Die Gegenwart der Geschichte verstehen

Neues enzyklopädisch angelegtes Werk zur Geschichte Südosteuropa / Geschichte Rumäniens nimmt breiten Raum ein

„Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart“, herausgegeben von Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7917-2368-6, 912 S. mit 32 z. T. farbigen Karten, 39,95 Euro

Südosteuropa gilt als geografischer Raum mit besonders komplexer Geschichte und Gegenwart. Von manchen romantisch verklärt, von anderen mit besonders negativen Attributen belegt, macht die Region bis heute vor allem durch blutige Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Volksgruppen und Religionen wie etwa im ehemaligen Jugoslawien und Länder mit eher negativem Image wie Rumänien und Bulgarien von sich reden. Selbst in wissenschaftlichen Publikationen  lassen sich Platitüden und Stereotypen zum „Balkan“ finden. Objektive Darstellungen zur Region sind nach wie vor ein Desiderat. Das Buch „Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart“ aus dem Verlag Friedrich Pustet (Regensburg) schließt nun diese Lücke auf höchstem wissenschaftlichem Niveau.

Der voluminöse Band richtet sich an Fachpublikum und breite Leserschaft gleichermaßen. Die Beiträge stammen alle von herausragenden Südosteuropa-Experten und entsprechen dem aktuellen Forschungsstand, sind aber auch allgemeinverständlich geschrieben. Führende Forscher wie Ulf Brunnbauer, Konrad Clewing, Peter Mario Kreuter oder Oliver Jens Schmitt zählen zu den Autoren. Wer sich durch die 912 Seiten dieses Bandes durcharbeitet, ist bestens informiert über die komplexe Entwicklung der Region und lernt auch die besondere Gegenwart der Geschichte in Südosteuropa bis heute zu verstehen.

Politik, Wirtschaftsgeschichte, Gesellschaft, Kultur und Religion werden länderübergreifend gleichermaßen umfassend und hintergründig behandelt. Dabei wird rasch deutlich, dass nicht nur die Volksgruppen, sondern auch die Religionen viel zur bunten Vielfalt wie zum Konfliktpotenzial der Region beigetragen haben und weiter beisteuern.

Wie ein roter Faden zieht sich der Kampf konkurrierender Reiche und Kultursphären um Einfluss und Macht in Südosteuropa durch die Geschichte der Region, deren Länder und Völker sich im Spannungsfeld zwischen Hellenisierung und Romanisierung, zwischen ostkirchlichem und lateinischem Christentum, zwischen Byzanz, Wien, Moskau und Osmanischem Reich sowie im 20. Jahrhundert zwischen Kommunismus und dem Westen bewegen und darin überleben mussten. Diese Spannungsfelder äußerten sich auch im Ringen um die eigene politische und geografische Rolle an der Peripherie Europas und an der Schnittstelle von Großreichen, besonders sichtbar an Siebenbürgen und Rumänien.
Regelmäßig wird deutlich, wie politisch bedeutsam die religiösen und konfessionellen Prägungen die Region beeinflussten, vor allem seit der Entfremdung zwischen Ost- und Westkirche zwischen 900 und 1200 bis hin zum lateinischen Kreuzzug mit der Eroberung Konstantinopels 1204.

Mehrfache Unionsversuche wie ja auch in Siebenbürgen um 1700 zeigen die Versuche Roms, Südosteuropa konfessionell zu dominieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass die langfristig tiefgreifendste Folge der osmanischen Eroberung der Region die Islamisierung eines Teils der südosteuropäischen Bevölkerung war. Grundlegend wird auch deutlich, dass die europäische Identität auch in Südosteuropa sich als christlich bestimmt herausgebildet hat. „Nach den Bulgaren waren die Magyaren das zweite Reitervolk, das durch die Christianisierung dauerhaft in die europäische Staatenwelt eingegliedert wurde.“ (S. 71) Um 1100 gab es mit Ungarn und Byzanz zwei christliche Großmächte in der Region.

Der Band bietet eine epochenübergreifende Darstellung der gesamten Balkanhalbinsel einschließlich ihres maritimen Umfelds und der Länder der ungarischen Krone. Nicht die Geschichte einzelner Nationalstaaten steht hier im Mittelpunkt, sondern die Darstellung der gesamtregionalen Zusammenhänge, deren Bedeutung sich mit Blick auf die großen Reiche erklären lässt, die diesen Teil Europas über Jahrhunderte beherrschten und bis heute prägen. Die Gesellschafts- und Kulturgeschichte, insbesondere die im europäischen Vergleich einzigartige ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt der Region sowie die ethnischen Homogenisierungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert werden intensiv ausgeleuchtet.

