Ein „mărțișor“ für Elinor

Auszug aus „Schattenspiele toter Mädchen“, Pop Verlag 2022

Eginald Schlattner, Pfarrer und Schriftsteller in Rothberg. Sein neuestes Werk „Schattenspiele toter Mädchen“, ISBN 978-3-86356-360-8 ist dieses Jahr im Pop Verlag Ludwigsburg erschienen.

Ich schreibe das Gedachte fort. Es wird früh dunkel. Massive Stille und kompakte Finsternis bedecken den alleinstehenden Pfarrhof. Wo allein ein Fenster erleuchtet ist, das Fenster der Schreibstube. Die halbe Welt leidet unter den Nachbarn. Ich gehöre zur anderen Hälfte. 
Elinor! 
Weiter verliere ich mich an diese rätselhafte Schülerliebe. Gemeinsame Erlebnisse, die nie zur Sprache kommen – ist das so? –, sie werden vergessen, von beiden Seiten. Dagegen: Getrennte Erinnerungen, legte man sie zusammen, sie könnten das Bild der Freundschaft ausmachen.

Es kam zu keinen einhelligen Bekundungen. Nichts „wie aus einem Munde.“ Das Wort Liebe fiel nicht. Und als Geste? Einmal hatte sie mich an der Hand genommen und mich auf den Jagdturm ihres Großvaters gezogen, noch Schüler. Und einmal hatte ich sie in meiner Kirche gesegnet, mit Handauflegung. Mündig beide.

Doch eine  Geschichte, das Herannahen an das kostbare Geschöpf, verlief voller Kapriolen und mit ungewissem Ausgang zu Lebzeiten!

Bei den Sachsen war es nicht Sitte, dass wir am 1. März Mädchen und Frauen mit einem „m˛r]i{or“ beschenkten. Wir hatten dafür nicht einmal eine deutsche Bezeichnung, die Übersetzung „Märzchen“ hat sich nicht eingebürgert. Wir ließen sie gewähren, die Rumänen, in ihrem fremdartigen Gehabe. Sie waren die anderen. 

Auch der 8. März, der internationale Frauentag, besonders von den rumänischen Männern höchlich begangen und reichlich begossen, wurde von uns gemieden. Das sei eine scheinheilige Erfindung Stalins, und der war in unseren Kreisen verschrien, als Meuchelmörder und, und … – jedoch im Flüsterton. Wir Sachsen hielten uns nach wie vor in feierlicher Ernsthaftigkeit an den Muttertag am zweiten Sonntag im Mai. Obwohl einige stänkerten, der Muttertag wiederum sei eine Modeschöpfung von Hitler.

Doch so einfach ließen sich die Dinge nicht an. Ein mulmiges Gefühl packte uns sächsische Jungen, wenn wir am 1. März die Schülerinnen vom Mädchengymnasium Doamna Stanca auf dem Corso in Fogarasch hochgeschwellt herumflanieren sahen, ihre Jacken und Mäntel bestückt mit den winzigen Schmuckobjekten namens „m˛r]i{or“. Und zusahen, wie unsere Mädchen leer ausgegangen waren. Noch schlimmer sah es aus, wenn sie verschämt ein solches Angebinde am Mantelaufschlag spazieren führten. Denn dann wussten wir, oh Graus: Ein rumänischer Junge hatte sich in märzlicher Liebenswürdigkeit an unsere Mädchen herangemacht.

Aber nicht diese Besorgnis war es, was mich anspornte, wenn ich  Elinor zu einem so fremdartigen Andenken verhelfen wollte: Dass ich womöglich einem Rumänen zuvorkommen würde. Es gehörte zu den Selbstverständlichkeiten seit Jahrhunderten, als guter Ton, als Verhaltenscodex, dass sich unsereins mit fremdem Volk keineswegs zu tun machte, geschweige für immer und ewig, bis der Tod einen schied.

Denke ich heute darüber nach, warum ich mich solchen Strapazen ausgesetzt hatte – denn Strapazen wurden es –, fällt mir dazu nur eines ein: Die Zuneigung zu dem rätselhaften Mädchen Elinor hatte so überhand genommen, dass sie mir über dem Kopf zusammenschlug und ich meinte, nur etwas Ungewöhnliches, ja, einmalig Ausgefallenes könne diesem Gefühl gerecht werden.  

