Kolumbus muss reisen

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Alhambra“ Kirsten Boie, Oetinger Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32 / Pavilion www.goethe.de/bukarest

Ein Junge nimmt eine alte Fliese auf einem Andenkenstand im touristischen Viertel von Granada. Der Verkäufer sieht ihn von Weitem. Soll er rufen, ihn warnen, eingreifen? Er schaut weg – und im nächsten Moment ist auch der Junge weg. Mitsamt der Fliese. Ein Dieb, denkt Manuel Corazon. Nur ein Dieb, hofft er inständig. Wer glaubt schon an Legenden...

1492, selber Ort, ein paar Hundert Meter weiter, im Löwen-Saal auf der Alhambra. Hasserfüllt blickt der betrunkene Soldat mit der Narbe auf das arabische Spruchband. Allah ist groß! Eine Inschrift der soeben vertriebenen Mauren. Warum stört es die kastilianischen Könige nicht, was hier in ihrer Festung steht? Was verteidigen sie hier als Soldaten des neuen christlichen Reiches? Wutentbrannt schlägt er ein Loch in das Azulejo. Ein Stück Fliese springt heraus...

Der Junge erwacht in einem Pinienwald. Wie ist er hergekommen? Wurde er entführt? Sein Rucksack, sein Geld, sein Handy sind noch da. Wo sind seine Klassenkameraden? Weit kann er  nicht entfernt sein von der touristischen Altstadt. Doch komisch, dass hier gar kein Netz ist. Er wird den erstbesten Passanten nach dem Weg fragen müssen. Ein seltsam gekleideter Junge kommt auf ihn zu. In Turban und Burnus! Aber noch befremdender ist, wie dieser zu Tode erschrickt, als er ihm sein Handy zeigt. Du musst diese Dinge wegwerfen, mahnt er eindringlich. Sonst bist du in Lebensgefahr!

Teufelszeug. Was könnte das anderes sein als Teufelszeug? Großinquisitor Torquemada ist sich da ganz sicher. Er nimmt das Ei aus dem Rucksack und drückt auf eine der Erhebungen. Ein Licht erscheint und eine Melodie spielt. Beweise. Solche Dinge kann nur ein Bote des Teufels besitzen. Brennen soll er dafür, am Scheiterhaufen brennen!

1492. Mehrmals schon hat Kolumbus bei der Königin vorgesprochen. Einen Seeweg nach Indien will er finden. Die dortigen Reichtümer könnten das von den Eroberungen ausgeblutete Königreich sanieren. Doch Königin Isabella denkt nur an die Seelen. Wie viele Heiden könnte sie retten, wenn das Christentum nach Indien gebracht würde! Andererseits: Die Forderungen des Genuesen sind ziemlich unverschämt. Und seine Berechnungen haben ihre Experten längst widerlegt. Alles zu teuer, zu unsicher. Er wird nicht reisen, beschließt sie. Und auf einmal fällt es dem Jungen wie Schuppen vor den Augen: Wenn Kolumbus nicht reist, wird Amerika nicht entdeckt...

Boston. So heißt die Stadt, die die Vorfahren seines amerikanischen Vaters, die dort einst mit der Mayflower gelandet sind, begründet haben. Christliche Puritaner. Boston, so hat ihn seine Mutter als Erinnerung an seinen ihm unbekannten Erzeuger getauft. Auf einer Sprachreise nach Granada entfernt sich Boston kurz von seinen Kameraden, auf der Suche nach einem Souvenir. Diese Kachel-Untersetzer könnten seiner Mutter gefallen, einen nach dem anderen dreht er hin und her. Dazwischen diese hübsche alte Fliese, schade, dass ein Stück davon abgebrochen ist...

Boston, der so heißt, wie die Stadt, die noch nicht gegründet ist, auf dem noch unentdeckten Kontinenten, was aber niemand weiß, muss fliehen! Als habsburgischer Prinz, als Maurenjunge, als Jude und als christlicher Mönch schlägt er sich durch, findet unerwartet Hilfe, sogar zwei Freunde, nur eines will ihm keiner so recht glauben - woher er wirklich kommt. Verzweifelt versucht Boston, das Geheimnis der Fliese zu ergründen. Trotz aller Gefahr muss er dafür zurück auf die Alhambra...  Aber was nützt sie ihm jetzt noch, wo er doch eben hörte, dass Kolumbus gar nicht reisen wird?

„Alhambra“, ein fesselnder Abenteuerroman, ist ganz nebenbei auch Geschichtslektion: Denn der historische Hintergrund  von 1492 - die Eroberung der andalusischen Festung, die Vertreibung der Juden und Mauren aus Al Andalus, die fanatische christliche Inquisition, die auf ganz Spanien übergreift und die ursprüngliche Ablehnung von Kolumbus‘ Expedition durch Königin Isabella – alles authentisch, wie auch die darin vorkommenden historischen Figuren! Mit der Handlung vermittelt Autorin Kirsten Boie zudem ein tiefes Verständnis für historische Zusammenhänge und die Konsequenzen von religiösem Eifer, vor allem für die aus Spanien vertriebenen jüdischen Sepharden, deren Nachwirkungen in Europa noch Jahrhunderte später spürbar sein sollen. Ein wahrhaft erleuchtendes Leseerlebnis, das nicht nur den Wunsch auslöst, die sagenhafte maurische Festung mit ihren Wasserspielen und Prachtgärten einmal mit eigenen Augen zu sehen – sondern auch den Zeitgeist zu verstehen.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.