Einer von uns

Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß

Karl-Markus Gauß feiert am 14. Mai seinen 60. Geburtstag.

„When I was younger, I could remember anything, whether it had happened or not“ (Mark Twain).

Die Leistungen des hierin geehrten Geburtstagskindes in groben Zügen: Karl-Markus Gauß kam Neunzehnvierundfünfzig in good old Salzburg auf die Welt; am vierzehnten Fünften hat er Geburtstag: vier, fünfzig, fünf, vierzehn. Ein bisschen Mathematik, und schon sind alle Kartoffeln im Sack. Alle Bücher. Alle Preise und Auszeichnungen. Alle fragenden Begleiter, alle Freunde. Die Siebensachen in der Literatur. Die donauschwäbischen Vorfahren. Die österreichische Gemütlichkeit.

Die europäische Berufung. Das Infragestellen. Die Neugier. Die Polemik. Ein Meilenstein nicht nur im Literaturbetrieb deutschsprachiger Ausdrucksweise: Der langjährige Herausgeber von „Literatur und Kritik“, ein Mann, dessen weltoffener Blick tagtäglich viele Stunden lang wahrlich auf Tausende Bücher fällt (riesengroße Hausbibliothek) wird dieser Tage sechzig.

In den letzten paar Jahrzehnten kam vom Fuße des Mönchsbergs so manches auf den Leser zu, denn ein begabter Autor, ein belesener Kulturmensch, der da Wache hält, versteht sich auf sein Handwerk – und wurde mittlerweile in fünfzehn Sprachen übersetzt. An tragfähigen Antworten fehlt es ihm nicht. Fährtenlesen? Tatsachenerfassung? Das Ding an sich aus der Mitte der Welt herausgreifen und für uns umschreiben? Ganz Karl-Markus Gauß. Ein gemeinsamer Nenner all der vielen kleinen, in ihrem jeweils spezifischen Zusammenhang eingebetteten Geschichten, die ins Gedächtnis gerettet werden müssen, um dadurch der einen großen Geschichte auf der Projektionsfläche des geschriebenen Wortes mehr Sinn abzugewinnen und das Moment ihrer Triebhaftigkeit so richtig in Griff zu bekommen.

Er versteht sich aufs Zuhören, aufs Staunen, aufs Begreifen, aufs Wiedergutmachen, aufs Retten. Das liegt in der Natur der Dinge, in der Selbstverständlichkeit des Autors, in seiner inneren Veranlagung, in seinem donauschwäbischen Vermächtnis, in seinem österreichischen Werdegang. Als studierter Historiker und Germanist, als schneidiger Essayist, als Literaturkritiker, als Herausgeber, als „unerschrockener Ritter“ (Wendelin Schmidt-Dengler) weiß Gauß wie kein zweiter um die Vielfältigkeit, um den Reichtum, um die Narben des guten alten Kontinents (und späht auch mal gerne in die Neue Welt rüber, wo er übrigens seit gut fünfzehn Jahren einen geheimen Scout hat), nennt den westlichen wie den östlichen Teil Europas sein eigen, holt sich, was er braucht, um besser in die Zukunft blicken zu können, genauer gesagt: was wir brauchen. Wir Menschen. Wir Europäer.

Leicht schlüpft bei einer derartig großzügig angelegten Betrachtungsweise der vielsprachigen Blocksteine, aus denen die europäische Seele zusammengebastelt wurde, zusammengebastelt wird, ein Personalpronomen aus der dritten Person in die erste, aus dem Singular in den Plural, aus der Eindimensionalität der individuellen Perspektive in ein gemeinsames Fürwahrhalten von Vorstellungswelten, wie der Denker sagen würde. Leicht schlüpft unsere Denkweise, ja unser gesamter flow of language in ein völlig anderes Bett. Ob es nun das Bett der Salzach sein mag oder gar dasjenige der Donau, des „intelligentesten Flusses von Europa“ (so Gauß im ORF-Interview 2012), sei dahingestellt. Es sind jedenfalls nicht nur unsere Gedanken, die wir da hegen, wenn wir mit einem Gauß segeln, reiten, fechten, debattieren – und doch sind es unsere Gedanken, ja es sind, wenn man’s recht bedenkt, schon immer unsere Gedanken gewesen; nur, Gauß kann sich halt viel besser daran erinnern als wir selber. Darin besteht sein Geschick.

Was bei diesem Geburtstagskind besonders erfreulich, ja in mehrfacher Hinsicht geradezu ermunternd und erfrischend wirkt? Sein unmittelbar gelebtes Engagement, seine Menschenverbundenheit, das authentische, rege Interesse für Gruppen und Völkerschaften, die es nicht „geschafft“ haben, die am Rande der Geschichte stecken geblieben sind: vergessen, verloren, verschollen. Er birgt ihre Geschichten aus dem dunklen Spalt der Vergessenheit. Er reicht ihnen seinen Bleistift, lässt sich nicht aus der Fassung bringen, wenn bisweilen kein rosarotes Happy End am Horizont sichtbar wird, sondern bloß ein ruhiger Abend nach einem bewegten Nachmittag, ein gutes Morgen nach dem leidlichen Heute, ein Übermorgen nach dem Morgen, eine kleine Ewigkeit des einträchtigen Gutseins nach der Vergänglichkeit menschlicher Zwietracht.