Schon in der Woche vor dem 1. März wimmelte es in der Stadt von zierlichen Schmuckstücken. Darunter einige aus purem Gold. Noch war der König im Land und niemandem legte man Daumenschrauben an, der im Besitz von Gold war. 

Trotzdem: Im Blick auf die roten Russen allerorten wanderte manch ein Goldstück als Zahnbelag in den Mund. Schrecklich anzusehen, wenn oben und unten grinsende Reihen von Gold herausragen. Später für die Securitate die sichere Spur, dass es davon mehr geben musste. Folglich nach dem Ende der Monarchie heraus mit der goldenen Pracht und der Securitate in den Rachen geworfen. Statt Daumenschrauben. So passierte es dem schönen Edi Schwellner. Nach der Abdankung des Königs lief er nur noch mit gelben Zahnstummeln herum. Dagegen herrschte beim Zahnarzt Dr. Maurer Hochbetrieb. 

Wie war das damals mit meinem „măr]i{or“? Unter den feilgebotenen Anhängern gab es manche Kuriositäten, völlig zusammenhanglos zu Zeit und Ort. So war da ein goldener Buddha. Das musste dem Volk erklärt werden. Denn in Fogarasch bedeutet das Wort „Buda“ in allen drei Landessprachen Klo. 

Ich selbst nun, ich erspähte bei einem Händler vor der landesweit berühmten Konditorei Embacher eine Figur, die mein Herz höherschlagen ließ. Ohne einen Gedanken lang zu zögern, wusste ich, dass ich sie Elinor schenken wollte. Es war ein Till Eulenspiegel in Gold, der an einer weiß-roten Schnur hing. Sündhaft teuer: 600 Lei. 

Ich bekam von meiner Mutter aus pädagogischen Gründen wöchentlich 100 Lei: lernen, mit Geld umzugehen. Es war eine Münze in Silber mit der Effigie des jungen Königs. 

Ich beriet mich mit meiner Mutter. Sie war sogleich gewonnen: „Bei den Rumänen ein sinniger Brauch!“ Sie seien Könner im Feiern. „Und die Elinor … Schenk ihr den Till Eulenspiegel! Sie nennt dich manchmal so.“ Und sagte noch einen verkappten Satz: „Sie allein verdient das Gold!“ 

Damals hatte ich kaum beachtet, dass Elinors Onkel Walter von Steinburg unserer Mutter täglich mit dem Milchwagen vom Gut eine Rose schickte. Und niemand ahnte, dass er Jahrzehnte später, als beide verwitwet waren, unserer Mutter einen Heiratsantrag machen würde. 

„So sündhaft teuer?“ Mit der Mutter überlegten wir, wie ich zu Geld kommen konnte. Mir blitzte es, Not macht erfinderisch: „Ich bastele einen Hampelmann!“ Mit der Laubsäge hatte ich schon andere Dinge zustande gebracht. „Und verkaufe ihn.“ Die Mutter fand die Idee richtig, doch mahnte sie an, dass niemand für einen Hampelmann 500 Lei zahlen würde. 

Zwei wurden es, ein Liebespaar, ein Ehepaar, wie man es nehmen wollte, bunt bemalt, lackiert. Die Mutter entwarf die Farben: „Im Gegentakt mögen sie daherkommen: Kobaltblau, Karminrot, dann Ockergelb, Olivgrün.“ Und wahrhaftig: Zog ich unten an der Schnur, dann warfen der tolle Mann, die edle Frau ihre Glieder in die Luft und lächelten verschmitzt, jeder für sich.

Von vornherein bot ich die gelenkigen Puppen Erwachsenen an, als Paar. Alle waren entzückt. Keiner zahlte. Die Mutter fand des Rätsels Lösung: die Zurückhaltung gewiss auch wegen der Redewendung „jemanden zu einem Hampelmann machen“. Ich müsse etwas erfinden, was die Käufer auf andere Gedanken bringe. „Etwas Werbewirksames, würde dein Vater sagen.“ Der – und noch lange Zeit – in Russland war. Stalino, das Arbeitslager. 

