Höchst expressiv gestaltetes Frauenschicksal

Leoš Janáceks Oper „Jenufa“ im Stuttgarter Großen Haus

Leoš Janáceks Oper „Jenufa“ wurde im Jahr 1904 am Tschechischen Theater in Brünn/Brno uraufgeführt. Sie zählt zu einer Reihe von musikdramatischen Werken – wie Giacomo Puccinis „Tosca“, Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“, Jules Massenets „Chérubin“ und Richard Strauss’ „Salome“ –, die im ersten Jahrfünft des 20. Jahrhunderts ihre Premieren erlebten und in der Folge das Musiktheater der Moderne entscheidend mitgeprägt haben. Unter den genannten Opern ist „Jenufa“ wohl die realitätshaltigste und expressivste, die gewagteste und modernste.

Nicht von ungefähr liegt der in Stuttgart nun wieder in den Spielplan aufgenommenen Inszenierung von Calixto Bieito aus dem Jahre 2007 die ursprüngliche Brünner Fassung der Janácekschen Oper zugrunde und nicht die spätere Version, die 1916 am Prager Nationaltheater erstmals zur Aufführung gelangte. Der damalige musikalische Leiter des Prager Nationaltheaters, der Dirigent und Komponist Karel Kovarovic, hatte nämlich in seiner Version der Oper gegenüber deren Urfassung tiefgreifende Veränderungen vorgenommen, die die naturalistische Wucht und die moderne Expressivität abschwächten, glätteten und dem Publikumsgeschmack der damaligen Zeit anpassten. In der Prager Fassung erlebte „Jenufa“ dann ihren Durchbruch und den Auftakt zu ihrem schlussendlichen Siegeszug: in Wien (1918) in der deutschen Übersetzung des Kafka-Freundes Max Brod, in Berlin (1924) und an der Metropolitan Opera in New York (1924). Erst seit zwanzig Jahren liegt die Brünner Urfassung von „Jenufa“ wieder in ihrer originalen Gestalt vor, für die sich dann auch die Stuttgarter Staatsoper bei der Neuinszenierung dieses Werkes im Jahr 2007 entschied.

So konnte man am 22. Januar in Stuttgart das hämmernde Xylophonmotiv, das ganz zu Beginn und an weiteren zentralen Stellen der Oper „Jenufa“ erklingt, in seiner expressiven Insistenz genießen (Kovarovic hatte das Xylophon durch die Pauke ersetzt), so konnte man sich in Stuttgart von der Härte und Kraft des Posaunenklangs erschüttern lassen, der in der Prager Fassung durch die Besetzung mit Hörnern ins Weiche und Milde gewendet worden war. Die klangliche Expressivität der Instrumente in der Brünner Fassung der Oper „Jenufa“ gesellte sich in Stuttgart zur Ausdrucksgewalt der Gesangsstimmen, die den Janácekschen Operntext in der tschechischen Originalsprache zu Gehör brachten. Die in den Übertiteln eingeblendete Neuübersetzung stammte von Alena Kindlein in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen der Inszenierung Xavier Zuber.

Ein Großteil der Wirkung der Janácekschen „Jenufa“ geht von dem Libretto aus, das auf dem 1890 in Prag uraufgeführten Theaterstück „Ihre Stieftochter“ von Gabriela Preissová basiert. Hier tritt die Härte des mährischen Bauernlebens gegen Ende des 19. Jahrhunderts ungeschminkt hervor, die Wildheit der Menschen, die Brutalität der Moral, angereichert durch Hass, Verzweiflung und Eifersucht als Ingredienzen des dramatischen Geschehens. Außerdem kommt in Janáceks „Jenufa“ dem literarischen Motiv des Kindsmords eine besondere Bedeutung zu, das auch schon in früheren Literaturepochen wie zum Beispiel dem Sturm und Drang eine zentrale Rolle gespielt hatte.

