen Gesangs (etwa der Gralserzählung Lohengrins am Ende des dritten Akts, oder auch der Auftritte Elsas und Ortruds).

Cornelius Meister hatte freilich bei dieser Aufführung des „Lohengrin“, neben dem exzellenten Stuttgarter Staatsorchester, auch einen Opernchor zur Verfügung, der zu den allerbesten der Welt zählt, wie der Intendant der Stuttgarter Staatsoper, Viktor Schoner, in seiner Werkeinführung unmittelbar vor der „Lohengrin“-Vorstellung unterstrich. Welche Anforderungen auf die einzelnen Stimmen des Chors zukommen, hob Cornelius Meister anlässlich eines Gesprächs mit dem Dramaturgen der Inszenierung, Miron Hakenbeck, folgendermaßen hervor: „Die Chorpartien im ‘Lohengrin’ gehören zu den umfangreichsten und anspruchvollsten, damit aber auch zu den reizvollsten der gesamten Opernliteratur. In welchem Ausmaß die Tenöre ein hohes A zu singen haben, ist beispiellos – im dritten Akt folgt dann noch ein lang ausgehaltenes C, das Wagner übrigens seiner Titelfigur nicht zumutet.“

Und so konnte man als Zuhörer nicht nur das grandiose Vorspiel des Orchesters erleben oder den fulminanten Anfang des dritten Aktes, sondern auch grandiose Auftritte des Chors, etwa bei Elsas erstmaligem Erscheinen auf der Bühne, oder auch beim sogenannten Schwanenchor, wenn die Brabanter nämlich Lohengrins Ankunft gewahr werden. Im zweiten Akt kommen achtstimmige Männerchöre zu Gehör, geteilt in zwei Gruppen, und wenn dann noch der Frauenchor hinzutritt und Bühnentrompeten (Königs- und Kreuztrompeten) erschallen, dann schlägt allein schon die Wucht des Gesamtklangs den Zuhörer in seinen Bann.

Die Inszenierung des 45-jährigen ungarischen Regisseurs Árpád Schilling legt ihr Augenmerk nun gerade auf die Bedeutung des Chors. So wie Richard Wagner den Chor kompositorisch nicht als homogene Masse, sondern als vielstimmiges und in sich höchst differenziertes Ensemble von Einzelstimmen konzipiert hatte, so zeigt auch Árpád Schilling den Chor, selbst wenn dieser zunächst nur monochrom in Erscheinung tritt, als bunte Vielfalt von Individuen, die auch während der gesamten dramatischen Handlung ständig untereinander in Kontakt stehen, lebhaft miteinander kommunizieren und interagieren. Mit dem Auftritt der vier Edelknaben kommt dann auch Farbe in das monochrome Grau, und spätestens beim Brautchor im dritten Akt, in dem Richard Wagner Felix Mendelssohn Bartholdys berühmten Hochzeitsmarsch über die Maßen zitiert, erstrahlen die Kostüme der Sängerinnen und Sänger in allen Farben des Regenbogens und die Buntheit wahrer menschlicher Gesellung wird sinnfällig.

Der in seinem bürgerlichen Leben als Aktivist für eine offene und aufgeklärte, für eine liberale, kritische und regenbogenbunte Gesellschaft streitende Árpád Schilling weiß nur zu gut, warum er die „Lohengrin“-Chöre auf diese basisdemokratische Art und Weise in Szene setzte. Nicht von ungefähr wird der bekannte Regisseur von der ungarischen Regierung unter Viktor Orbán als Staatsfeind betrachtet, weil er die Mechanismen ihrer Macht und die Strukturen ihrer Machterhaltung, die vielfach auch von der Europäischen Union inkriminiert wurden, gnadenlos offen legt und vernichtend kritisiert.