Werbewirksam … Ich musste mich beeilen. Die Zeit drängte! 

Es fielen mir Reime ein über einen Hampelmann, die ich bereits in der vierten Klasse zusammengestoppelt hatte. Also setzte ich mich hin und reimte noch ein Gedicht. Mit Tusche pinselte ich die Verse in Fraktur auf Butterpapier. Bei den Vorführungen in verschiedenen Häusern ließ ich die Hampelleute tanzen. Und deklamierte: 

Ein Hampelmann und eine Hampelfrau, 
das sind zwei Sachen.
Und diese Sachen sind zum Lachen!
Denn wenn sie hampeln auf und nieder, 
dann muss man lachen immer wieder.
Ein Hampelmann und eine Hampelfrau, 
die fingen in der Liebe Feuer,
dem Gottseibeiuns war das nicht geheuer.
Und somit hampelt trüb und trüber 
die Hampelbraut am Bräutigam vorüber. 

Wenn Elinor gewusst hätte, wie peinlich es war, mich und meine Ware anzupreisen! Doch siehe da: Die Lyrik bewirkte Wunder, die poetische Anpreisung beflügelte das Geschäft. Binnen eines Tages wurde ich beide Bajazzi los, zu Maximalpreisen à 300 Lei. Am letzten Tag vor Torschluss setzte ich die komischen Erzeugnisse ab. Doch es wurde Abend, bis ich das Geld zusammenhatte. An Orten, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Bis heute frage ich mich – denn ich erinnere mich genau –, was mich veranlasst hatte, bei den Schmidt’schen Damen mit meinen Hampelleuten anzuklopfen, wohin uns unsere Mutter einmal im Monat schickte, damit die Dentistinnen unsere Zahnreihen auf Hochglanz brachten. 

Das passierte mit einer winzigen, kreisrunden Bürste, die sich rasend schnell drehte. Die eine Schwester trat auf ein Pedal, das die Umdrehungen bewirkte, die andere Schwester fuhr uns schnurrend über das Gebiss. Wenn wir uns nachher im Spiegel betrachteten, glänzten unsere Zähne wie Perlenketten. Bruder Kurtfelix sagte es prosaischer, verdrossen: „Wie unser verdammtes Parkett, wenn die Mama uns bestraft und wir es putzen müssen, bis uns die Seele aus dem Hals hängt.“

Die Damen waren außer sich vor Entzücken, als ich den Hampelmann tanzen ließ. „Allerliebst, wie possierlich!“ Und welch gelungene Gedichte als Beigabe! Und pfiffig als Reklame, wahrlich! Der Sohn eines tüchtigen Geschäftsmanns: „Ja, ja, der Felix!“ 

Von Ankauf war nicht die Rede. Schlimmer: Die Damen ließen mich nicht laufen. Ostern stehe vor der Tür und es gezieme sich, das Fest mit sauberem Gebiss zu begehen. Während die Dentistinnen an mir herumwerkelten, ergingen sie sich in den höchsten Tönen über die Gesangskunst meiner Mutter. Ich hörte mit offenem Maul zu, notgedrungen. Wie ein Engel singe unsere Mutter solo in der Kirche am ersten Ostertag. Und sie zitieren, während die Bürste über meine Zähne surrte:

Die Lerche stieg am Ostermorgen
empor ins klarste Luftgebiet
und schmettert’ hoch im Blau verborgen
ihr freudig Auferstehungslied.

„Deine Mutter, wie ein Engel!“ Woher wissen die Damen, wie ein Engel singt, dachte ich pikiert und bebte vor Ungeduld. 

Doch noch waren sie mit mir nicht fertig. Sei ich schon hier, wollten sie mir die Ohren ausspülen.

„Nachher hörst du das Gras wachsen!“

„Das höre ich auch so wachsen“, sagte ich höflich.

„Umso besser!“ Die eine der Damen karrte einen Ohrspüler herbei, riesig wie die Wurstspritze beim Kameraden Peppe.

