Interkulturalität als Leitbild

Rumänische EU-Waisen, kalabresische Musik und muslimische Dichter auf der Braunschweiger Theaterbühne

„Erdbeerwaisen“ in Braunschweig (v.l.n.r): Oliver Simon, Kim Efert, Gabriela Baciu, Sven Hönig und Gina Călinoiu bei der Aufführung.
Foto: Volker Beinhorn

„Warum ist deine Mama weggegangen?“, „Wie war der Abschied?“ – die trockenen, todernst deklamierten Fragen richten sich an das Publikum im Zuschauerraum und wirken beklemmend. Vor zwei Jahren, im Rahmen der Vorrecherche, wurden Kinder, Eltern und Großeltern in Südrumänien befragt, nun sind es Schauspieler, die die Szenen nachspielen. Im dokumentarischen Theaterstück „Erdbeerwaisen“ („Căpşunile si orfanii“), das im April im Braunschweiger Staatstheater zu sehen war, stehen „EU-Waisen“ im Mittelpunkt, deren Eltern die rumänische Heimat verlassen haben, um in Spanien, Italien oder Deutschland als Kellner, Seniorenpfleger, Reinigungskräfte und Erntehelfer zu arbeiten. Das Stück trägt den Untertitel „Reise zu einer verlassenen Generation“ und ist ein gemeinsames Projekt des niedersächsischen Künstlerkollektivs „werkgruppe2“, des Nationaltheaters „Marin Sorescu“ Craiova und des Staatstheaters Braunschweig.

Die Szenen sind ergreifend: Kinder, denen man die Einsamkeit vom Gesicht abliest, freuen sich auf das Telefonat mit der Mutter wie auf Weihnachten – und selbst wenn die Mutter kein Lebenszeichen gibt, hört das hoffnungsvolle Warten in den Kinderaugen nicht auf. Ältere Geschwister kümmern sich um jüngere Geschwister und wirken dabei frühreif und traurig, denn sie werden in eine Rolle gedrängt, der sie nicht gewachsen sind. Großeltern sind überfordert, weil sie neben ihrer altersbedingten Schwäche und der allgemein herrschenden Armut auch noch versuchen müssen, die Eltern zu ersetzen und die Verlassenheit der Kinder auszugleichen. Die Eltern selbst fahren heimlich ins Ausland, um schwierige Trennungen zu vermeiden, und lügen, wenn die Frage nach der Rückkehr gestellt wird.

„Wenn Mama kommt sind alle Tage wie Ferien“

Alle Figuren auf der Bühne trösten sich mit dem Gedanken, dass es keine Alternative zum Weggehen gibt. Dabei entstehen manchmal sonderbare Konstellationen, wie etwa in der Lebensgeschichte von Claudia. Sie hat ihre eigenen Kinder in Rumänien zurückgelassen und arbeitet seit Jahren als Babysitterin bei einer italienischen Familie, für deren Kinder sie längst die Rolle der Mutter übernommen hat. „Von 24 Stunden war ich zwölf Stunden mit den Kindern. Sie aßen mit mir, sie schliefen bei mir. Ich habe sie gebadet, ich habe sie nach draußen gebracht, ich brachte sie zur Schule“, sagt Claudia, meint damit aber nicht ihre eigenen Kinder.

Vier Schauspieler und ein Musiker schaffen es, diese ganze Bandbreite von Gefühlen, Konflikten, Zweifeln und Leidensgeschichten mit Leben zu erfüllen. Die Dialoge auf Deutsch und Rumänisch schwanken zwischen tragisch, komisch und grotesk, auf der Bühne wechseln mit großer Geschwindigkeit und stark reduzierten szenischen Mitteln ausdrucksstarke Abschiedsmomente mit Tränen und Schreien, naive Kindergespräche, alberne Teenager-Tanzeinlagen mit resignierten Monologen verarmter Alter. Doch ganz gleich ob es Gewaltausbrüche, depressive Gemütslagen oder gar Glücksmomente sind – die Leere, die Abkapselung, die Verzagtheit dringen immer unmissverständlich an die Oberfläche, das „bessere“ Leben wird mit zerstörten Kinderherzen bezahlt.

