Deutsches literarisches und kulturelles Erbe im südosteuropäischen Raum

Online-Jahrestagung des Hermannstädter Lehrstuhls für Germanistik

Die Tagung des Hermannstädter Lehrstuhls für Germanistik an der Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt/Sibiu, die am ersten Freitag im laufenden Monat November nunmehr zum zweiten Mal als Online-Videokonferenz stattfand, versammelte auch in diesem Jahr wieder mit bewundernswerter kontinuierlicher Regelmäßigkeit und in bewährter Manier nationale und internationale Fachkolleginnen und -kollegen zu Vorträgen und zum intensiven Gedankenaustausch an Computerbildschirmen in Polen, im Kosovo, in der Türkei, in Deutschland und in Rumänien. Bis zuletzt hatte die Initiatorin und Koordinatorin der Tagung, die Hermannstädter Germanistin Frau Prof. Dr. Maria Sass, noch darauf gehofft, die Tagung leibhaftig als Gemeinschaftsveranstaltung in den Räumen der Lucian-Blaga-Universität abhalten zu können, aber die pandemische Lage in Rumänien ließ dies auch in diesem Jahr leider nicht zu!

Eröffnet wurde die Online-Jahrestagung durch drei hohe Vertreter der Lucian-Blaga-Universität. Deren Prorektor für Forschung, Innovation und Internationalisierung, Herr Prof. Dr. Andrei Terian, lobte die gemeinschaftliche Anstrengung der Hermannstädter Germanistik, jedes Jahr wieder eine neue und gehaltvolle wissenschaftliche Veranstaltung auf die Beine zu stellen, heuer auch unter erschwerten Bedingungen. Der Dekan der Fakultät für Philologie und Bühnenkünste, Herr Doz. Dr. Dragoș Varga, hob die editorischen Errungenschaften der Hermannstädter Germanistik her-vor und erwähnte hierbei insbesondere die Höherstufung der „Germanistischen Beiträge“, des renommierten Hermannstädter germanistischen Fachorgans, im internationalen Ranking wissenschaftlicher Zeitschriften. Der Leiter des Departments für angloamerikanische und germanistische Studien, Herr Lekt. Dr. Ovidiu Matiu, brachte abschließend seine Freude darüber zum Ausdruck, auch in diesem Jahr wieder eine hochkarätige Tagung an seinem Department, wenngleich nur virtuell, beherbergen zu können.

Nach dieser offiziellen Begrüßung erinnerte Maria Sass im ersten und einzigen Plenarvortrag der Tagung an den im Juli dieses Jahres verstorbenen Universitätsprofessor, Literaturwissenschaftler, Publizisten, Herausgeber und Übersetzer Horst Schuller (1940-2021), der im Jahre 1993 die oben erwähnten „Germanistischen Beiträge“ begründete und lange Jahre auch als Lehrstuhlinhaber an der Hermannstädter Germanistik gewirkt hat. Nach dieser umfassenden Würdigung von Persönlichkeit, Werk und Wirkung Horst Schullers trat das Plenum in zwei Sektionen aus-einander, zu deren diversen Vorträgen man über zwei verschiedene Links Zugang erhalten konnte: in eine literaturwissenschaftliche Sektion mit vierzehn Vorträgen und in eine parallel dazu eingerichtete Sektion mit insgesamt elf Vorträgen zu sprach-, kultur- und übersetzungswissenschaftlichen Themen. Im ersten Vortrag der literaturwissenschaftlichen Sektion sprach András F. Balogh (Klausenburg/Budapest) über das deutsche Kulturerbe aus Südosteu-ropa im ungarischen Resonanzraum vom Mittelalter (Helene Kottanerin) bis zur Gegenwart (Eginald Schlattner, Hans Bergel, Franz Hodjak u. a.). Roxana Nubert hielt im Anschluss daran einen gemeinschaftlich mit Ana-Maria Dascălu-Romițan (beide Temeswar) verfassten Vortrag über einen Vertreter der literarischen Moderne im Banat, den Schriftsteller Franz Xaver Kappus (1883-1966), der vor allem durch die an ihn gerichteten „Briefe an einen jungen Dichter“ Rainer Maria Rilkes größere Bekanntheit erlangte.