Der Regisseur Calixto Bieito hat die Opernhandlung von „Jenufa“ in eine ärmliche und baufällige Textilfabrik versetzt, von der alle Bewohner der mährischen Umgegend ökonomisch abhängen. In dieser Fabrik arbeitet auch der Familienclan der Buryjas: die alte Großmutter, ihre Schwiegertochter, deren Stieftochter Jenufa sowie das Halbbrüderpaar Laca und Števa Buryja. Beide Brüder begehren Jenufa, aber diese liebt nur Števa und erwartet außerdem von jenem ein Kind. Da Jenufas Stiefmutter die geplante Hochzeit aus Wut über Števas Leichtlebigkeit und Trinkerei ein Jahr aufschiebt, ist das Offenbarwerden von Jenufas ‚Schande’ unausweichlich. Nach der Geburt des gemeinsamen Kindes sagt sich Števa von Jenufa los, nicht zuletzt deshalb, weil er sich bereits mit der Tochter des Fabrikbesitzers verlobt hat. Um wenigstens die jetzt noch mögliche Ehe mit Laca zu retten, bringt Jenufas Stiefmutter den Sohn Števas kurzerhand um. Der Kindsmord wird jedoch just am Tag der Hochzeit von Jenufa und Laca entdeckt. Trotzdem werden die beiden unglücklichen Hochzeiter am Ende ein Paar, auf ewig verbunden durch beiderseitige Schuld und Sühne.

Genial an der Stuttgarter Inszenierung von „Jenufa“ ist, dass sie die tiefenpsychologische Dimension der Handlung freilegt, die insbesondere in der Gestalt von Jenufas Stiefmutter das Geschehen unheilbringend vorantreibt und gleichsam im antiken Sinne tragisch bestimmt. Weil Jenufas Stiefmutter während ihrer eigenen Ehe unter ihrem inzwischen verstorbenen Mann, einem Trinker und Frauenhelden aus dem Buryjaclan, heftig zu leiden gehabt hatte, schiebt sie Jenufas Hochzeit mit Števa Buryja hinaus und bringt so das fatale dramatische Geschehen überhaupt erst in Gang. Weil sie durch ihre moralische Rigorosität, die sie auch Jenufa aufzwingt, zur Entfremdung zwischen dieser und Števa beiträgt, ist sie letztlich mitschuldig an Števas Lossagung von ihrer Stieftochter. Der Kindsmord schließlich vollzieht symbolisch die Vernichtung des unmoralischen Gatten post mortem, zugleich des ebenso unmoralischen Schwiegersohns in spe sowie des gesamten Buryjaclans. Konsequenterweise ist das unmittelbar vor dem Kindsmord stattfindende Gespräch, das in der Bitte an Števa gipfelt, er möge ihre Stieftochter Jenufa schließlich doch noch heiraten, in Stuttgart als symbolischer Wunsch nach eigener sexueller Hingabe an Števa und die Casanovas vom Buryjaclan gestaltet.

Kein Wunder, dass Janácek die Rolle der Stiefmutter der Titelrolle seiner Oper „Jenufa“ musikalisch ebenbürtig gestaltet hat, und kein Wunder, dass in Stuttgart Iris Vermillion und Rebecca von Lipinski in den Rollen von Stiefmutter und Stieftochter den größten Beifall für die weiblichen Gesangsparts erhielten, während im Hinblick auf die männlichen Parts das ungleiche Brüderpaar Laca und Števa in der dramatischen Rollengestaltung durch Pavel Cernoch und den aus Rumänien gebürtigen Gergely Németi vom Stuttgarter Publikum gleichfalls stürmisch gefeiert wurde.

Hervorzuheben sind noch die Auftritte Renate Behles in der Rolle der alten Buryja und Michael Ebbeckes in der Rolle des Richters. Ebenso begeisterten die beiden Mitglieder des Opernstudios Idunnu Münch als Schäferin und Esther Dierkes als Barena, wobei letztere durch ihr tänzerisches Talent die Zuschauer zusätzlich für sich einnahm. Der herausfordernden Aufgabe der musikalischen Gesamtleitung entledigte sich Sylvain Cambreling wie gewohnt souverän, und der von Christoph Heil einstudierte Chor rundete den hervorragenden Gesamteindruck des höchst gelungenen Opernabends glanzvoll ab.