Das lässt sich vor allem an der Titelgestalt Lohengrin besonders gut verdeutlichen. Árpád Schillings Lohengrin kommt nicht aus utopischer Ferne zum Volk von Brabant, nicht aus der Entrücktheit des sagenhaften Grals, sondern er wird gleichsam aus der Menge der Menschen geboren, er ersteht direkt aus dem Volk. Am Anfang scheint es sogar, als wolle Lohengrin seine Rolle als Retter Elsas gar nicht annehmen, als wolle er sofort wieder in die Anonymität der Volksmenge zurückkehren, bis er schließ-lich, vom Volke gedrängt, sich dazu ermannt, den Kampf gegen Friedrich von Telramund zu wagen.

Neben dem vielfältig in sich bewegten Chor, der das Volk von Brabant repräsentiert, existiert noch ein zweites Moment der Stuttgarter Inszenierung, das Beachtung verdient: der Kreidekreis. Árpád Schillings eigenes ungarisches Ensemble, das er 1995 gründete und das über eine Dekade lang das wichtigste innovative Theater seines Heimatlandes war, trug, nicht ohne Anspielung auf Brecht, den Namen „Krétakör“ (Kreidekreis). In der Stuttgarter Inszenierung wird der Kreidekreis zum ruhenden Pol wie zum Auge des Sturms, in dem das dramatische Geschehen sich jeweils bündelt und kulminiert. Beim Zweikampf zwischen Lohengrin und Telramund etwa wird der Kreidekreis zum Sumoring, und in der Brautnacht, dem ersten Moment intimer Zweisamkeit zwischen Lohengrin und Elsa, umschließt der Kreidekreis das Brautbett. Immer wieder fungiert er als Zentrum politischer Macht: um ihn herum rückt das Volk zusammen und signalisiert so seine Parteinahme für den einen oder den anderen Führer, die beide die Macht jeweils für sich beanspruchen.

Die Geschichte der Rettung wird demnach auch nicht vom mythischen Gral ferngesteuert, sondern sie wird in die Hände der Zivilgesellschaft gelegt, die für ihren eigenen Retter selbst zu sorgen hat. Selbstverständlich führt diese Grundidee der Inszenierung zu gewissen Friktionen mit der Wagnerschen Gesamtkonzeption des „Lohengrin“. Bei Árpád Schilling sucht man vergeblich nach dem finalen deus ex machina: keine Taube erscheint, kein Schwan verwandelt sich in Elsas Bruder Gottfried zurück, keine Perspektive tut sich auf für eine segensreiche Zukunft. Vielmehr dominiert das Bewusstsein von Schuld, und der Chor, der ganz am Ende drohend auf Elsa zuschreitet, die sich mit einem Dolch zu verteidigen sucht, lässt gar an Straf- und Rachegelüste denken. Es scheint, als wolle Árpád Schilling dem Publikum damit bedeuten, die Zivilgesellschaft dürfe den rechten Moment nicht verpassen, wenn sie sich Usurpatoren wie Ortrud und Telramund entgegenstellt, um diese dauerhaft zu entmachten.
Ein Wermutstropfen der Inszenierung ist freilich die Behandlung des Zentralsymbols der Oper: des Schwans. Zunächst kommt er als eine etwas zu groß geratene Badezimmerente ins Spiel, dann werden zahlreiche Requisitenschwäne in Lebensgröße auf einen Fluss platziert, der mittels des blauen Innenfutters der grauen Jacken der Chorsänger auf die Bühne drapiert wird, danach wettert Lohengrin die unter dem Ehebett versteckten Wasservögel gegen die Wand, bevor am Ende wieder der miniaturhafte Spielzeugschwan erscheint, von dem man Metamorphose und Transfiguration wahrlich nicht erwarten kann.

Insgesamt aber eine höchst sehens- und hörenswerte Produktion, in der bei dieser zehnten „Lohengrin“-Aufführung nicht nur die Solisten der Premierenbesetzung (Simone Schneider als Elsa, Okka von der Damerau als Ortrud, Shigeo Ishino als Heerrufer des Königs), sondern auch die danach hinzugekommenen Solosänger (vor allem Daniel Behle als Lohengrin und Simon Neal als Friedrich von Telramund) hervorragten!