Ich wehrte mich: „Unsere Mama putzt mir jeden Samstag nach dem Bad die Ohren. Und schneidet uns die Fingernägel!“

Vergeblich. Ich wurde in ein Badetuch gehüllt. Die Spitze des Spülers wurde angesetzt und mit ungeheurem Druck lauwarmes Wasser ins Ohr gepumpt. Das Ohrenschmalz flog mir um die Backen und der einen der Dentistinnen an den Busen. „Na bitte: ein gerüttelt Maß an Cerumen!“

Doch nun war wieder, gottlob, der Hampelmann an der Reihe. Die Zeit drängte. Meine Ohren waren so hellhörig, dass ich das Scheppern des Milchwagens vom Gut drei Straßen weiter zu hören bekam.  

Die Damen berieten sich. Wohin mit dem „Gezappel“? Kinder keine. Da fiel es ihnen ein: Da war der älteste Bruder, den der Schlag gerührt hatte und den die Schwestern pflegten. Bei meiner Ankunft hatte er mir zugewinkt mit der einen Hand, er saß in einem Lehnstuhl unten im Garten. Wohlvermummt.

„Das könnte ihm eine kleine Freude bereiten. So viel schafft er, an der Schnur zu zupfen.“ 

Gesagt, getan. Am Wartezimmer vorbei eilten wir in den Garten. Die beiden Hampelleute überschlugen sich in ihren Künsten. Wir zerrten den Lehnstuhl unter einen kahlen Baum, hängten den Hampelmann da-ran. Und siehe da: nicht nur dass der versehrte Mensch den bunten Bajazzo zum Hampeln brachte, mit halbem Mund lächelte er auch.

Ich wurde ausbezahlt. 

Peppe Späcks Mutter kaufte mir die Hampelfrau ab, ohne zu feilschen. Was mich hin geführt hatte? Man kannte sich von der Heimfahrt im nächtlichen Zug nach der Aufnahmeprüfung in Hermannstadt. Wo der Vater den Arm um die Fleischergattin geschlungen hatte, unbegreiflich, und ihre blonden  Brauen grün aufgeleuchtet hatten im lila Licht des Nachtcoupés..

Dort klopfte ich an. Nachdem ich im Haus niemanden angetroffen hatte, geriet ich hinten im Hof in eine abgedunkelte Halle mit Betonboden. Dort stieß ich mich an halbierten Schweinen, die an Fleischerhaken hingen. Und ging halben Kälbern aus dem Weg, die mich mit herausgequollenen Augen anstarrten.

„Ist da jemand?“, fragte ich benommen, als die Mutter meines Schulfreundes zwischen schwingenden Schweineköpfen hervortrat. Meine Hand mit der Hampelfrau sank zu Boden.

Das Gespräch begann harmlos: „Du suchst den Peppe. Er ist mit seinem Vater im Schlachthof.“

„Ja und nein.“ 

Wir waren in den Hof getreten. Eine blutbefleckte Lederschürze bedeckte ihren Leib. In der Hand hielt sie ein dampfendes Brot. Und eine lange Bratwurst.

Ich stotterte, als ich meine Ware anbot.

„Ja, ja, sieh an, ein Hampelmann! Sogar verkleidet als Frau. Hast du ihn gemacht? Aber was sollen wir damit anfangen? Ihn zwischen die Schweinshaxen hängen?“

Plötzlich ruhte ihr Blick auf mir – wie es sagen? – mit Bedauern. Das mich damals beschämte. „Du brauchst Geld?“

Ich bejahte eifrig.

Und sie: „Eure Mutter hat wohl wenig Zeit für euch Kinder. Der arme Felix!“

Um das Geschäft nicht zu gefährden, hätte ich beipflichten müssen, zumindest mit dem Kopf nicken. Ich nickte nicht.

Sie brach das Brot entzwei und reichte mir einen Teil hin. „Dotzen“ hieß das in Siebenbürgen. Die Wurst verstaute sie in eine der Schürzentaschen.

