Der Koffer voll mit Schlattners Manuskripten

Ein Gespräch mit der Herausgeberin Michaela Nowotnick anlässlich der Vorstellung des Buches „Mein Nachbar, der König“ von Eginald Schlattner in Berlin

Michaela Nowotnick, Eginald Schlattner und Ernest Wichner (v. l.) während der Buchlesung in Berlin
Foto: Dirk Beckesch

Eginald Schlattner stellte auf einer Lesetour seine beiden neu herausgegebenen Bücher „Odem“ und „Mein Nachbar, der König“ dem Publikum in Deutschland vor. Höhepunkt der Reise war sicher, neben der Lesung bei den Literaturtagen auf der Ostseeinsel Usedom, die Vorstellung der zwei Bücher im Literaturhaus Berlin am 20. März. Mit dabei in Berlin war auch die Herausgeberin der zwei Bände, die Berliner Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick. Schlattner las dabei Abschnitte aus zwei seiner frühen Texte vor. Diese Texte sind ab Anfang der fünfziger Jahre bis Ende der sechziger Jahre entstanden, wenigstens „Odem“ war damals zur Veröffentlichung vorbereitet, erklärte die Herausgeberin. Schlattner wurde damals auch durch die Verantwortlichen des offiziellen Kulturbetriebs in Rumänien stark unterstützt.

Dies änderte sich nach seiner Verhaftung im Dezember 1957. Der Verdacht: eine konterrevolutionäre Verschwörung durch Rumäniendeutsche gegen die Volksrepublik. Zwei Jahre später werden in Kronstadt dann die Schriftsteller Georg Scherg, Harald Siegmund, Wolf von Aichelburg, Andreas Birkner und Hans Bergel angeklagt und verurteilt. Ein Zeuge der Anklage ist auch Eginald Schlattner. In seinem Roman „Die roten Handschuhe“ thematisiert Schlattner seine Zeit in der Untersuchungshaft und die Ereignisse rund um den Prozess aus seiner Sicht. Er steht nicht erst seit Erscheinen seines Romans in der Kritik der damals Beteiligten. Schlattner selber wurde wegen Nichtanzeige verurteilt und saß seine Gefängnisstrafe ab.

Seine Biografie und die schriftstellerische Auseinandersetzung mit seinem Lebensthema führten in Berlin zu einer Lesung mit anschließender spannenden Diskussion. Dies lag auch an dem Leiter des Literaturhauses Berlin, Ernest Wichner, der Fragen stellte. Wichner stellte konkrete Fragen zu den Ereignissen in Kronstadt. Schlattner antwortete. Der Autor und Pfarrer erzählte von den Tagen in der Haft, von den Verhören, von den Watschen und den Schlüsselbünden, die er an den Kopf bekam, von der Brutalität und der Subtilität der Securitate und von seiner Schuld, der er sich sehr bewusst sei. Ernest Wichner fragte nach, was man ihm denn heute noch konkret vorwirft und ob er die Aussagen freiwillig gemacht hätte? Schlattner antwortete. Er erzählte, wie es ihm als Sachse in der Untersuchungshaft besser ging als den ungarischen und rumänischen Häftlingen, die bis aufs Blut geschlagen wurden, und von sieben Quadratmetern Zelle ohne Hofgang, von Nachtverhören, an deren Ende er die fabrizierten Vorwürfe gegen den eigenen Bruder bestätigte. Er erzählte vom 5. Mai 1958, dem Tag, als er der Securitate erklärte, jetzt könnten sie mit ihm rechnen. Und von dem was folgte. Von seinem Willen, ein Kommunist zu werden, und von der Arbeit in der Ziegelfabrik. Schlattner betonte, dass „Die roten Handschuhe“ von ihm in einer „Art Manie der Redlichkeit“ dicht an der Realität geschrieben wurde. Der Herausgeberin Michaela Nowotnick fiel die Aufgabe zu, dem Publikum die Verhältnisse im Literaturbetrieb des sozialistischen Rumänien zu erläutern und die fehlende Grundlagenforschung in der Auseinandersetzung mit dem Wirken und Nachwirken des Spitzelwesens der Securitate anzumahnen.

Nach der Lesung beantwortete Michaela Nowotnick für die ADZ einige Fragen von Lars Ulbricht.

Sie haben diesen März zwei Bücher von Eginald Schlattner herausgegeben. Im Klappentext steht, Ihnen wären die Manuskripte im Pfarrhaus von Schlattner mäusezerfressen in die Hände gefallen. Was hat Sie in das Pfarrhaus nach Rothberg in Siebenbürgen verschlagen?

