Die Hauptstadt des Dokumentarfilms

30-jähriges Jubiläum des Astra Film Festivals in Hermannstadt (15. - 22. Oktober)

Das Zelt in Form einer Halbkugel ist ein „Full Dome”, wo die Filme auf die Kuppel projiziert werden und somit das gesamte Gesichtsfeld ausfüllen. Es ist eine einmalige Erfahrung, die den Zuschauer mitten ins Geschehen holt. Hier werden viele Leinwandgeschichten für Kinder in den Alterskategorien 6+, 11+ und 15+ angeboten. | Fotos: AFF

Werden Anikó und Laci nach dem Lottogewinn jemals noch in dieselbe Richtung blicken können?

„Between Revolutions“ wird weltweit auf zahlreichen bedeutenden Festivals gezeigt.

Das Astra Film Festival (AFF) feiert sein 30. Jubiläum. Es sei eine große Freude, dass das erste und bedeutendste Festival für nicht-fiktionalen Film es bis zu diesem Punkt geschafft hat - und „ein Erfolg der gesamten Gemeinschaft”, betont Dumitru Budrala, der Gründer und Leiter des Festivals. 1993 wurden die Filme noch in kleinem Kreis auf einem Fernsehgerät verfolgt, nun taucht man in unterschiedliche Realitäten und Welten dank modernster Technologie ein, die sogar den Eindruck erweckt, man sei mitten im Geschehen, würde selbst regelrecht daran teilnehmen. 

Seit drei Jahrzehnten wird Hermannstadt/Sibiu im Herbst zur rumänischen Hauptstadt von Dokumentarfilmen aus aller Welt. Neueste Produktionen füllen Kinosäle, neugierige Zuschauer debattieren mit Filmemachern, Produzenten oder Filmfiguren über die Problematik und den Entstehungsprozess der Streifen. Tausende Schüler werden im Rahmen des Programms Astra Junior in die wundersame Welt der nicht fiktionalen Filme eingeführt und Studenten lernen bei einem mehrtägigen Workshop, ihre Realität filmisch umzusetzen. Das AFF hat entscheidend zur Entwicklung des Genres hierzulande beigetragen und ist ein Bezugspunkt in der Kulturbranche. 

130 Leinwandgeschichten aus 40 Ländern, die meisten davon nationale Premieren, Meisterklassen, Ausstellungen, Konzerte, Partys erwarten zwischen dem 15. und dem 22. Oktober Teilnehmer und Zuschauer im Thalia-Saal, im Kino, in der Mall sowie am Großen Ring, um hervorragende Produktionen, Filme vielversprechender Regisseure und Studentenfilme zu schauen. Die Streifen sind in mehrere  Kategorien gruppiert, viele davon nehmen an den Wettbewerben für neue Stimmen des Dokumentarfilms, Rumänische, Zentral- und Osteuropäische Filme und Schulfilme teil. Für Kinder gibt es zahlreiche Events, an denen ganze Schulklassen teilnehmen können. Anlässlich des Jubiläums werden Filmemacher, die ihre Werke beim Festival gezeigt haben, über ihre Erfahrungen sprechen und über die Entwicklung des rumänischen Dokumentarfilms diskutieren. Außerdem wird auch ein Buch über das AFF als Erfahrung vorgestellt, das zahlreiche Interviews enthält.

Authentischer Blick auf die Welt

Die zentral- und osteuropäischen Filme bringen authentische und originelle Blickwinkel von starken und einzigartigen Persönlichkeiten und Geschichten vor das Publikum. Sie gehen ganz unterschiedliche Themen an, vom Krieg in der Ukraine, über Gewalt in russischen Schulen bis hin zur geheimen Liebe zwischen zwei Frauen in einer kleinen Gemeinschaft in Polen. Mátyás Kálmáns „Ein Besuch bei Fortuna” (Originaltitel: Fortuna vendégei, Kroatien, Ungarn, 2022) zeigt die rührende und ungewöhnliche Geschichte des bedürftigen Paares Anikó und Laci, das eines Tages zwei Millionen Euro im Lotto gewinnt. Eine Zeitlang leben sie beide ihren Traum: Laci, der vorher obdachlos war, lässt sich im Luxus verwöhnen und Anikó eröffnet ein eigenes Unternehmen. Der Film verfolgt die Protagonisten hautnah und schildert die Entscheidungen, die sie treffen und die ihre Beziehung zueinander und zu sich selbst verändern. 