Er zieht kräftig an seinem Ende, liest, liest, liest, schreibt, schreibt, schreibt, bis alle wieder da sind: Bis wir wieder wissen wollen, was einst war, was mal wird. Er holt die Mär’ zurück – und zwar nicht bloß ans andere Ufer der Salzach, sondern buchstäblich ins Gedächtnis, ins kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft von Völkern, die er doch so gerne nicht nur als Wirtschaftsunion, sondern auch als Sozialunion wahrhaben möchte. Insofern ist Gauß eben vor allem auch Hoffnungsgeber, Wegbegleiter, Mitmensch im wörtlichen wie im weitesten Sinne: einer von uns.

Jeder Essay ein Ritt ins Ungewisse, jeder Herzschlag Bedeutungsträger einer breit angelegten, aus historischer, erkenntnistheoretischer, literaturwissenschaftlicher, gesellschaftskritischer bzw. nur so, zum Fit-Bleiben, aus rein philosophischer Perspektive reflektierten Handlung, die sich hier und jetzt abspielt, in uns, in unserem Europa, in der Immerzeit unseres Seins und Werdens. Jeder Handschlag ein herzlicher. „Mit mir, ohne mich“,  „Von nah, von fern“, „Zu früh, zu spät“, „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“. Titel, hinter denen man die Wahrhaftigkeit eines Spracherlebnisses ahnen darf.

Um den Spieß mal kurz umzudrehen: Ja, hier liegt in der Tat ein Glücksfall vor. Und Lob ist durchaus angesagt. Lob der Sprache – und der Menschen, die sie pflegen. Immer mittendrin und ganz am Rande, um es mit Gauß zu sagen.

„Das Erste, was ich sah“. Buchumschlag: Zwei Augen, eine Nase im Gesicht, zwei Ohren, die Zunge, das Sich-auf-den-Kopf-stellen-können (Foto-Quiz: Wer ist nun Karl-Markus und wer ist welcher Bruder?), natürlich noch kein Schnurrbart, dafür aber schon von klein auf ganz storyteller. Eigentlich ganz toll.

Vor sechzig Jahren wurde es ihm an der Wiege gesungen: Dieses Kind wird sich an alles erinnern können. Und das Erste, was es sah, waren Wörter, die in der Luft schwebten, den Raum füllten, nicht mehr weg wollten. Formlose Wörter, allein auf die inwendige Begrifflichkeit der Akustik eines Raumes konzentriert, in dem ein Kind sich mit den Augen des Mannes, zu dem es sich noch entwickeln sollte, im Nachhinein ein Bild von dieser Welt macht, ohne dass die Kindheit gleich durch den rückblickenden Erwartungshorizont des Erwachsenen vereinnahmt und überinterpretiert wird. Eigennamen. Die vom Radio ausgespuckten Namen der Verschollenen.

Karl-Markus Gauß’ erste Erinnerungen sind in Klang gefärbt. Das „Deutsch der Donauschwaben“, das österreichische Deutsch, mit Fremdwörtern aus dem Altreich gewürzt, die das Kind sich zu eigen macht, ja gewissermaßen schon eher musikalisch betrachtet in sich hat, trägt, pflegt, noch bevor es sich dessen bewusst wird. Das Abstrakte des frühzeitig nahe gelegten Bekenntnisses „Wir sind Donauschwaben“, das dann schließlich in die doch wenigstens in etwa konkretere Begrifflichkeit eines Stromes mündet, der einen wo hin führt: da, wo er herkommt. Und so ist es denn auch der angenehme Klang seiner Stimme, seiner Sprache, der uns flussabwärts begleitet, wenn wir zum Beispiel wissen wollen, wohin ein intelligenter Wasserlauf führen kann und wie einer „schreibend ein besserer Mensch wird”.

Elftausend Bücher zu Hause haben, das ist nicht jedermanns Sache. Aber ein Gauß lebt erwiesenermaßen von Büchern, in Büchern, über Büchern, unter Büchern (allein die Fackel-Edition wiegt 35 Kilo, nicht einmal bei Familie Feuerstein waren die Schreibsteine sozusagen schwerwiegender), ja seine Wohnung besteht fast ausschließlich aus Büchern. Und die Bücher leben in ihm. Und er lebt für uns.

Das Erste, was er sah: „Dies ist eine meiner frühesten Erinnerungen, die Stimme, die heute nur in mir noch existiert, weil der Mann aus dem Radio längst tot und im Äther verrauscht ist, was er sagte, diese Stimme, die keinem Anwesenden gehörte und nach zahllosen Abwesenden fragte: Sie war es, die in mir das Bewusstsein meiner selbst geweckt hat.“ Dieses Bewusstsein sollte im Laufe der Zeit noch weit über das eigene Selbst hinweg gehen, in ein erweitertes Sein eingebunden werden, Leute von nah, von fern erreichen, nähren, einverleiben. Dreimal hoch: der Autor, die Leseratte, das sinnvolle Sprachereignis der Sorte Gauß.