Ich habe vor einigen Jahren in Beständen des Hermannstädter Nationalarchivs geforscht und im Zuge dessen auch oft die Bibliothek des Teutsch-Hauses genutzt. Nach einiger Zeit hatte mich der damalige Leiter des Hauses, Dr. Wolfram Theilemann, gefragt, ob ich mir vorstellen könne, den Vorlass Eginald Schlattners in das Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A. B. einzubringen und vor Ort zu bearbeiten. Der Vorlass, den man auch „Nachlass zu Lebzeiten“ nennen kann, soll der Forschung durch das Zentralarchiv vollständig zugänglich gemacht werden. Als Person von außen und aus einer anderen Generation kommend, hatte Herr Schlattner das Vertrauen zu mir, dass ich weitgehend objektiv vor allem mit seinem Privatarchiv, in dem sich auch persönliche Dokumente wie Briefe und Tagebuchaufzeichnungen befinden, umgehe. So bin ich dazu gekommen, mich viel auf dem Pfarrhof in Rothberg aufzuhalten, um dort Dokumente und Materialien zusammenzutragen und diese in den Vorlass einzupflegen.

Was macht man da praktisch und wie lange haben Sie gebraucht?

Ich habe Schlattners Unterlagen in Rothberg verpackt und diese in das Archiv nach Hermannstadt gefahren. Dort habe ich die Dokumente und Schriftstücke, aber auch Disketten, Videos und andere Materialien in Mappen und Kartons sortiert und anschließend in einer Datenbank verzeichnet. Video- und Audiodokumente konnte ich mit Unterstützung der Humboldt-Universität zu Berlin digitalisieren lassen. Am Anfang sah es gar nicht nach so viel Material aus: Ich ging von einem Schrank mit Unterlagen aus. Doch nachdem ich diese abgeholt hatte, rief Eginald Schlattner mich an und sagte, der Schrank sei schon wieder voll. Als ich erneut hinaus nach Rothberg fuhr, war es tatsächlich so und auch jetzt kommen immer wieder neue Dokumente dazu.
Eine finanzielle Förderung für das Projekt kam aus Deutschland, vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Der Beauftragte hat auch die beiden von mir herausgegebenen Bände gefördert.

Wo genau haben Sie die Manuskripte gefunden?

In der sogenannten Drachenkammer. In dem alten Pfarrhaus, in dem Eginald Schlattner lebt, hat jeder Raum einen Namen: Es gibt den Salon, das Musikzimmer, das Brunnenzimmer und eben auch die Drachenkammer. Dort stand ein Koffer, den ich lange Zeit nicht beachtet hatte, denn ich dachte, es würden sich Kleiderspenden darin befinden. Beim Öffnen sah ich anfangs nur Ausgaben des „Neuen Weg“ aus den 1950er Jahren. Nachdem ich aber ein Zeitungspaket aufgeschlagen hatte, stieß ich auf ein Manuskript von „Gediegenes Erz“. Es handelt sich hierbei um einen frühen Text Eginald Schlattners, von dem man bislang dachte, dass die ursprüngliche Fassung verschollen sei. Und nicht nur dieser Text kam zum Vorschein, der ganze Koffer war voller Manuskripte.

Der Autor Eginald Schlattner wusste davon nichts mehr?

Er hatte die Manuskripte natürlich irgendwann in den Koffer getan, aber offensichtlich hatte er sie aus den Augen verloren. Einige der Erzählungen werden auch von Schlattner und anderen Personen erwähnt, der Autor hatte sie aber bislang nicht in seine literarische Biografie aufgenommen. Das ist jetzt nach der Publikation natürlich anders.

Wie sind Sie nach Siebenbürgen gekommen? Kaum jemand der jüngeren Generation in Deutschland weiß überhaupt, wo Siebenbürgen liegt. Geschweige denn, dass dort eine deutsche Minderheit lebt, mit einer ganz eigenen Literatur.

In meiner Magisterarbeit habe ich die Kontakte von deutschen Autoren zu siebenbürgischen Literatur- und Kulturzeitschriften untersucht. Vor allem dadurch ist mir erstmals bewusst geworden, welche große literarische Produktion es in deutscher Sprache auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens gab und auch noch gibt. Autoren, die in Deutschland wenig beachtet werden und von denen man vor der Vergabe des Nobelpreises an Herta Müller nahezu nichts wusste. Für mich als Literaturwissenschaftlerin ist die Arbeit in Siebenbürgen und Rumänien überhaupt sehr spannend: Der Zugang zur Literatur, der Kontakt zu den Autoren, die intensive Zusammenarbeit, das ist sehr bereichernd und aufschlussreich.

Einigen Texten merkt man ihre Entstehungszeit im Rumänien der 50er, 60er Jahre an. Ist das nicht schwer für den heutigen Leser zu verstehen?