Ich sagte: „Nein, danke.“ 

Sie fragte mich, warum ich das Stück Brot ablehne. Und gab selbst die Antwort. Sagte nicht etwa geziert: Weil sie es mir nicht auf einem Silbertablett gereicht habe. Sie sagte: „Darum willst du es nicht, weil ich das Brot einfach mit den Händen zerstückelt habe? Das macht man nicht, das weiß auch unsereins, du junger Esel. Doch so schmeckt es am besten.“

„Nein“, antwortete ich, „nicht darum. Meine Mama sagt, von frischem, warmem Brot bekommt man Kolik!“ Und fügte zögernd hinzu: „Starkes Bauchweh.“ 

Peppes Mutter holte aus der Schürzentasche drei 100-Lei-Silbermünzen, drückt sie mir wortlos in die Hand. Die Hampelfrau stopfte sie in ebendiese Schürzentasche und verschwand im Depot der entseelten Leiber. 

Ich stürzte davon, höchste Eisenbahn. Erstand den Eulenspiegel in Gold. Abend war es geworden, der 28. Februar, leider kein Schaltjahr. Nun musste ich mir etwas einfallen lassen, wie das kostbare Kleinod zu der Freundin gelangen konnte. Bis spätestens morgen Mittag. Nicht im Traum fiel mir ein, zum Storchennest hinaufzusteigen, anzuklopfen, ihr das Angebinde in die Hand zu drücken und mich zu trollen. 

Tags darauf schwänzte ich die Schule. Ich strich um das Storchennest herum. Totenstille im Haus. Nicht schlurfte die Perle Jino mit dem Zecker zum Gemüsemarkt. Nicht erschien die Dame des Hauses mit dem japanischen Sonnenschirm. Elinor selbst war brav in der Schule. Und ihr Vater kurierte Zähne in der Praxis. 

An mir fraß die Frage: Wie den goldenen Till der Angebeteten bis Mittag anheften? Der steckte nun in einer samtenen Schatulle, die meine Mutter bereitgestellt hatte. Ruhte auf den selbst gedichteten Balladen vom Hampelmann. Mit der Widmung: „Für Elinor! Der Till Eulenspiegel“. Dahinter nach langer Bedachtsamkeit: nichts. Kein Wort mehr. Ich drehte mich auf dem Marktplatz um die eigene Achse. Grübelte. Vom Kirchturm dröhnten zwölf Schläge wie bissige Mahnungen. Auf dem Korso promenierten bereits Frauenwesen, die Brust dekoriert mit kitschigen Preziosen. Erste Schülerinnen entliefen der Schule, den Busen stolz gereckt. Bespickt mit weiß-roten Schnüren und den schnulzigen Beigaben des heutigen Tages, bemerkte ich grimmig. Die Zeit verstrich.

Und dann, ich traute meinen Augen nicht, wahrlich die Höhe des Hohns: Agathe winkte mir zu. Zeigte stolz auf ihre Jacke aus dem khakifarbenen Stoff einer rumänischen Uniform. Ins Auge stach der goldene Buddha. Welcher Rumäne mochte ihr dieses  sündhafte teure Schmuckstück angesteckt haben? Eine Unverschämtheit sondergleichen. Sie, die Tochter des ehemaligen volksdeutschen Amtsleiters, der spurlos verschwunden war. Ich wendete ihr den Rücken zu.  

Da fiel mein Blick auf das stockhohe Haus, glasierte Ziegeln, der Paradebau der Familie von Kraus, im Giebel stieß das Einhorn nach dem Firmament. Ein Schild stach ins Auge. Die Praxis von Elinors Vater im ersten Stock. Es blitzte: Das war es! 