Sehr persönlich

Jede Sektion bringt sehr persönliche Schicksale in den Vordergrund. Mit der Kamera in der Hand machen sich Filmemacher auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte, um ein besseres Verständnis ihrer selbst zu erlangen. Sie wenden ganz unterschiedliche Herangehensweisen und Darstellungsformen an, treten oft selber im Film auf. 

In „Eine Mutter“ (Originaltitel: „Une mère”, Mickaël Bandela, Frankreich, 2022) stellt der Regisseur seinen beiden Müttern, der leiblichen und der Pflegemutter, Fragen. Darüber, wie die eine ihr sechs Monate altes Baby weggeben konnte, wie die andere ein fremdes Baby aufnehmen konnte und ob es dieses wie die eigenen Kinder liebt. Ein beeindruckender Streifen, in dem Bandela versucht, eine verlorene Beziehung wieder herzustellen.

Auch Andreas Boschmann will mittels Videokamera eine Annäherung an seine Familiengeschichte versuchen. Seine Eltern kamen Anfang der 1990er Jahre aus Russland nach Deutschland. Ihr Traum von einem neuen Leben endete in einer Tragödie. Die Mutter starb an Leukämie, der Vater an Depression und Alkoholsucht. Der damals fünfjährige Andreas und seine Schwester wuchsen mit den Großeltern im Russenghetto auf. Nie hat man über das, was passiert war, gesprochen. Mithilfe einiger Briefe der Mutter an die Großmutter und anhand einer verbliebenen Videokassette beginnt in „My Home Video” (Deutschland, 2023) eine Erkundung verborgener Gefühle. Der Film steht im Rennen für Studentenfilme.

Die rumänische Produktion, deren erfolgreiche Laufbahn bei der Berlinale begonnen hat, „Between Revolutions” (Vlad Petri, Rumänien, 2023) besteht ausschließlich aus Archivmaterial. Es zeigt die inoffizielle Geschichte aus der Sicht zweier Frauen, die in ihren Heimatländern, Rumänien und Iran, Unterdrückung erleben. Die beiden freunden sich während des Medizinstudiums in Bukarest an, sie teilen dieselben Zunkuftsträume und -wünsche und ein Geheimnis, das sie niemandem gegenüber lüften. Die Iranische Revolution von 1979 trennt sie, die Verbindung wird jedoch durch Briefwechsel aufrecht erhalten. Als 1989 die Revolution im osteuropäischen Land ausbricht, wird der Wunsch nach einer anderen Zukunft wach. 

Radiographie der rumänischen Gesellschaft

Die rumänischen Wettbewerbsfilme versuchen eine Radiographie der rumänischen Gesellschaft, von Verletzlichkeit bis zur Integration, vom Kampf für Gerechtigkeit zur Nostalgie vergangener Zeiten bis hin zu Möglichkeiten spiritueller Heilung. 

Starke Filmfiguren kommen in den Vordergrund, längst vergessene oder sogar unbekannte Aspekte der Geschichte werden gezeigt. 

Iulia Ruginas „Playback” (Rumänien, 2023) bringt die Discopartys der 1980er und 1990er Jahre wieder in Erinnerung. Sorin Lupașcu, einer der bekanntesten und beliebtesten DJs der Zeiten, führt im Film vor Augen, wie man im Kommunismus auf Rock und Pop tanzte, obwohl diese verboten waren, und wie die jungen Menschen feierten. Er spielt die alten Lieder, die die Zuschauer über den ganzen Streifen begleiten und in einem Großteil von ihnen wohl Nostalgie wecken wird. Die Archivbilder und die aktuellen Drehs in dieser Geschichte vervollständigen das Bild der Entwicklung der osteuropäischen Gesellschaft in den letzten 50 Jahren. 

Die Astra Filmfestspiele, die unter der Schirmherrschaft des rumänischen Präsidenten stehen und vom Kultusministerium, dem Nationalen Filmzentrum CNC, dem Rumänischen Kulturinstitut ICR und dem Deutschen Konsulat Hermannstadt unterstützt werden, erhalten eine Mitfinanzierung von den Hermannstädter Lokal- und Kreisbehörden. 

Weitere Informationen zu den Filmen, den Gästen und dem Festival sind auf der Webseite des Veranstalters, astrafilm.ro erhältlich.