Uraufgeführt wurde „Erdbeerwaisen“ bereits im vergangenen Herbst in Craiova und Braunschweig. Das Künstlerteam, bestehend aus Gabriela Baciu und Gina Călinoiu vom Nationaltheater Craiova, Sven Hönig und Oliver Simon vom Staatstheater Braunschweig sowie Kim Efert aus Berlin (Musik) tourte anschließend nach Hermannstadt/Sibiu, Kronstadt/Braşov, Bukarest, und in diesem Frühjahr nach Temeswar/Timişoara, wo das Stück im Rahmen des europäischen Theater- und Wissenschaftsfestivals „The Art of Ageing“ („Die Kunst des Alterns“) zu sehen war.
Im April stand „Erdbeerwaisen“ in Braunschweig gleich viermal auf dem Spielplan der „Themenwoche Interkultur“ – eines Festivals „für Vielfalt und kulturelle Teilhabe“ in dem Schauspielhaus, in dem einst Lessings „Emilia Galotti“ und Goethes „Faust I“ uraufgeführt wurden. Für die zehn Festspieltage vom 15. bis 24. April stellte das Braunschweiger Staatstheater sämtliche Spielstätten, inklusive Hausbar, Foyer und Probebühne, in seinen drei Häusern zur Verfügung, und implizierte sämtliche fünf Sparten (Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Jugendtheater, Sinfonieorchester).

Den Festivalinitiatoren war es wichtig, zwischen der Interkulturalität der eigenen Ensembles, der Vernetzung von Kulturinstitutionen quer durch Europa und dem Toleranzgedanken in der Gesellschaft Parallelen zu ziehen.
Kultur darf und soll also gesellschaftlich Stellung nehmen – unter anderem dazu, dass Arbeitsmigration im heutigen Europa gravierende Folgen hat: Allein in Rumänien sind schätzungsweise 400.000 Kinder vom Schicksal der „Erdbeerwaisen“ betroffen, während rund 20 Prozent der Menschen im erwerbsfähigen Alter das Land verlassen.

Das Team, das für die rumänisch-deutsche Theaterproduktion vorrecherchiert hat, reiste schon im Herbst 2013 nach Rumänien und interviewte mit Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen betroffene Familien im Kreis Dolj. Die Gespräche wurden aufgezeichnet, transkribiert und schließlich zu einem Textbuch für die Schauspieler verarbeitet. „Es war uns wichtig, den Menschen selbst eine Stimme zu geben“, so Regisseurin Julia Roesler beim Publikumsgespräch nach einer der Aufführungen in Braunschweig. „Wir wollten die Perspektiven wechseln, die Geschichten der Arbeitsmigranten sichtbar machen. Wir sind nicht frei von Subjektivität – aber es geht darum, dass wir unsere eigene Position hinterfragen.“

Kunst und Musik als gesellschaftliches Engagement

Mitreißende musikalische Lebensfreude und Bilder des Elends – das Konzert von Cataldo Perri & Lo Squintetto bei „Interkultur“ (19. April) hätte die Energie und die Herausforderungen, die mit der Vielfalt einhergehen, nicht besser resümieren können. Feurige Tarantellen, arabische Melismen, albanische Folklore und argentinischer Tango – all das prallt in Kalabrien, am südlichen Rand Europas, mit bitteren Realitäten zusammen, mit Flüchtlingsbooten, die das Mittelmeer überqueren, mit lokalen Rebellionen gegen die Mafia, mit unvorstellbarem Leid.

Auf einer anderen, klassischeren Ebene zelebrierte auch das Staatsorchester Braunschweig den Farbenreichtum der Musik. Am 19. und 20. April erklangen unter der Leitung von Andrea Sanguineti neben berühmten Ballettsuiten wie Chatschaturians „Gayaneh“ und „Der Feuervogel“ von Igor Strawinsky auch selten gespielte Werke – etwa das spielerische, ironische Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester in c-Moll von Dmitri Schostakowitsch oder das experimentelle Letztwerk von Alexander Skrijabin, „Prometheus. Das Poem des Feuers“, bei dem jede Tonart einer Farbe zugeordnet ist und der Konzertsaal in buntes Licht getaucht wurde.

„Interkultur“ findet bereits seit 2012 statt und spricht jedes Mal eine große Palette von aktuellen Fragen an. Auf dem Programm der diesjährigen Auflage standen u. a. dokumentarische Projekte über Migrationserfahrungen und Asylsuchende, der Kabarettabend „Viva Warszawa – Polen für Fortgeschrittene”, in dem der Autor Steffen Möller für seine Wahlheimat Polen warb, interkulturelle Stadtrundgänge, Workshops und Jugendprojekte wie etwa der Dichterwettstreit für muslimische Jugendliche „i,Slam“. Und als die fremdenfeindliche PEGIDA-Demonstration („Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“) auf dem Platz vor dem Theater vorüberzog, sang das Ensemble von der großen Terrasse im Haupthaus Beethovens „Ode an die Freude“. „Die Verszeile ‘Alle Menschen werden Brüder‘ ist eine schöne Antwort für all jene, die Deutschland für etwas anderes halten als eine offene Gesellschaft“, brachte es Joachim Klement, Generalintendant des Staatstheaters Braunschweig, auf den Punkt.