Angekurbelt von einem abenteuerlichen Einfall, rannte ich auf das Gebäude zu, in Sprüngen nahm ich drei Stufen auf einmal, stürzte ins Wartezimmer und streifte mit „Pardon, pardon!“ an den kariösen Patienten vorbei, die erleichtert schienen, dass sie noch warten durften, keiner murrte.
Ich riss die Tür zum Behandlungsraum auf und rief: „Herr Doktor, bitte ziehen Sie mir sofort einen Zahn.“ Im Spiegel erkannte ich den Friseur Schwellner mit aufgesperrtem Rachen auf dem Marterstuhl. Dem der Zahnarzt  erstmals eine Reihe Zähne mit Goldkronen überzog. Doch woran sich mein Auge festhakte, war der Pelzmantel, der an der Tür hing. Es war meine letzte Hoffnung, dass es mir gelingen könnte, das Geschenk in den Mantel des Vaters zu schmuggeln. Der regelmäßig zu Mittag zu Hause speiste, das wusste man in der kleinen Stadt. Und noch ehe sich jemand versah, ließ ich mit possenreißerischer Fingerfertigkeit die samtene Schatulle mit dem Kleinod in die linke Tasche gleiten. Während der Doktor nicht unfreundlich rügte: „Selbst wenn du der Freund Elinors bist, warte draußen.“ Abwesend bemerkte ich, dass der große Herr den Genitiv benutzte: „Freund Elinors“. Genitiv! Auf dem unsere Mutter ritt. Ja, und: Freund! Das klang ermutigend. Doch dann geschah Mirakulöses. Ehe ich die Tür mit dem Mantel als Liebesboten hinter mir schließen konnte, holte mich ein Ruf ein: „Warte hier!“ Und zu Freund Schwellner gewendet, hieß es: „Sie sind für heute fertig, lieber Kollege! Übrigens, die letzten Wildschweine warten auf uns.“

Beim Hinausgehen griff der Friseur gottlob nicht nach dem Mantel an der Tür, einige Sekunden  verschlug es mir den Atem, sondern würdigte mich eines Blickes mit der Mahnung: „Lass dich bei uns sehen. Deine Mähne schreit zum Himmel!“ Dabei bleckte er die Reihe der polierten Goldzähne im Unterkiefer. 

Dr. Maurer wandte sich an mich und sagte unvermittelt, es wurde mir schwindlig zumute: „Darf ich dich bitten, unserer Tochter Elinor Nachhilfestunden zu geben? In Mathematik, vielleicht auch Physik. Euer Professor Anatol Simen hat dich empfohlen. Rumänisch kannst du zwar nicht besonders, aber in Mathematik bist du erfreulich gut!“

Das war der Passierschein für das Storchennest. Ich stotterte: „Von Herzen gerne, schon am Nachmittag.“ Doch mein Herz zog sich zusammen. Zu spät! Der adrette Till Eulenspiegel war fälschlich im Mantel des Vaters gelandet. Das teure Kleinod hätte direkt in Elinors Hand gelangen können. 
Dr. Maurer gebot, ich möge mich auf den Stuhl setzen. Dieser Stuhl war ein Kunstwerk, edel und gelenkig wie mein Hampelmann. Der Zahndoktor, ein Ma-gier, drückte auf einen Knopf und der Stuhl fuhr in die Höhe, nahe seinem bohrenden Blick. Er drückte einen anderen Knopf und der Stuhl schwenkte zu seinen Händen hin.   

Der Arzt ließ sich den Zahn zeigen, der gezogen werden sollte. Ich wählte einen im hinteren Backenbereich. Doch beim besten Willen ließ sich nichts Schlechtes über den Zahn sagen. Ich gab den daneben an und schämte mich. Bespiegelt, beklopft, beträufelt, keiner der Zähne war angefallen von Karies. Der Arzt gab es auf. Sandte mich zu den Dentistinnen Schmidt, die sollten jedem Zahn auf den Zahn fühlen. Ließ sich so etwas sagen: dass man einem Zahn auf den Zahn fühlt, dachte ich.

Im Gegenteil, der Fachmann war angetan, wie blank, ja brillant die Zahnreihen sich darboten.

Genaueres wollte Dr. Maurer dann aber doch wissen über den ominösen Zahn. 

Schmerzen?

Im Moment keine.

Er: Solches passiere, wenn man den Zahnarzt aufsuche. Die Schmerzen seien vor lauter Angst wie weggewischt. Doch wie sei die Nacht gewesen? 

„Ich konnte nicht schlafen!“ Den wahren Grund verschwieg ich.

Das komme vor, selbst bei kerngesunden Zähnen. Womit ich mir die Zähne putze?

„Mit Chlorodont!“

Ob das nicht mein Spitzname sei?