Ovio Olaru (Hermannstadt), der auch für die technische Betreuung der Hermannstädter Jahrestagung verantwortlich zeichnete, referierte anschließend über Aspekte der sozialistischen Postmoderne am Beispiel der Aktionsgruppe Banat, wobei er auch die unterschiedlichen Rezeptionsperspektiven auf die Werke dieser Schriftstellergruppe diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs näher untersuchte. Die Temeswarer Germa-nistin Grazziella Predoiu sprach über die Essayistik Herta Müllers, insbeson-dere über deren 2003 erschienenen autobiographischen Essayband „Der König verneigt sich und tötet“. Ana Karlstedt (Bukarest) hielt im Anschluss daran einen Vortrag über Fremdheitskonstruktionen in dem Kinder- und Jugendbuch „Cosmin“ von Karin Gündisch, in dem das Schicksal eines Roma-Jungen im Zentrum steht. Die Stadt Klausenburg als existenzieller Angelpunkt im Leben Eginald Schlattners bildete den Fokus des Vortrags von Andreea Dumitru (Hermannstadt) über das autobiographische Werk „Wasserzeichen“ des siebenbürgisch-sächsischen Schriftstellers und Pfarrers, das der Autor mit dem Untertitel „Ersonnene Chronik“ versehen hat. Die Hermannstädter Schriftstellerin Maria Haydl (1910-1969) wurde von Sunhild Galter (Hermannstadt) zum Thema gemacht, speziell drei Erzählungen aus ihrem posthum erschienenen literarischen Band „Eine Truhe voll Kupferkreuzer“. Den letzten Vortrag am Vormittag hielt dann Teodora Țugui-Caraba (Baia Mare), die über den Zipser Ethnologen und Schriftsteller Anton-Joseph Ilk (geb. 1951) und sein Werk „Die mythische Erzählwelt des Wassertals“ sprach und dabei sowohl auf überlieferte Erzählgenres in dieser Region näher einging als auch auf diverse phantastische Gestalten und ihre Symbolik.

Den nachmittäglichen Teil der literaturwissenschaftlichen Sektion eröffnete ein gemeinschaftlicher Vortrag zweier Germanisten aus der Türkei: Kadir Albayrak (Sivas) und Ali Osman Öztürk (Konya) widmeten ihre Präsentation zwei Prosawerken von Luise Rinser, nämlich den Erzählungen „Ein Bündel weißer Narzissen“ und „Die rote Katze“, in denen das Thema der Werte sowie das Problem der Gewaltausübung eine große Rolle spielt. Über theatralische Körper-Inszenierungen anhand eigener Bühnenstücke berichtete Carmen Puchianu (Kronstadt), wobei sie ihre chronikalischen Berichte mit Fotos von einzelnen Theateraufführungen illustrierte. Manuel Stübecke (Berlin) widmete seinen Vortrag der literarischen Verortung Draculas zwischen der Steiermark und der Walachei und gab ihm den schönen Titel „Wie Transsylvanien das Land der Vampire wurde“. Daran schloss sich ein Vortrag von Ioana Cr˛ciun-Fischer an, die unter dem Motto „Aus jeder Schwäche schmiede ich ein Schwert“ jüdische Identität und weibliches Selbstbewusstsein in der Lyrik der Schriftstellerin Klara Blum untersuchte, die 1904 in Czernowitz/Cernăuți geboren wurde und im Laufe ihres Lebens neben der österreichischen Staatsbürgerschaft auch diejenige der Sowjetunion und die der Volksrepublik China annahm, wo sie 1971 als Zhu Bailan auch verstarb. Mit dem ebenfalls in Czernowitz geborenen Alfred Kittner (1906-1991) befasste sich der letzte Vortrag der literaturwissenschaftlichen Sektion der diesjährigen Hermannstädter Online-Tagung: Beatrice Greif (Jassy) sprach über Alfred Kittners publizistische Tätigkeit beim Czernowitzer Tagblatt und das literarische Leben in der Bukowina im 20. Jahrhundert. 

Nach anregenden Diskussionen über die gehörten Vorträge fand abschließend eine literarische Lesung von Joachim Wittstock (Hermannstadt) in der Lucian-Blaga-Universität statt, die unter dem Rahmenthema „Faszinosum alte deutsche Sprache“ stand und via Google Meet auf die Bildschirme der Tagungsteilnehmer übertragen wurde. In der Einführung dazu bezeichnete der siebenbürgisch-sächsische Autor seine unmittelbar folgenden Ausführungen als „Kontrastprogramm“, da in ihnen nicht der Bezug zur Gegenwart dominiere, sondern die Liebe zum Alten. Joachim Wittstock gestand seine Faszination ein, die von älteren Sprachstufen des Deutschen, etwa von der Sprache Luthers, der deutschen Volksbücher oder des Zeitalters des Barock, auf ihn ausgehe und ihn fortwährend inspiriere. Nicht von ungefähr las der Autor im Anschluss daran aus seiner Erzählung „Karussellpolka“ (1978), in der des Barockdichters und -theoretikers Martin Opitz gedacht wird. Die Sprache des Barock kam auch in der zweiten von Joachim Wittstock zur Lesung bestimmten Erzählung zur Geltung, nämlich in „Herr Gryphius und der gefangene Dichter“ (1994), in der sich literarhistorische Betrachtungen und zeitgenössische Aktualisierungen in der gemeinsamen Feier der Sprache verbanden und sich gegenseitig ergänzten. An dieser Lesung nahmen auch die Teilnehmer der sprach-, kultur- und übersetzungswissenschaftlichen Sektion teil, deren Namen, Vortragstitel und Referate im nächsten Band der „Germanistischen Beiträge“ nachgelesen werden können.