Mit 84 noch immer auf der Bühne

Julius Vollmer feiert zwei Jubiläen: 100 Jahre Freiburger Stadttheater und 25 Jahre Zugehörigkeit zum Ensemble

Julius Vollmer (links) als Apotheker in Victor Eftimius Stück „Der Vagabund“ mit Ottmar Strasser, Irmgard Chati und Tatjana Fulda (rechts)
Foto: BP-Archiv

Das Freiburger Stadttheater ist 100 Jahre alt geworden. 25 Jahre dieser Erfolgsgeschichte hat ein bekannter Temeswarer Schauspieler mitgestaltet: Julius Vollmer, der am 15. Februar 2012 sein 85. Lebensjahr im Breisgau vollenden wird. Anlässlich des Jubiläums hat Sabine Frigge im Rombach-Verlag den Band „Komischerweise spielen im Woyzeck immer Erbsen mit. Theatergeschichten und Theatergeschichte“ veröffentlicht. Die Herausgeberin hat Mitarbeiter ihre Geschichte und ihre Geschichten erzählen lassen. Zu Wort kommen Leute vom Opernsänger, über den Schauspieler und Intendanten bis hin zur Reinigungskraft. Der Leser erfährt, woher die Theaterleute kommen, was sie bewogen hat, den jeweiligen Beruf zu ergreifen, und was sich vor und hinter der Bühne abspielt. Einer der mehrere Dutzend Beiträge stammt aus der Feder von Julius Vollmer. Er steht an der Spitze aller Berichte.

Julius Vollmer, mit bürgerlichem Namen Julius-Andreas Szabó von Szathmáry, hat seine im Banat begonnene Schauspielerkarriere nach der Umsiedlung 1983 nach Deutschland fortgesetzt. Zuerst in Basel und ab Mai 1987 am Stadttheater in Freiburg im Breisgau. Das Freiburger Theater wurde seine neue Familie und Heimat. Vollmer, der nach einer Augenoperation am 18. Mai 2011 erblindet ist, hat einen noch 2011 gültigen Vertrag in Freiburg. Seinen vorerst letzten Auftritt hatte der gebürtige Temeswarer am 10. Juli 2011.  In seiner langen Karriere hat Vollmer etwa 200 Rollen interpretiert, davon die Hälfte in seiner alten Heimat.

Auf Anraten eines bekannten Opernsolisten nimmt Vollmer Anfang der 1940er-Jahre Gesangunterricht und beginnt Medizin zu studieren. Nach drei Jahren muss er nach Enteignung des Familienbetriebs das Studium aufgeben. Er wird Biologiestudent. Als er es wagt, gegen die Deportation der Deutschen zu protestieren, wird er exmatrikuliert. Damit beginnt eine lange Folge von Repressalien. Mehrere Male bewahren ihn „Schutzengel“ vor dem Gefängnis, er entgeht nur um Haaresbreite einem Mordanschlag. 1953 gehört er zu den Gründungsmitgliedern des Deutschen Staatstheaters Temeswar. Zunächst will Vollmer Opernsänger werden, doch schon bald übernimmt er Schauspielpartien. Parallel zu den Auftritten holt er ein Musikstudium nach und nimmt Schauspielunterricht.

Nach der Abschlussprüfung droht ihm der Kulturverantwortliche der Partei, er werde niemals wieder in der Kunst engagiert werden. Auf die Frage, was er tun soll, meint der Parteimann: „Arbeiten Sie als Kutscher oder Hilfsarbeiter“. Doch trotz der Drohung darf er zunächst weiter schauspielern. Aber nach sechs Jahren wird er doch noch entlassen. Die Oper ist ihm verboten, doch es bleiben ihm die Kirchen. Er tritt als Sänger in Liturgie und Konzerten auf. Er überlebt nur, weil der Direktor des rumänischen Nationaltheaters oder der Direktor der Staatsphilharmonie Temeswar ihre schützenden Hände über ihn halten. Der Direktor der Staatsphilharmonie engagiert ihn gegen den Widerstand der Partei und des Geheimdienstes Securitate für den Philharmoniechor.

1962 darf er ins Ensemble des Deutschen Staatstheaters zurückkehren, 1978 übernimmt er seine 100. Rolle. Zwei Jahre später stirbt seine Schwester, die am Theater unter dem Namen Alice Szabó Karriere gemacht hat. Weil Vollmer an ihrem Totenbett weilt, verpasst er einen Auftritt im Theater, woraufhin ihn der Theaterdirektor, ein Spitzel, bestraft. Damit ist für den Schauspieler das Maß voll. Zusammen mit seiner Mutter stellt er einen Ausreiseantrag, der zur Folge hat, dass er das Theater sofort verlassen muss. Nach zwei Jahren darf er ausreisen. In dieser Zeit hält er sich als Begräbniskantor über Wasser.

In Freiburg findet er „eine neue Heimat in unserer gemeinsamen Sprache und in unserer gemeinsamen Kultur“, schreibt Vollmer. Für ihn ist das Freiburger Theater ein neues Zuhause. Das Theater bedeutet für ihn alles. „Ich, der Paradiesvogel aus dem Südosten, mit einem Vater aus altem ungarischem Adel aus Siebenbürgen, einer Mutter aus dem Banat, einer Großmutter aus dem Schwarzwald und einem Großvater aus dem Elsass, bin angekommen“, so Vollmers Fazit.

Vollmer sagt von sich, er sei einer, „der die Werte etlicher Kulturen in sich trägt. In mir ist unser europäisches, unser jüdisches, unser deutsches Drama verwurzelt. Täglich muss ich es verantworten, Mensch zu sein. Man muss das Ich des anderen achten, denn jeder hat seine Geschichte. Ich habe doch kein Recht zu verurteilen, ich muss erst kennenlernen. Ich bin ein leidenschaftlicher Deutsch-Ungar und ein leidenschaftlicher Europäer. Jeden Tag ist die Liebe mein Thema. Je schlechter andere sind, desto anständiger muss ich sein. Das war immer meine feste Überzeugung“.

Freiburg hat es gut mit ihm gemeint, die Regisseure haben „mir eine ganze Reihe wirklich fantastischer Rollen übertragen. Unter Jarg Pataki wirkt Vollmer mit in dem Stück „Der Process“, ein Schauspiel nach Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Das Stück endet mit Vollmers Worten „sie kamen rasch aus der Stadt hinaus...“ Vor diesem Monolog hat der Schauspieler stets innerlich gebetet und seiner verstorbenen Schwester gedacht. Seine Gedanken waren aber auch bei vielen toten Kollegen, besonders bei seinem von den Verbrechern der rumänischen Staatsmacht ermordeten besten Freund, dem großen Künstler des Ungarischen Staatstheaters, Ferenc Fabian. Beim Sprechen dieses Monologs habe er stets gefühlt, dass seine Heimat auf der Bühne ist.