Der Klang der „Lichtungen“

Iris Wolffs neuer Roman, eine Rezension

Iris Wolff: Lichtungen, Klett-Cotta, Stuttgart, 2024 Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden256 S., ISBN: 978-3-608-98770-6 | Foto: Maximilian Gödecke

Erinnerungen sind bekanntlich auch ein Produkt der Gegenwart, unterliegen dem jeweiligen Zeitgeist. In Büchern kann man sie festhalten oder kreativ weiter entwickeln. Iris Wolff schafft beides, macht gelebtes Leben erlebbar. Auch in ihrem druckfrischen Roman „Lichtungen“ schöpft sie aus der jüngsten Vergangenheit Siebenbürgens und geht universellen Themen auf den Grund.

Iris Wolff kam achtjährig aus Rumänien nach Deutschland, hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht, die von Leserschaft und Literaturkritik geschätzt werden. Als ob sie sich an symptomatischen Wegmarken jüngerer Zeitgeschichte der Siebenbürger Sachsen und deren Mitmenschen entlang hangeln würde, blickt sie in die Zeiten der 1970er und 1980er Jahre zurück und verknüpft sie anhand der Protagonisten mit dem Heute. Zuletzt erschien 2020 „Die Unschärfe der Welt“ mit einer Flucht aus dem kommunistischen Rumänien im Mittelpunkt. Im nun vorliegenden Roman fällt der Eiserne Vorhang, der fortan nicht mehr Europa in zwei Blöcke teilt, sondern die Zeit in ein Davor und Danach. Zurück bleiben Erinnerungen, die mit fortschreitender Zeit von entfallenen Nebensächlichkeiten befreit zu Erinnerungsinseln werden, die wiederum mit abnehmender Anzahl an Leuchtkraft zunehmen und zu „Lichtungen“ im Geiste mutieren. Noch Jahrzehnte später tragen sie zum Gefühl von Zugehörigkeit oder Fremdsein bei.

In Rumänien Verbliebene stellen beim Besuch alter Freunde, die es zunächst arbeitsbedingt und danach in Gänze in den Westen zog, die Frage: „Warum bist du gegangen?“ („De ce te-ai dus?“) Im Roman „Lichtungen“ steht auf einer Postkarte aus der Schweiz nach Rumänien nur eine Frage: „Wann kommst du?“ Es ist eine andere Perspektive. Es ist die gleiche Sehnsucht.

Die Autorin wagt sich an große Fragen in einer Zeit des Wandels und einer Welt in Bewegung heran. Anhand des Schicksals Ausgewanderter und Verbliebener stellt sie hier nicht den Begriff der (alten/neuen) Heimat in den Mittelpunkt, sondern die Frage nach aktueller Zugehörigkeit: „Wo ist man zuhause, was macht das Zuhausesein aus, das Leben im Vorläufigen, im Unterwegs sein“, wie sie in einem Radiointerview dem MDR gesagt hat. Ein déjà-vu? Doch das Leben hat es in Iris Wolffs Episodenroman so an sich, das Vorhersehbare nicht eintreten zu lassen und vom Unvorhersehbaren bestimmt zu werden.

Die künstlerisch begabte Kato ging weg, während der  Holzarbeiter Lev mit der Scholle verbunden blieb. Die beiden unterschiedlichen Persönlichkeiten finden nach langen Jahren in Zürich derart verwunderlich zueinander, dass die Frage nach dem Warum Neugier weckt. Auf dem Weg in die Schweiz machte Lev bei seinem Großonkel in Wien halt, den der Kommunismus auf illegalem Wege derart aus dem Lande trieb, dass er damit definitiv abgeschlossen hat. Trotzdem stellt er fest: „Man ist einmal gegangen, immer ein Gehender.“ Doch auch Kato zog es nach der Wende fort, während Lev lieber in Siebenbürgen auf Radtour ging und auf vermeintliche Sommersachsen im Rentenalter trifft. Die Vorwendezeit wird besonders empathisch anhand des multiethnischen Mikrokosmos von Levs Familie und Katos Freundeskreis erzählt, sowie mit tragischen wie auch skurrilen Ereignissen in deren Kindheit. Das gelingt derart authentisch, als wären es autobiografische Schilderungen - bis ins kleinste Detail stimmig und zugleich voller Poesie, nicht jedoch als Idylle.

Die von Iris Wolff geschaffenen Charaktere nehmen nur allmählich Gestalt an. Sie lässt der Leserschaft Raum, durch subtile Hinweise die Protagonisten und die damit verbundene Figuration selber zu entdecken, wie jener der Erinnerung. Ein guter Freund oder eine Freundin von früher wird stellvertretend für jene Zeit von früher wahrgenommen. Wie damit umgehen?

„Früher gab es keine Bücher in deinem Haus“, sagte Lev. „Lass uns keine Sätze mit ‘früher’ beginnen.“ Obwohl es ihm einen Stich versetzte, gab er ihr recht.

Welche individuelle Bedeutung fällt heutzutage jenem Früher zu? Die Autorin kreiert damit eine latente, anhaltende Spannung in ihrem weitgehend linearen Erzählstrang eines Entwicklungsromans, der von einer aktuellen Begegnung aus rückwärts erzählt wird - einem Countdown von neun Episoden/Lichtungen entsprechend bis hin zum letzten Satz kulminierend. Chapeau!

„Er konnte Geräusche nicht ausblenden, sie gingen durch ihn durch, gerade so flüchtig und eindrücklich, dass sie sich in Bilder und Worte übersetzten.“ Iris Wolff horcht hinein in die Geräusche der Zeit, macht Klänge aus, selektiert, verdichtet und formt sie in einer harmonisch wirkenden Sprache; schafft es, die Leserschaft in jenem Fluss der Worte und deren Sound mitzunehmen und zuweilen bei ihr Resonanzklänge anzuregen. Poetisch anmutend transformiert die Autorin schonungslos tiefgründige Beobachtungen behutsam in einen Erzählstrang, berührt, eröffnet Perspektiven, bietet Lesefreude, die vom Alltag ablenkt und in diesem nachklingt.