Deshalb war es mir sehr wichtig, jedem Text eine Einführung mitzugeben, damit der Leser sie richtig einordnen kann. Zum Beispiel erschien die Erzählung „Gefährte Rebhuhn“ 1957 unter dem Pseudonym Klaus Fahrenkrog im Almanach des „Neuen Weg“ und konnte Eginald Schlattner als Autoren deshalb bislang nicht zugeordnet werden. Aber schon in dieser Erzählung hat Schlattner ein autobiografisches Erlebnis verarbeitet, genau wie später in seinen Romanen. An einigen Stellen ist der Text für den heutigen Leser schwer verständlich, zum Beispiel wenn es um Arbeitsbedingungen im Rumänien der 1950er Jahre geht. In dem Begleittext habe ich versucht, auf bestimmte Dinge hinzuweisen und einige Sachverhalte zu erklären.

Bei der Lesung im März im Literaturhaus in Berlin hat sich Eginald Schlattner scheinbar wiederholt beim Publikum für seine frühen Texte entschuldigt. Warum eigentlich?

Da muss ich länger ausholen: Ab Mitte der 1950er Jahre sollte Eginald Schlattner als eine Art Stern an den Himmel des deutschsprachigen Literaturbetriebs von Rumänien gehoben werden. Die Veröffentlichung seiner beiden ersten Bücher waren bei der ESPLA, dem damaligen Staatsverlag für Literatur und Kunst, geplant, was sehr ungewöhnlich für einen Neuling ist. Doch dann konnten die Texte aufgrund seiner Verhaftung nicht erscheinen. Schlattner schrieb nach seiner Haftentlassung zwar weiter, allerdings nur für die Schublade, denn auch spätere Texte konnten nicht publiziert werden. Ab Ende der 1960er Jahre, so lassen die bisherigen Forschungsergebnisse vermuten, hat Eginald Schlattner gar keine literarischen Texte mehr verfasst. Nach 1989 gab es für ihn allerdings einen erneuten Schreibschub, aus dem dann die drei Romane entstanden sind.

An viele seiner frühen Erzählungen, die teilweise in den beiden Bänden versammelt sind, konnte sich Eginald Schlattner nur noch fragmentarisch erinnern. Und er hatte natürlich Bedenken, dass diese frühen Texte, die er in seiner Jugend verfasst hatte, nicht gut sein könnten. Ein Autor lebt ja von der Reaktion seiner Leser, und ein Lesepublikum hat es zur Entstehungszeit der Erzählungen fast gar nicht gegeben. 

Bei der Berliner Lesung musste sich Schlattner auch erneut für seine Vergangenheit verteidigen. Warum ist das so?

Für bundesdeutsche Leser ist die Diskussion seit dem Erscheinen von „Rote Handschuhe“ und den Debatten, die sich daran angeschlossen hatten, mehr oder minder abgeschlossen. Jemand hat das und das gemacht, hat dafür zwei Jahre Gefängnis bekommen, selbst auch gelitten und dieses Erlebnis literarisch verarbeitet. Für die Forschung, aber auch für die Gemeinschaft der Rumäniendeutschen und besonders für die Betroffenen stellt sich dieser Umstand anders dar, denn es ist ja ihre eigene Geschichte, die in dem Roman und auch immer wieder auf Tagungen und Konferenzen oder von den Medien thematisiert wird. Und es ist ja auch tatsächlich so, dass dieser Teil der Geschichte bislang nur sehr bruchstückhaft aufgearbeitet ist. Hinzu kommt, dass seit einigen Jahren die Archive der Securitate einsehbar sind und in sehr rascher Folge neue Erkenntnisse gewonnen werden.

Spielt Schlattners großer schriftstellerischer Erfolg in Deutschland bei seiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch eine Rolle?

Der Erfolg spielt insofern eine Rolle, als dass Eginald Schlattner immer wieder mit diesen Ereignissen konfrontiert wird. Auf der Lesereise wurde die Rolle Schlattners im Schriftstellerprozess des Öfteren thematisiert. Letztendlich liegt auch über den Erzählungen, die jetzt veröffentlicht wurden, der Schatten des Schriftstellerprozesses, denn sie werden nur deshalb erst jetzt publiziert, weil Schlattner in den Prozess involviert war. 

Wie geht es für Sie nach der Arbeit an den Bänden von Schlattner weiter?

Oberste Priorität hat nun erst einmal meine Doktorarbeit, in der ich mich auch mit Eginald Schlattners Literatur befasse. Und ab Mai gehen Herr Schlattner und ich auf Lesetour durch Rumänien. Ich habe leider noch keine genauen Daten, weiß nur, dass es im Mai losgeht. Bisher sichere Termine sind: Schäßburg, Hermannstadt, Bukarest, andere Städte kommen bestimmt noch dazu.