Umfassend wird die Geschichte Siebenbürgens und Rumäniens, seiner Fürstentümer, Völkerschaften und Religionen in diesem Band dargestellt und immer wieder darauf Bezug genommen. Rumänien nimmt so breiten Raum ein in den verschiedenen Beiträgen bis zur Würdigung der Rolle der Fürsten im Spagat zwischen den Großmächten. Auch das Verhältnis von Staat, Herrschaftssystem und Kultur sowie die Hofkultur werden transparent als Hintergrund vieler Entwicklungen, wobei Byzanz stets „den umfassendsten Anspruch auf die Wiederherstellung des alten römischen Imperiums erhob“ (S. 109).

Spannend ist dabei stets die Frage, inwiefern sich in den verschiedenen Staatsgebilden und den jeweiligen Staatsformen die Staatlichkeit und die Staatsmacht auch wirklich durchsetzen konnten, eine Frage, die sich bis zur spezifisch südosteuropäischen Form des Kommunismus zwischen Ideologie und Pragmatik stellt, wobei das „typische Auseinanderklaffen von Rechtssetzung und Rechtswirklichkeit“ (S. 507) schon in den monarchischen Imperien der Habsburger und der Osmanen zu erkennen war.

Auch die Entwicklung der Rechtsgeschichte, des Stadtbürgertums, von Volkskultur und Hochkultur, Verkehr, Wirtschaft, Handel und der Sozial- und Gesellschaftsstrukturen sowie die Herausbildung intellektueller Eliten auch in Opposition zu traditionellen Machtstrukturen wird beleuchtet, sei es als Vertreter politisch modernen Gedankenguts oder der Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts, sei es als Widerstand gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Die Staatsbildungsprozesse des 19. Jahrhunderts werden umfassend behandelt. Überhaupt werden das 19. und 20. Jahrhundert besonders ausführlich thematisiert. Die Darstellung reicht bis 2010.

Wer das vorliegende wahrhaft enzyklopädische Werk liest, lernt politische Vorgänge und historische Entwicklungen in Südosteuropa vor ihrem Hintergrund und im Kontext wahrzunehmen und zu analysieren und erfährt unentbehrliche Fakten zu einer Region, die von „Märchen, Mythen und Legenden“ geprägt wird, wie der deutsche Schriftsteller Jan Koneffke sagt, der in Rumänien lebt. Für das richtige Verständnis der Geschichte Rumäniens, seiner Völker und Regionen bietet diese unbestechlich objektive Darstellung Kennern wie Laien absolut zuverlässige Informationen auf aktuellem Forschungsstand bei gleichzeitig guter Lesbarkeit. Der besondere Vorteil des Bandes, der sich in Darstellungskapitel, Längs- und Querschnitte gliedert, ist die Tatsache, dass die einzelnen Beiträge des doch umfangreichen Bandes je nach Interesse und Zeit des Lesers auch unabhängig voneinander gelesen werden können.

Kritisiert werden mögen an dem Band vereinzelt aufscheinende antiorthodoxe Tendenzen. Wenn etwa Oliver Jens Schmitt und Harald Roth von „gesamteuropäischen Geistesströmungen“ (S. 318) schreiben, dann verstehen sie darunter leider nur westeuropäische philosophische Ideen und Geistesbewegungen. Ostkirchliche Spiritualität und Mystik werden als „Mystizismus“ gekennzeichnet. Dabei hat der von Rumänien aus länderübergreifend so wirkmächtig gewordene Hesychasmus konfessionell die Orthodoxie der Region bis heute geprägt und komplettiert die westeuropäischen Geistesströmungen.

Beide referieren leider auch nicht die Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der Union von Siebenbürgen nach 1700. Michael Portmanns Aussage wiederum, die Orthodoxie habe in Rumänien zu Lasten der Minderheitenkirchen den Status als Staatskirche erstritten (S. 565), ist ungenau. Auch die Griechisch-Katholische Kirche hatte in der Verfassung von 1923 diesen Status. Doch solche wenigen Unschärfen schmälern den überaus positiven Gesamteindruck dieses prächtig gestalteten Bandes und wohl künftigen Standardwerks keineswegs.