Der imaginierte, inszenierte Orient – aus der Sicht des 17. Jahrhunderts

Faszinierende Ausstellung im Museum Barberini in Potsdam

Was sind eigentlich „Tronies“? Im holländischen und flämischen Barock als Übungsstücke oder Demonstrationsobjekte genutzte Bildnisse von meist anonymen Personen, die einen bestimmten altersbedingten, gefühl- oder charaktervollen Typus darstellen. Das waren also keine authentischen Darstellungen, sondern Kopf- und Charakterstudien, oft in reich geschmücktem orientalischem Kostüm, in dem sich auch Niederländer gern darstellen ließen. Als der junge Rembrandt 1625 in die Ateliergemeinschaft mit Jan Lievens eintrat, griff auch er dieses Motiv auf, wusste den Dargestellten eine „sprechendere“ Mimik und Gestik zu geben und eine Lichtregie zu entwickeln, die weit über kunstvolle Kompositionen mit verschiedenen Lichtquellen oder hervorstechenden Hell-Dunkel-Kontrasten hinausging.
Durch die besondere Lichtwirkung soll in Rembrandts „Kopf eines alten Mannes mit Turban“ (um 1627/28) das sorgfältig gebundene Tuch des Turbans den Blick ablenken von der im Schatten liegenden alternden Gesichtshaut des Mannes.

Dagegen stellt sich sein „Vornehmer Orientale“ (1632) selbstbewusst in der Einheit von Haltung und prächtiger Kleidung ins Licht, während der untere Körperteil – der eine Arm ist in die Hüfte gestemmt, der andere stützt sich auf einen Herrscherstab – im Schatten ruht. Jan Lievens‘ sogenannter „Sultan Soliman“ (1631?) wiederum, für den sich der Maler wohl eines holländischen Modells bedient hat, präsentiert das Idealbild eines orientalischen Herrschers. Die kostbaren Accessoires, vor allem die prächtige Schmuckfeder auf dem kunstreich gewickelten Turban, scheinen hier wichtiger als die Physiognomie des Dargestellten. Eine Phantasieschöpfung par excellence ist dann Rembrandts „Brustbild eines Mannes in orientalischem Kostüm“ (1633) – trotz des so markanten Antlitzes ist auf das edle Gewand und die Kopfbedeckung, mit Schmuckbändern und Preziosen ausgestattet, ebenso viel Sorgfalt verwendet worden. In Pose, Kleidung und Format ähnelt sein ungewöhnlich großes Bild „Mann mit orientalischem Gewand“ (1632) dem „Selbstbildnis in orientalischer Kleidung mit Pudel“ (1631-33), dem einzigen Selbstbildnis, das ihn ganzfigurig zeigt – ein Spiel mit den Identitäten zwischen West und Ost. In der „Dame in orientalischem Kostüm“ (1636) des Rembrandt-Schülers Govert Flinck, das die kostbare Struktur des Gewandes durch Lichtreflexe zu erkennen gibt, tritt uns der Typus der weiblichen Tronie in Phantasiegewand nach dem Vorbild Rembrandts entgegen.

In der Tat, man kann es nur immer wieder bestaunen: Rembrandt – und er gewiss nicht allein – war der „Meister des Lichts“ im Goldenen Zeitalter, wie man die etwa 100 Jahre andauernde wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit in den Niederlanden bezeichnet, die ungefähr das 17. Jahrhundert ausfüllt und in der Kunstgeschichte ohne Beispiel ist. Seine Bildwirklichkeiten gewannen eine neue, tiefe Ausdrucks- und Überzeugungskraft aus einem magischen, dramatischen oder dämmernden Licht, das Körper und Raum in ganz neuer Form zusammenband und das Malerische mit dem Linearen verschmelzen ließ. Entweder wird das Bildgeschehen bei Rembrandt von Licht durchströmt oder das Licht verteilt sich diffus, und dann wieder vollzieht sich die Handlung ganz im geheimnisvollen Zwielicht. Die differenzierte Ausdehnung des Lichts und seine Reflexion auf den Oberflächen sind bei ihm entscheidend, das Licht wird zum Bedeutungslicht gesteigert und geistig-seelischen Vorgängen sichtbarer Ausdruck verliehen. Bildraum und Lichtraum materialisieren bei Rembrandt einen psychischen Raum.

„Rembrandts Orient“ ist der Titel einer faszinierenden Ausstellung mit Bildnissen, Genredarstellungen. Stillleben, historisierenden oder biblischen Darstellungen Rembrandts und seiner Zeitgenossen im Potsdamer Museum Barberini. Amsterdam, Hauptsitz der Ostindienkompanie mit ihren weltumspannenden Handelsbeziehungen, war auch der Wohnsitz Rembrandts, der zwar selbst nie gereist ist, der aber an der Weltoffenheit der bedeutendsten Handelsstadt Europas partizipierte. Gerrit Adriaensz Berckheyde hat „Das Rathaus auf dem Dam in Amsterdam“ (1672) frontal von dem davorliegenden Platz festgehalten, auf dem ein reges Treiben sowohl von Niederländern als auch Orientalen herrscht. Im 17. Jahrhundert stand Orient für die Gebiete der Levante, der Länder am östlichen Mittelmeer, bis nach Asien. Das Unbekannte, Außergewöhnliche, Exotische übte eine besondere Wirkung aus. Wie spiegelt sich das, was man damals als Orient verstand, in der Kunst der Niederländer wider? Welche Rollenspiele der Aneignung gab es?