„Nein!“

Ich möge verzeihen. „Ja, ja, nicht Chlorodont!“ Es fiel dem Doktor ein: Die Tochter nenne mich manchmal Till Eulenspiegel. „Eigentlich ein Ehrentitel.“

Ich trottete davon in der verzweifelten Hoffnung, dass man im Hause Maurer draufkommen werde: Der Till Eulenspiegel in Gold, verwahrt in des Vaters Pelzmantel, sei weder für die Köchin Jino noch für die gnädige Frau oder für die ältere Schwester Meta, vielmehr für Elinor. Dass ich den Zahn, den ich opfern wollte, behalten hatte, tröstete wenig.


Schattenspiele toter Mädchen

„Jetzt, im hohen Alter, befällt mich eine nahezu verstiegene Sehnsucht nach Menschenkindern, die nicht mehr sind. Nach den Mädchen, die einst begreifbar waren bis in die Fingerspitzen der Seele und durch ihren Tod unbegreiflich geworden sind… Ich lerne, die regungslosen Erinnerungen zu erwecken, die abgebrochenen Geschehnisse weiterzuführen. Es gelingt, verblichene Gestalten wachzurufen, so dass ihre Gegenwart weh tut zwischen Gedächtnis und Phantasie.“

Denke ich heute zurück, während ich das Einstige beschwöre: Damals, in den jungen Jahren – mein Gott, wie denn auch? –, hatte noch kein totes Mädchen das Gemüt verstört. Aber Rainer Maria Rilke berührte zu früher Stunde unser Gemüt, wenn noch nicht als Schlußstück: 

Der Tod ist groß. 
Wir sind die Seinen 
lachenden Munds. 
Wenn wir uns mitten im Leben meinen, 
wagt er zu weinen 
mitten in uns.“

Es fällt mir auf: Erzählt wird manches, was schon früher festgeschrieben ist. Dieselben Namen spazieren durch die verschiedenen Bücher.Weshalb ich auf bereits Bekanntes zurückgreife? Der Gedächtnisroman. Im Gegensatz zum Erinnerungsroman.Denkbar so: Da wäre die Omnipräsenz meiner Biografie in allem, was ich schreibe. Die Biografie, die sich bei aller Modellierbarkeit des Textes an Fixpunkte halten muss. Doch jedes Mal neu ist der Kontext.Die Frage, die den Schreibenden wie die Lesenden immer wieder umtreibt: Was ist ersonnen, was ist Tatsache in dem Text? Wann und wo und wie decken sich Erdichtetes und Erinnerung? Die lila Maske vor dem Gesicht: durchscheinend? Ich meine, dass es in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss, wo sich erinnerte Wahrheit und wahre Geschichte in den Armen liegen.Zu bedenken wäre: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit!“

Und als Nächstes: Warum diese Geschichte zu später Lebensstunde? Warum jetzt, was seit Langem in der Luft lag als klagendes Gedächtnis: die toten Mädchen vor der Zeit, vor meiner Zeit. Ja, warum?Zwei Buben fahren mit den Rädern von einem Dorf ins andere. Eine Begebenheit, die Jahrzehnte zurückliegt. Die Fahrt? Eigentlich ein Schüleraufsatz. Der mit der lächerlichen Überschrift „Der Hampelmann“ begonnen und sich zum makabren Totengeleit geweitet hat.Denn was mir während des Schreibens beklemmend auffällt, ist, dass sich diese Fahrt nicht nur aufrollt als eine Episode entlang der endlosen Baumreihen auf einer Landstraße, sondern dass sie vorbeiführt an Grabsteinen verstummter Namen – irgendwo, nirgendwo.Dies Nirgendwo ist im Laufe des Lebens zu einer Zeichenkette angewachsen, besteckt mit nahen Namen. Die sich verflüchtigten, oft Jahrzehnte ungenannt blieben. Bis sie in einer Todesnachricht wiederkehrten, oft als Fama. Und ich erlebe es in ratloser Wehmut, dass diese elysäischen Wesen einer frühen Entflammtheit bereits tot sind, vor mir tot sind. Während des Schreibens erscheinen immer andere Namen von „nicht mehr – nie mehr“. Es gibt kein letztes geliebtes Wesen. Nur vorletzte Geschöpfe der Schattenspiele… 

Eginald Schlattner