Man kleidete sich in orientalische Gewänder, versah Interieurs mit orientalischem Ambiente – das verwies auf Weltläufigkeit, auf Modernität der jeweiligen Besitzer. Biblische Szenen wurden als Familienbilder dargestellt. Angesichts der puritanischen Kargheit des Calvinismus musste natürlich die üppige Pracht der Gewänder und Preziosen ein Fest fürs Auge bedeuten. Doch der Überlegenheitsanspruch der Europäer gegenüber dem Orient blieb gewahrt. Die Freude an den Bildern sollte deshalb durchaus auch mit bedenkenswerten Überlegungen zu Globalisierung und Europazentrismus verbunden werden.

Beeindruckend hat Dirck van Loonen einen Edelmann aus Geldern in Szene gesetzt (1660), der gerade von einer einjährigen Reise in die Levante zurückgekehrt ist und sich nun orientalisch in einem reichen Kaftan, mit federgeschmücktem Turban, mit Dolch und Säbel präsentiert, zusammen mit einem gefährlich anzusehenden, riesigen Hund - einem Mitbringsel von der Reise? - und einem ebenso orientalisch gekleideten Diener. Es ist ein typisches Repräsentationsbild, zur Erinnerung an die Morgenlandfahrt in Auftrag gegeben. Auf Stillleben wie denen von Willem Kalf werden kunstvolle Arrangements von orientalischen Teppichen, chinesischem Porzellan, kostbar gefasster Nautilusschalen und anderer fremdländischer Preziosen dargeboten, während die Raum-Stillleben Jan van der Heydens den Bezug der Kunstkammer zum globalisierten Handel herstellen, wobei ein ausgestopftes Gürteltier vor dem Kamin den Charakter eines Memento mori gewinnt.

Der Orient war aber auch der Ort, wo sich die Ereignisse der Heilsgeschichte zugetragen haben. Für die alttestamentarische Geschichte von Juda und Tamar hat Rembrandt eine Szene gewählt, in der sich Juda zu der verkleideten Unbekannten, hinter der sich seine Schwiegertochter Tamar verbirgt, so hingezogen fühlt, dass er ihr mit seinem Ring die Ehe anbietet. Während Juda einen mächtigen Turban trägt, verdeckt Tamars Gesicht ein von einem arabischen Kordelring festgehaltener schwarzer Schleier. Man wird an Rembrandts berühmtes „Porträt eines Paares als Isaak und Rebekka“, allgemein als „Die Judenbraut“ (1666) bekannt, erinnert: Ein Mann und eine Frau, ein Liebespaar, ein Hochzeitspaar, umarmen einander. Wie seine Hand auf ihrer Brust liegt, wie ihre Finger leicht seine Hand berühren – das ist ein Zusammenklang von Sicherheit und Unvertrautheit, von Scheu und vollkommenem Wissen, das Erkennen zweier Menschen voller Ehrfurcht.

Doch ist denn Arent de Gelders „Szene aus dem Alten Testament“ (um 1680-83) überhaupt dem Juda-und-Tamar-Thema zuzuordnen? Der Mann greift hier so gewalttätig der jungen, in  einen  japanischen Seidenkimono gekleideten Frau unter das Kinn – zudem fehlt der Austausch des Pfandes –, dass hier schon an den trunkenen Lot und eine seiner Töchter gedacht worden ist. Die selten dargestellte Geschichte, „Simson, an der Hochzeitstafel das Rätsel aufgebend“ (1648), hat Rembrandt gewählt, weil sie eine von dramatischen Hell-Dunkel-Effekten geprägte, temperamentvolle Inszenierung der einzelnen Personen zuließ.

Einige Fragen löst Rembrandts „Selbstbild mit Säbel“ (Radierung, 1634) aus, das ihn frontal als Bruststück zeigt, in prunkvollem Gewand, einen orientalischen Prunkdolch griffbereit. Es ist als selbstbewusste Inszenierung des Künstlers an einem Wendepunkt seines Lebens – der Eheschließung mit Saskia van Uylenburgh – als experimentierfreudiges Rollenporträt, aber auch als Idealbildnis eines orientalischen Herrschers mit Rembrandts Gesichtszügen gedeutet worden. Doch insgesamt bleibt Rembrandt in der Folge seiner Selbstbildnisse ein Fragender, ein Mensch, der mit beharrlicher Objektivität seinen allmählichen Rückzug aus der Erscheinung studiert, wie Goethe den Prozess des Älterwerdens definierte.

Rembrandts Orient.
Westöstliche Begegnung in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts.
Museum Barberini Potsdam, tägl. (außer Di) 10 – 19 Uhr bei Buchung eines Zeitfenster-Tickets. www.museum-barberini.de. Bis 27. Juni.
Katalog (Prestel Verlag) 30 Euro